Ein schlechtes Gewissen gehört zum guten Job
Es ist schon viele Jahre her, ganz zu Anfang meiner journalistischen Laufbahn. Da bekam ich von meinem damaligen Chef einen von mir geschriebenen Text zurück. Dieser war bis zur Unkenntlichkeit umgeschrieben, das Word-Fenster des Korrekturmodus fast vollständig rot, und eine Passage war gar durchgestrichen und mit dem Kommentar „S-C-H…“ versehen.
Während ich im ersten Augenblick überlegte, ob der Journalistenjob vielleicht doch nichts für mich ist, wurde ich im Laufe des Tages – während ich am neuen Text schrieb – sauer. Richtig sauer. Ja, diesen Text hatte ich geschrieben, ja, ich hatte mich schwer damit getan, doch ich hatte es zumindest versucht. Auch wenn es um ein Thema ging, das überhaupt nichts mit meinen Interessen oder meinen Fachgebieten zu tun hatte …
Die Reaktion meines Chefs verunsicherte mich zutiefst, aber mit jeder Minute, die ich nun vor dem roten Konvolut verbrachte, es zu verbessern versuchte, wurde ich ruhiger.
Ich verstand bald, warum er diesen und jenen Satz umgebaut, warum er eine ganze Passage gestrichen hatte. Zwar schüttelte ich hier und da den Kopf – erst über ihn, dann aber immer öfter über mich –, kapierte aber irgendwann, dass er beim Redigieren noch frustrierter dreingeschaut haben musste als ich beim Entgegennehmen seiner neuen Version. Als ich ihm das runderneuerte Stück am nächsten Tag schickte, war ich sicher, dass es viel, viel besser geworden war – aber würde es diesmal auch für ihn reichen?
Ein Dilemma der Wissensarbeiter
Heute, rund 20 Jahre später, lerne ich immer noch dazu. Von jedem Kollegen, von jedem Vorgesetzten und Kunden, von jedem Interviewpartner und selbst von meinem Sohn (gestern hat er Mama das Schlittschuhlaufen beigebracht und ich kann nun zumindest an diese Pinguine geklammert über das Eis schlittern). Jeder von diesen Menschen kann nämlich etwas, das ich nicht kann. Zwar passt mir das als Perfektionistin nicht wirklich in den Kram, aber ich kann es auch nicht aus der Welt diskutieren oder so tun, als existierten die anderen und ihre Fähigkeiten einfach nicht.
Wenn Sie, wie ich, einen Wissensjob machen, werden Sie immer wieder an einen Punkt kommen – bestenfalls sogar mehrmals täglich –, an dem Sie unsicher oder eben nicht-wissend sind. Die schlechte Nachricht: Das gehört zum Job. Die gute: Sie können Ihr schlechtes Gewissen an dieser Stelle nutzen, um besser zu werden!
Denn Unsicherheit weist an exakt jenem Punkt darauf hin, dass Sie Ihre Expertise mit der anderer abgleichen sollten, um eine Lücke zu schließen. Tun Sie genau das, beruhigt sich nicht nur Ihr Gewissen: Die mit neuen Erkenntnissen geleistete Arbeit – Ihre darauf aufbauende Mitteilung an ein Publikum – löst das potenziell auch bei anderen an dieser Stelle auftretende Problem gleich mit, egal ob es sich dabei um Ihre Kollegen handelt oder über einen breiteren Kreis an Mitdenkern.
Wie ich meine Angst vor Zurückweisung überwand und unbesiegbar wurde
dtvWer aber stattdessen nur den ganzen Tag darüber grübelt, wie offenbar gewordene Defizite vor den anderen geheim gehalten werden können – weil man womöglich sonst über Sie reden oder Sie gar rauswerfen würde –, macht die eigene Unsicherheit und das schlechte Gewissen nur immer größer.
Am Schluss leidet darunter nicht nur Ihr Selbstwertgefühl, sondern die gesamte Zusammenarbeit in vielen Teams. Sie funktioniert oft deshalb nicht, weil zu viele Menschen mit einem schlechten Gewissen aufeinanderhocken. „Wenn der Meier merkt …“, „Wenn die Schneider sieht …“. Und wenn diese Gedanken mit der ihr eigenen Abschieberitis von Verantwortungen erst einmal den Tag bestimmen, leiden zuerst Effektivität und Kreativität – und am Ende bleibt die Innovation gänzlich auf der Strecke.
Abgrenzung zum Impostor-Syndrom
Aktuell wird viel über das Impostor-Syndrom gesprochen. Das Hochstapler-Syndrom – so die deutsche Übersetzung – plagt Menschen, die große Selbstzweifel in Bezug auf eigene Fähigkeiten und Erfolge hegen. Sie glauben, dass sie Lob und Zusprache nicht verdienen, weil sie doch eigentlich gar nichts Relevantes leisten.
In die genannte problematische Lage können Menschen allerdings vor allem dann kommen, wenn sie kein Feedback erhalten, wenn sie sich nicht über Unsicherheiten austauschen, wenn sie in eine negative Spirale geraten, einen durch und durch ungesunden Dialog mit sich selbst führen. Kurz: wenn man sich nicht über Unsicherheiten austauscht, das Beste aus ihnen macht, im Vertrauen darauf, dass andere zuhören und gern weiterhelfen. Wo keine gesunde Fehlerkultur herrscht und Kritik als etwas grundsätzlich Problematisches aufgefasst wird. Sie arbeiten in einer solchen Organisation? Dann legen Sie Ihrem Chef die folgenden Beiträge vor:
Eine andere Meinung ist lebenswichtig
Sie sind jetzt schon wieder etwas unsicher? Weil Sie den beiden Experten nicht gleich alles glauben wollen? Das verstehe ich. Selberdenken macht ja auch schlauer: Ist Ihnen aber vielleicht schon einmal aufgefallen, dass besonders viele erfolgreiche Unternehmen von mindestens zwei Personen gegründet wurden? Bei Amazon waren es Jeff Bezos und David E. Shaw, bei Apple waren es Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne und auch Facebook ist keine Zuckerberg-One-Man-Show gewesen. Wäre Stan Laurel ohne Oliver Hardy klargekommen? Bud Spencer ohne Terence Hill?
Die Antwort: Wahrscheinlich nicht. Weil jeder von ihnen, allein mit seiner vielleicht noch so guten Idee – oder Stimme – doch nicht weiterkam. Sie brauchte zur Vervollkommnung genau das, was die anderen hatten. Sicher können Sie beim Duschen auf geniale Gedanken kommen. Aber wenn Sie mal auf Ihr bisheriges Leben schauen: Waren nicht die besten Ideen immer die, die Sie gemeinsam mit anderen entwickelt haben? Die Ihnen nur kamen, weil jemand anderes das richtige Stichwort gab? Oder Ihnen einen Text zurück, der mit „S-C-H…“ kommentiert war, was dann einen radikal anderen Denkprozess in Gang setzte? Sehen Sie.
Wissen ist Ihr gutes Recht …
Woran also liegt es, dass wir uns auf der Arbeit trotz aller trendigen Rezepte von HR-Fehlerkulturoffensiven über Agilitäts- und Achtsamkeits-Workshops bis zu Brainstorming- und Kommunikationstrainings weiterhin hinter unserem schlechten Gewissen verstecken? Vielleicht waren all diese Initiativen zu wenig glaubwürdig? Vielleicht brachten sie nichts? Vielleicht hatten sie sogar den gegenteiligen Effekt?
Ich glaube, es liegt vor allem daran, dass uns noch nie in der Geschichte der Menschheit täglich so brutal vor Augen gehalten wurde, was wir alles nicht wissen. Irgendwo tickern immer neue Ereignisse und Entdeckungen über unsere Screens, und die sind ja trotz längst überbordender und nicht zu handhabender Informationsflut nur die Spitze des eigentlichen Eisbergs.
Unsere Wissensgesellschaften sind offenbar vor allem eines: Unwissensgesellschaften.
Gerade in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Technik oder Politik: Die Dinge ändern sich teilweise so schnell, dass man das Gefühl nicht los wird, wie der Esel hinter der Karotte herzurennen und sie trotzdem nicht zu fassen zu kriegen. Nicht einmal in jenem kleinen Teil der Entwicklung, der uns wichtig scheint, ja, unser Leib-und-Magen-Thema betrifft.
Die Kehrseite der Medaille – in diesem Fall die bessere: Noch nie war es möglich, so viel Wissen, zu großen Teilen sogar kostenlos, zur Hand zu haben und zu nutzen.
… Sie müssen es sich aber nehmen!
Tausende von Kursen werden online zu kleinem Geld oder sogar kostenlos zur Verfügung gestellt. Bücher sind jedem zugänglich und Dinge wie Wikipedia und andere Wissensdatenbanken erklären in der Regel schnell und gut, was einem nicht geläufig ist. Niemand muss sich schämen, ein Abstract zu lesen, weil einem ein Literaturklassiker nichts sagt oder man bei einem Autor, der sich als „Zoologe“ vorstellt, nicht gleich denkt, es mit einem brillant erzählenden Wissenshistoriker zu tun zu haben.
Im Gegenteil: Seien Sie neugierig! Stillen Sie Ihren Durst! Hören Sie auf Ihre Unsicherheit, auf Ihren Zweifel! Saugen Sie verfügbares Wissen auf! Schaffen Sie sich den nötigen Raum dazu! Genießen Sie die so entstehende, aber immer nur kurze Befriedigung! Und sehen Sie ab morgen Ihren Kollegen, der in einer Sache besser Bescheid weiß, nicht als Gefahr, sondern hören Sie ihm aufmerksam zu und lernen Sie!
Sie werden nie alles wissen. Schon 1 Prozent von dem zu wissen, was es an Wissen gibt, ist völlig unmöglich. Aber es ist nie zu spät, um zum „Besserwisser“ zu werden – im positiven Sinn.
„Ich weiß, dass ich (fast) nichts weiß“
Meine Mutter hat damals in ihrer Funktion als Chefsekretärin noch lange Zeit eine Schreibmaschine unter dem Tisch versteckt, weil sie sicher war, dass das mit dem Computer und ihr kein gutes Team werden würde. Doch heute ist sie es – mit ihren 70 Jahren –, die mehr Ahnung von PowerPoint-Präsentationen hat als ich. Und ja, ich bin dankbar, dass mein Mann IT-Administrator mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung ist und ich mich daheim nur wenig um Technik und Back-ups wie auch Softwareprobleme kümmern muss. Und ja, mein damaliger Chef hat dann das ganze Team zusammengetrommelt und allen gesagt, was für einen fantastischen Text ich schließlich abzuliefern imstande war. Dass der „S-C-H…“-Kommentar allerdings völlig over the top und unpassend war, weil kein Feedback, sondern eine Herablassung, muss er nun auf diesem Wege erfahren: Ich hoffe aber, du hast das in der Zwischenzeit bereits ohne mich gelernt, werter Heinz!
Wissen im Wandel
Wirtschaftsverlag Carl Ueberreuter GmbHIch bin jedenfalls froh, in der Nachbarschaft von Tausenden von Besserwissern unterwegs zu sein. All diese Menschen unterstützen mich nämlich dabei, irgendetwas beim nächsten Mal besser zu wissen, etwas besser zu sein.
Mit dieser Einsicht, die den Frust über ständige „Kritik“ wirklich irgendwann ablöst, wenn man es nur will, fällt es mir heute immer leichter, meine Unsicherheit durch neue Entdeckungen abzumildern. Und wie Sie hier lesen, bin ich auch gewillt, von diesem gewonnenen Wissen etwas abzugeben – und zwar ganz ohne schlechtes Gewissen.
Wil(l)ma Wissen
Die Kolumne unserer Autorin Wilma Fasola widmet sich der unkonventionellen Herangehensweise an Wirtschaftsfragen und manchmal auch der sehr direkten Konfrontation rund um Themen, die sich im täglichen (beruflichen) Miteinander ergeben. Dinge, die andere vielleicht weniger gern angesprochen wissen, die aber genau deshalb Interesse wecken. Schließlich lernen wir alle niemals aus.