Die besten Gespräche des Jahres

Im vergangenen Jahr konnte das Team des getAbstract Journals wieder mit über 70 Autorinnen und Autoren über ihre Bücher – und die wichtigsten businessrelevanten Themen 2022 – sprechen. Entsprechend dicht gedrängt ist die Gesamtübersicht in den Sprachen Deutsch und Englisch. Hier gibt unser deutschsprachiges Team, thematisch eingeordnet, Auskunft über die eindrücklichsten Interviews.
1. Silicon-Valley-Fehlerkultur und KI
Seit mehreren Jahrzehnten beginnen dürftig recherchierte Artikel zum Thema Fehlerkultur mit der Erwähnung der angeblich aus dem Silicon Valley stammenden Redewendung „Fail better“. Mal wird sie Steve Jobs zugeschrieben, mal lässt sich Richard Branson damit zitieren – und immer geht es in diesen Artikeln darum, wie generös Techfirmen, KI-Start-ups oder ach so disruptive Pizzalieferdienste angeblich mit Entscheidungen ihrer Angestellten umgehen, die sich dann als mindestens fehlerhaft, manchmal als katastrophal erwiesen haben. Um es an dieser Stelle einmal laut zu sagen:
- Das berühmte Zitat „Fail better“ stammt aus einer Kurzgeschichte des Schriftstellers Samuel Beckett, ist fast 40 Jahre alt und damit ein dezenter Hinweis darauf, dass es sich sogar in der IT-Branche lohnen kann, Literaturklassiker zu lesen (wir haben auf unserer englischen Seite deshalb eine ganze Rubrik dazu).
- Von „Fehlerkultur“ reden (und schreiben) kann jeder. Leider funktionieren aber selbst die allermeisten angeblich fortschrittlichen Firmen in Sachen Fehlerkultur immer noch wie zu Becketts Zeiten: Sie bestrafen Fehler, versuchen sie wo immer möglich zu vermeiden, und wenn ihnen doch mal einer unterläuft, lernen sie nicht daraus (meist gehen sie vorher pleite). Nur so ist auch zu erklären, warum das Thema seit fast 20 Jahren die HR- und Management-Ratgeber-Websites dieser Welt dominiert, aber die Nachfrage nach weiteren Artikeln zum Thema ungebrochen ist.
Angetreten, um das zu ändern, ist kein geringerer als getAbstract Book Award Gewinner Eckhard Jann. Auch er streitet in Fehler eins mit Worten, wenngleich mit eher leisen, aber seinen Worten lässt der Berater, der viele mittelgroße und große deutsche Firmen berät, auch Taten folgen: Als ich ihn auf praktische Beispiele für den Umgang mit Fehlern anspreche, kommt er aus dem Nacherzählen von realen Fehlerketten in den beratenen Unternehmen kaum noch heraus.
Am Ende muss ich beinahe ein Drittel des spannenden Gesprächs wegkürzen, weil der Mann – für Interviewzwecke – schlicht zu viel Erfahrung hat. Das kommt nicht alle Tage vor, und ein größeres Kompliment kann man einem Businessbuchautor wohl kaum machen.
Michael Wiederstein
Noch nie ist mir obendrein jemand für ein Interview begegnet, der mit der unerschütterlichen Erdung eines Mitglieds der örtlichen Feuerwehr und gleichzeitig mit dem Unternehmerwissen von einem guten Dutzend Silicon-Valley-Löwen auftritt. Das waren grandiose 50 Minuten!

Von realweltlichen Fehlerketten zur digitalen Zukunft: Gibt es ein zweites Leben im Metaverse? Aktuell sieht es so aus, als wenn das tatsächlich bald möglich wäre – und meine Kollegin Wilma Fasola wollte mehr darüber wissen. In ihrem Gespräch mit Matthias Pfeffer ging es zwar am Schluss nur am Rande darum, aber es ging um künstliche Intelligenz, „und die wird“, wie sie ausführt, „einen großen Anteil an diesem ‚neuen Leben‘, vor allem an unserem ‚echten Leben‘, haben“.
Pfeffers Zukunftsprognosen haben mich aufhorchen lassen. Wie sehr dürfen wir Menschen uns durch Algorithmen fremdbestimmen lassen? Wie vorhersagbar wird die Zukunft? Und schaffen wir es, dass KI ein Instrument bleibt – oder werden wir Menschen bald von ihr instrumentalisiert?
Wilma Fasola
Pfeffers Aussagen dazu regen zum Nachdenken an. Aber auch zum Handeln.

Menschliches Denken und künstliche Intelligenz
Verlag J.H.W. Dietz2. Besser (nicht zu enthusiastisch) arbeiten
Der Titel des Buches von Cordula Nussbaum klingt wie das Motto vieler für die anstehenden Feiertage: Lass mal andere arbeiten! Und Weihnachten ist hier ein wunderbares Spiegelbild der Arbeitswelt: Kaum je wird mehr von Ruhe und Besinnlichkeit geredet, während nebenan schon der Baum brennt, die Wienerli auf dem Herd im zu heißen Wasser aufplatzen und die Kinder ihre neuen Spielsachen strategisch sinnvoll auf der Wendeltreppe zwischenparken. Alles muss perfekt sein, obwohl nichts funktioniert. Es ist, wie Cordula Nussbaum im Interview sagt:
Viele Menschen behaupten, sie könnten delegieren – schaffen es aber tatsächlich (nicht nur an Heiligabend) nicht. So stauen sich die Aufgaben, bis das Chaos ausbricht.
Wer das verhindern will, sollte ihr Buch und das Interview lesen. Verraten kann ich an dieser Stelle, dass Frau Nussbaum hervorragend darin sein muss, zu delegieren: Der Interviewtermin mit ihr stand schneller als jeder Weihnachtsbaum, und auch die allermeisten Festtagskarten haben eine intensivere Redaktion nötig als ihre Einlassungen. Überzeugen Sie sich selbst:

Gute Zusammenarbeitsbedingungen zu schaffen, ist das eine. Sich dabei aber als Mitarbeiter völlig auszuliefern, etwas ganz anderes. Das weiß unsere freie Mitarbeiterin Gundula Stoll aus eigener Erfahrung und sagt zu ihrem eindrücklichsten Interview des Jahres: „Sarah Jaffe ist, wie ich, Teil des Selbstständigen-Prekariats und spricht mir aus der Seele, wenn sie die oft geforderte emotionale Hingabe an unsere Jobs als Mogelpackung entlarvt. Bei der Kontaktaufnahme stellte sich heraus, dass sie gerade mit ihrem aktuellen Buch durch Italien tourte, und deshalb fuhr ich Ende Mai aus unserer umbrischen Wahlheimat nach Rom, um mein erstes persönliches Interview nach den Covid-Lockdowns zu führen. Maximal 30 Minuten waren dafür eingeplant.“ Jaffe gab sich dabei jedoch kurz angebunden und zweckbetont. Für Gundula eine Enttäuschung:
Ich hatte einen langen Weg auf mich genommen, eine Seelenverwandte erwartet und eine knallharte Aktivistin und Geschäftsfrau getroffen.
Gundula Stoll
„Bevor ich den Zug zurück nach Hause nahm, setzte ich mich auf eine Bank nahe der römischen Piazza del Popolo und rekapitulierte unser Gespräch. Vor allem ein Satz klang dabei laut nach: ‚Work will never love us back. Other people will.‘ Ja, Sarah Jaffe meint es zweifellos ernst damit – und ich sollte mir davon eine Scheibe abschneiden.“

3. Generationenfragen
Das einzige Interview, bei dem der Interviewpartner sich in diesem Jahr verspätete, war das mit Umweltjournalist Florian Schwinn. Redakteurin Belén Haefely berichtet von wunderlichen Minuten allein vor laufender Meetingkamera: „Kontaktversuche auf allen Kanälen blieben erfolglos. Als ich etwa eine Stunde später immer noch nichts gehört hatte, war ich dabei, eine letzte angesäuerte E-Mail zu versenden – was konnte so wichtig sein? –, als er mir schrieb:
Wir stecken in einem Orkan und hatten einen Stromausfall. Ich kann zwar das Haus autark mit Strom versorgen, aber wenn das Telefonnetz weg ist und das Handynetz auch, dann ist’s vorbei.
Florian Schwinn
Am Ende hat es doch geklappt mit dem Interview: „Sowohl Schwinn als auch sein Haus haben es gut überstanden, habe ich gehört“, sagt Belén. Um den Boden, auf dem es steht, so die Quintessenz des hoch spannenden Gesprächs, muss man sich also erheblich mehr Sorgen machen:

Auf den Boden der Tatsachen holte der Psychologe und Generationenforscher Rüdiger Maas in diesem Jahr die HR-Abteilungen der Republik zurück, weil es sich mit den Chancen, Ansprüchen und Problemen der Generation X in Organisationen und Unternehmen beschäftigt. Er kritisiert darin auch verunsicherte Eltern, die ihre Kinder wie Groupies umschwärmen und sie so zu einer „Generation lebensunfähig“ erziehen. Gundula Stoll nahm das verwundert zur Kenntnis: „Ich erkenne mich als Mutter zweier Teenagerinnen so gar nicht in dieser Karikatur wieder (wer tut das schon?), und genau deshalb hat mich das Gespräch mit ihm fasziniert. Nicht weil ich seine Ansichten teile, sondern weil ich mich an ihnen reibe – und durch die Auseinandersetzung genau die Debattenkultur pflege, die er am Ende des Interviews einfordert.“ Wenn Sie mit den Kolleginnen und Kollegen ebenfalls lieber debattieren als streiten (oder prozessieren) wollen, lesen Sie hier weiter:

Generation Z für Personaler und Führungskräfte
Carl Hanser Verlag4. Persönlichkeitsentwicklung und erfülltes Leben
Was ein erfülltes Leben ist, darüber mögen die Generationen Z, Y und ihre Boomer-Eltern lebhaft streiten, dass es aber untrennbar mit der eigenen Persönlichkeit zu tun hat, dürfte gleichwohl Common Sense sein. Darum drehte sich Wilma Fasolas ehrliches, herzliches, aber auch sehr auf den Punkt gebrachtes Gespräch mit der Headhunterin Stephanie Schorp. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihr der Satz:
Um unsere Persönlichkeit kümmern wir uns oft erst, wenn wir in eine Krise geraten oder anderes Unangenehmes erleben.
Stephanie Schorp
Wilma meint dazu: „Ich finde, besser kann man es nicht ausdrücken. In unserem Gespräch ging es außerdem darum, dass Menschen heute im beruflichen Leben eher nach dem Prinzip ‚Weg von‘ entscheiden und nur noch selten strukturiert herausfinden, wohin eigentlich ihre berufliche Reise gehen soll. Dass das nicht gesund ist, liegt auf der Hand – und sollte uns allen zu denken geben.“

Den prominentesten Autor hat dieses Jahr Belén Haefely getroffen, und den wahrscheinlich freundlichsten obendrein. Trotzdem stand sie vor ungewöhnlichen Problemen: „Eigentlich hätte ich es besser wissen und von einem Kommunikationsexperten nichts anderes erwarten sollen, trotzdem hatte ich beim Termin mit Friedemann Schulz von Thun große Mühe: nicht nur dabei, Fragen zu finden, die nicht sowieso schon besser in seinen Büchern beantwortet wurden, sondern auch, Antworten zu bekommen, die länger als zwei Sätze waren.“ Nach und nach kam das Gespräch dann allerdings in Fahrt und am Ende, beim Transkribieren, stellte sich die ganze Sache als durchaus ökonomisch heraus: „Ich konnte noch nicht mal wütend darüber sein: Alles, was es zu sagen gab, hatte Schulz von Thun perfekt zusammengefasst. Vielleicht kommuniziere ich einfach ineffizient?“

Wer noch nicht genug hat von Journal-Interviews, findet hier das englischsprachige Pendant zu diesem Artikel. Und hier natürlich alle Gespräche, die wir je für getAbstract geführt haben.