Meisterschaft statt Noten?

In den kommenden Wochen stehen wieder Zeugnisse ins Haus – für viele Familien ein Stresstest. Doch bei der Debatte um das Für und Wider von Noten bleibt die wichtigste Frage oft unbeantwortet.

Meisterschaft statt Noten?

Als unsere jüngere Tochter in der zweiten oder dritten Klasse war, kam sie eines Tages nach Hause und meinte: „Ich wünschte, es gäbe keine Noten.“ Ich war überrascht. Sie hatte nie Probleme in der Schule und litt nach meinem Eindruck nicht unter Notendruck. „Warum denn?“, fragte ich. „Damit sich manche Kinder nicht immer so schlecht fühlen“, antwortete sie. Inzwischen, als angehende Siebtklässlerin, ist sie längst abgeklärter. Ob sie immer noch gerne die Noten abschaffen würde, wollte ich an ihrem letzten Online-Schultag vor gut einer Woche wissen. Sie zuckte nur mit den Schultern: „Ohne Benotung würden sich viele wohl gar nicht anstrengen.“

Manche werden sagen, sie sei nun in der Realität angekommen; andere dagegenhalten, die Wirklichkeit habe sie eingeholt. Laut einer Umfrage befürworten jedenfalls drei von vier Deutschen die Notenvergabe in der Schule – und bestätigen damit, was der Hirn- und Lernforscher Gerhard Roth im getAbstract-Interview sagte: „Selbst wenn die Lehrer Noten abschaffen wollten, Eltern und Schüler wären dagegen. Sie brauchen eine Bewertung.“

Gegen die Bewertung durch Noten hat sich unsere ältere Tochter nie gesträubt. Dennoch ging ihr gegen den Strich, was im italienischen Schulsystemauf einer Skala von 0 bis 10 bewertet wurde: Bulimie-Lernen nach dem Prinzip „oben reinstopfen und abfragen, was unten rauskommt“. Auch deshalb hat sie uns gebeten, ein Halbjahr von zu Hause aus lernen zu dürfen – ein Experiment, dessen Ausgang nach wie vor offen ist.

Doch was bewerten standardisierte Notensysteme eigentlich? Cathy N. Davidson charakterisiert diese in ihrem Buch The New Education als Relikte aus der Zeit der Industrialisierung, in der alles quantifiziert werden musste. Tatsächlich gaukelten Noten eine objektiv korrekte Einschätzung aber nur vor. Die Autorin zitiert eine Studie, laut der Schüler nach einer schlechten Benotung deutlich weniger lernten, weil sie ihre Rolle als Versager verinnerlichten. Offenbar hat sich unsere Jüngste vor Jahren zu Recht Sorgen um traurige Klassenkameraden gemacht.

Der Gründer des kostenlosen Lernportals Khan Academy, Salman Khan, setzt dem Bulimie-Lernen seine Vision von Meisterschaft entgegen:

Die Erleuchtung dazu kam ihm Anfang der Nullerjahre, als er seinen Cousins videogestützten Mathe-Nachhilfeunterricht gab. Die Cousins arbeiteten lieber mit den Erklär-Videos, als ihn persönlich zu treffen. Warum? Weil sie ihren Lernrhythmus anhand der Videos selbst bestimmen und Wissenslücken schließen konnten, bevor sie im Stoff weiter voranschritten. Khan vergleicht die Methode mit dem fleißintensiven Erlernen eines Musikinstruments. Er ist überzeugt: Eigenbestimmtes Lernen kann aus selbsterklärten Matheidioten und abgestempelten Schulversagern die Forscher, Unternehmer und Künstler machen, die in der heutigen Wissensgesellschaft gebraucht werden.

Unsere ältere Tochter arbeitet zuhause viel mit Khan Academy. Wann immer sie eine Lektion meistert, erhält sie virtuelle Abzeichen und wird ermuntert, die nächste Stufe zu erklimmen. Noten gibt es nicht – und Sitzenbleiben schon gar nicht. Für manche in unserer Wahlheimat Italien ist das unvorstellbar. Hier wird derzeit weniger über die Qualität des Corona-bedingten Teleunterrichts als vielmehr über die geplante „promozione automatica“ debattiert: Egal wie viele „Ungenügend“ auf dem Abschlusszeugnis stehen, alle werden versetzt.

Einige Eltern und Pädagogen sorgen sich nun um die angeblich geprellten Fleißigen, für die sich „Leistung nicht mehr lohnt“. Andere fragen sich, wie die „glücklich“ verhinderten Sitzenbleiber ihre Rückstände je wieder aufholen können – als sei Bildung eine olympische Disziplin. Die meisten Schüler aber sind erleichtert. Sicher, der nächste Test kommt bestimmt. Aber erst im September. Und bis dahin sind die Sommerabende lang, und die Schulbücher weilig.


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Lesen Sie im Interview mit Wirtschaftsprofessor Wolfgang Jenewein, warum es jetzt erst recht auf intrinsische Motivation ankommt:


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