Agilität, ernst genommen
Wolken bilden sich und lösen sich auf, weil die Bedingungen in der Atmosphäre die Wassermoleküle dazu bringen, zu kondensieren oder zu verdampfen. – An diesem Wolkenbild können sich Unternehmen orientieren, die wirklich agiler werden wollen. Dabei zeigt die Erfahrung, dass sich nur wenig bewegt, wenn man das Thema an das „Mindset“ der Mitarbeitenden adressiert. Vielmehr muss die Frage beantwortet werden: Ist die Trennung in Funktionsbereiche mit Agilität vereinbar?
Skizzieren wir ein Unternehmen, in dem eine Geschäftsidee nicht mehr von einer Abteilung zur anderen weitergereicht wird. Die Wertschöpfungskette ist dann umgebaut: Sie ist eigentlich keine Kette mehr, sondern eine Spirale. Sie zirkelt kreisförmig um die Kundenpräferenz, zentriert sich immer enger darum, entwickelt sich zwar vorwärts, aber zieht viele korrigierende Schleifen ein.
Von der Kette zur Spirale
Mitarbeitende aus der Fertigung sind schon in der Entwicklung eingebunden, der Schweißer kooperiert eng mit dem Ingenieur. Der Unterschied zwischen einem Blaumann und einem Anzugträger erodiert. Produktdesign, Produktion, Service und Wartung organisieren sich ähnlich der Scrum in IT-Projekten. Je nach Projekt und Phase sitzt der ITler mit dem Vertriebler und dem Marketeer im selben Raum. Oder der Einkäufer mit dem Logistiker. Erst danach diskutiert man technische Fragen, die wiederum verschiedene Experten zusammenbringen.
Bei Medienunternehmen sitzen heute zum Beispiel Journalismus, Softwareentwicklung und Sales zusammen – Bereiche, die bislang eine Kultur wechselseitiger Abneigung pflegten. Im Verkauf braucht man dort eher ein Key-Account-System, das mit medienübergreifenden Teams aus Digital-, Broadcast- und Printspezialisten arbeitet.
Die Mitarbeitenden bilden gleichsam einen agilen Pool von freien Radikalen, die sich um ein Kundenproblem herum immer neu gruppieren. Und nach gelöstem Kundenproblem wieder auflösen – um sich sogleich neu zu formen.
Können Sie sich vorstellen, so zu arbeiten? Die Denk- und Handlungsrichtung ist in einem solchen Unternehmen deutlich weniger vertikal-hierarchisch, sondern horizontal-interdisziplinär.
Natürlich gibt es Spezialfragen sui generis, die im Fachbereich diskutiert werden müssen. Aber das sollte eher die Ausnahme sein. Und wirklich überragende Expertise kann man sich auch mal von außen holen. Wie die Digitalisierung es ohnehin fordert und ermöglicht, sich auf die Kernleistung zu konzentrieren; für alles andere hat man Spezialisten, die kommen und gehen.
Vertikalspannung in Unternehmen auflösen
Wenn Sie in diese Richtung gehen wollen: Sorgen Sie dafür, dass genügend viele Menschen gleichzeitig kooperieren, ihr Wissen vernetzen. Lösen Sie die Silos auf. Solange sie existieren, bleibt das Unternehmen unter Vertikalspannung. Gruppieren Sie die Menschen horizontal um Kundenprobleme, formen Sie interdisziplinäre Teams.
Überwinden Sie auch das Kanaldenken – ein Kunde denkt nicht in Kanälen, auf seiner Reise sind alle Kontaktpunkte wichtig. Deshalb sollten Sie auch die Offline- und die Online-Mitarbeitenden im selben Raum arbeiten lassen. Und all das gibt es dann im Unternehmen nicht mehr: den Kampf um Budgets und Ressourcen, individuelle Zielvorgaben, Stellenbeschreibungen, Organigramme. Wenn das Unternehmen vom Kunden gedacht wird, verschwinden diese Themen.
Was dann nur noch existiert: radikale Zusammenarbeit.
Brauchen Sie einen Tipp, um anzufangen? Es mag auf den ersten Blick eine Kleinigkeit sein, die Wirkung aber ist verblüffend: Wenn auf der Businesskarte Ihrer Mitarbeitenden keine Abteilungszugehörigkeit aufgeführt ist, ändert sich die Haltung. Der Blick geht ins Weite, die Mitarbeitenden fühlen sich plötzlich für das Ganze verantwortlich, sie definieren sich als Teil einer Handlungsspirale, an deren Ende der Kunde steht. Und das wollen Sie doch, oder?
Die dunkle Seite der Agilität
managerSeminare VerlagOder vielleicht doch nicht? Wenn Sie das nicht ernsthaft wollen, wenn Ihnen ein solcher Strukturwandel nicht mehr kontrollierbar erscheint, sollten Sie mindestens den Zynismuspegel nicht weiter erhöhen – und aufhören, vom „agilen Unternehmen“ zu reden.
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