Bildung Marke Eigenbau
Seit knapp vier Jahren ist unser uraltes Steinhaus in dem umbrischen Dorf, in dem wir wohnen, eine Langzeitbaustelle. Überschüssige Kleider, Decken, Bücher, Aktenordner und Krimskrams liegen während der Renovierungsarbeiten in verstaubten Pappkartons verstaut und werden zwischen Wohn- und Kellerräumen hin- und hergetragen, begleitet von einer Heerschar hartnäckiger Nager, die sich zwischenzeitlich bei uns eingenistet hatten.
Mein Mann macht alles selbst: Er ist Gartenbauer, Maurer, Steinmetz, Isolierverputzer, Elektriker, Installateur, Solar-, Luftaustausch- und Grauwassersystemtechniker, Tischler und Fliesenleger in Personalunion. Die Nachteile sind offensichtlich. In einem endlosen Provisorium zu leben, macht mürbe. Aber es hat auch Vorteile: Die Marke Eigenbau ist kostengünstig und macht erfinderisch. Das bewies unsere älteste Tochter, als mein Mann gerade das neue Badezimmer gefliest hatte und sich dem kleinen Flur davor zuwenden wollte. Sie schaute sich die Kiste mit den Bruch- und Reststücken an und rief: „Nicht wegwerfen – daraus kann man noch etwas machen.“
Drei Wochen lang rutschte sie danach auf Knien über die drei Quadratmeter Fläche, ent- und verwarf verschiedene Designs. Dann legte und verfugte sie ein wunderschönes Fliesenmosaik. Seitdem hat sie weitere Mosaik-Insets für andere Zimmer entworfen und umgesetzt, einen Schuhschrank mit Seeporzellan verziert (vom Meer abgeschliffene Porzellanscherben, die man an italienischen Stränden findet) und eine Garderobe aus recyceltem Zaunpfostenhartholz geschaffen, die sie mit bunten Knöpfen und Haken von ausgemusterten Möbeln aus den 1970er-Jahren bestückt hat.
An all das musste ich denken, als ich in Das schöpferische Gehirn folgenden Satz las: „Der Gedanke ist faszinierend, dass auf allen Ebenen der Gezeitenwechsel von Anarchie und Hegemonie, von lebendigem Chaos und Kristallisation nötig ist, um Neues und Großes entstehen zu lassen.“
Anarchie und Chaos – davon habe ich in den vergangenen Monaten wahrlich genug erlebt. Denn dieser Wissenscontainer begann Anfang 2020 mit einer Kapitulation: In der 9. Klasse des Gymnasiums entschloss sich unsere Tochter gegen den Rat des Schulleiters und zum Entsetzen meiner Familie und mancher Freunde, die Regelschule zu verlassen und ins Homeschooling zu wechseln. Sie, die Lernen immer geliebt und alle Lehrer mit ihrem Ehrgeiz und ihrer kreativen Energie begeistert hatte, litt unter schweren Burnoutsymptomen. Seitdem haben wir gemeinsam eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchlebt.
Die gute – und wichtigste – Nachricht ist: Es geht ihr viel, viel besser. Wie jede 15-Jährige hat sie bessere und schlechtere Tage, aber es ist kein Vergleich mit der verzweifelten Situation von vor einem Jahr. Und die schlechte:
Ich selbst kann mich nur schwer in die Lehrerrolle einfinden. Was tun, wenn die Schülerin zum zehnten Mal eine Deadline ignoriert, bis in die Puppen aufbleibt und dann morgens vor 10 Uhr nicht aus dem Bett kommt?
Mein Mann sagt, gute Pädagogen nähmen das Verhalten ihrer Schüler nicht persönlich. Das ist schön und gut, aber für mich keine Hilfe: Es fällt mir schwer, über den eigenen Mutterschatten zu springen und klaglos die Rollen zu wechseln.
Außerdem sind meine Bauchschmerzen mit dem Konzept Homeschooling nie ganz verschwunden. Der Lernforscher Gerhard Roth äußerte im Interview seine Zweifel an dieser Bildungsmethode: „Da fehlt einfach die soziale Komponente.“ Es heißt, dass es in der heutigen Berufswelt vor allem auf Teamfähigkeit ankommt. Wo soll aber meine Tochter, die Gruppenarbeit immer gehasst hat, diese Fähigkeit nun erlernen? Und wo die nötige Arbeitsdisziplin, da extrinsische Motivatoren wie Noten gänzlich wegfallen? Alle Versuche, feste Stundenpläne und Strukturen einzuführen, sind krachend gescheitert.
Unsere Tochter ist der Ansicht, dass die italienische Schule einem Bild vom „wahren Leben“ hinterherläuft, das so gar nicht mehr existiert. Die Autoren von Creative Company sind – übertragen auf die Unternehmenswelt – ähnlicher Meinung: Sie plädieren für mehr kreative Freiräume, Autonomie und Improvisation. Die Trennung zwischen Wirtschaft und Kunst sei erst mit der industriellen Arbeitsteilung aufgekommen – und die gelte es nun zu überwinden. Allerdings hat dieser Ansatz eine entscheidende Kehrseite: Die tollste Idee nützt nichts, wenn man sie nicht umsetzt, wie Martin Schuster in Picasso kann jeder?! treffend feststellt. Das ist das Dilemma unserer Tochter: Ihre Laptop-Festplatte und mehrere Schubladen sind randvoll mit genialen Projekten, die sie begonnen und nie vollendet hat. Ohne Arbeitsdisziplin verzettelt sich der kreativste Kopf.
So wie die Renovierung unseres Hauses ist auch das Projekt Homeschooling frustrierend und inspirierend zugleich. In beiden Fällen wünschte ich mir oft mehr Tempo, Disziplin und Geradlinigkeit. Doch dann schaue ich auf das von unserer Tochter aus Bruchstücken geschaffene Mosaik und denke: Gerade Linien sind zwar unkompliziert und zielführend. Doch sie sind erstens nicht immer nachhaltig umsetzbar und zweitens ziemlich langweilig.
So viel habe ich auf unseren beiden Baustellen gelernt: Auch kreative Brüche führen mit Geduld zum Ziel – das Ergebnis sieht nur oft ganz anders aus als ursprünglich geplant.