Man muss auch gönnen können
Im Januar 2023 löst das neue Bürgergeld in Deutschland das Hartz-IV-System ab. Vorausgegangen sind heiße Debatten über Regelsätze, Schonvermögen und (fehlende) Sanktionen. Vor allem die CSU machte sich zum Anwalt der „Mitte der Gesellschaft“, kritisierte eine „Vollkaskomentalität“ und klagte, die geplante Reform sei „ein Schlag ins Gesicht aller Arbeitnehmer in Deutschland, die jeden Morgen früh aufstehen und unser Land am Laufen halten“.[1]
Wie kann es sein, dass eine angeblich „christliche“ Partei einem Menschenbild anhängt, das Arbeitslose als Arbeitsverweigerer und Bedürftige als Drückeberger wahrnimmt? Wer nach Antworten sucht, wird wie so oft beim Thema Stereotype und unbewusste Denkmuster („Unconscious Bias“) fündig.
Wärme und Kompetenz
Warum? Ein Forschungsteam um die an der Harvard Business School lehrende Sozialpsychologin Amy Cuddy hat festgestellt, dass zwei Aspekte – Wärme und Kompetenz – maßgeblich dafür sind, wie wir andere Menschen beurteilen.[2] „Wärme“ steht für Eigenschaften, die uns Auskunft darüber geben, welche Absichten jemand uns gegenüber verfolgt. Ob eine Person beispielsweise freundlich ist, hilfsbereit oder vertrauenswürdig. Mit „Kompetenz“ beurteilen wir, wie gut jemand in der Lage ist, Pläne in die Tat umzusetzen – dazu gehören Eigenschaften wie Intelligenz, Kreativität oder spezielle Fähigkeiten.
Zusammen ermöglichen es uns die beiden Aspekte, im Bruchteil einer Sekunde eine potenziell überlebenswichtige Frage zu klären: Ist die andere Person Freund oder Feind – und ist sie fähig, uns etwas zu tun? Ist das einmal geklärt, können wir die Beziehung weiter gestalten oder ganz vorsichtig sein, damit uns kein Unheil widerfährt.
Wie immer, wenn es um Stereotype und Vorurteile geht, beeinflusst unsere Einschätzung allerdings nicht nur unsere Beziehung zu einzelnen Personen, sie wirkt sich auf unsere Sicht von Gruppen von Menschen aus und wie wir sie behandeln.
Die verschiedenen Alternativen lassen sich dabei auf einer simplen 4-Box-Matrix darstellen:
Zu den Menschen, die wir für vertrauenswürdig und fähig halten, gehören tendenziell die Mitglieder der sogenannten Referenzgruppe. Diejenigen, die „immer schon“ hier waren, die den lokalen Normen entsprechen und definieren, was sich gehört. Also beispielsweise ein biertrinkender bayerischer Handwerker oder Ministerpräsident.
Als „nett“, aber nicht wirklich kompetent gelten zum Beispiel alte Menschen, die angeblich den Zenit ihres Schaffens überschritten haben, oder Menschen mit Behinderung, von denen es – je nach Behinderung – gerne heißt, sie seien besonders fröhlich, inspirierend oder zumindest menschlich gesehen ein Vorbild.
Quasi den Gegenpol – „fähig“, aber „nicht liebenswert“ – bilden diejenigen, die uns nicht besonders sympathisch sind, sich aber durch sichtbare Leistungen hervortun. Wäre nicht seit der Twitter-Übernahme auch seine Kompetenz mit einem großen Fragezeichen versehen, wäre Elon Musk – unabhängig von der Sicht eingeschworener Fans – ein möglicher Kandidat für diese Kategorie.
Bleibt noch der linke untere Quadrant. Und der bringt uns zurück zum Anfang meines Beitrags. In dieser Ecke sind Menschen platziert, denen viele nicht vertrauen und wenig zutrauen. Arbeitslose zum Beispiel, oder Sozialhilfeempfänger.
Das Problem: Unsere Haltung hat Konsequenzen und spiegelt sich in unserem Verhalten wider:
- Den vertrauenswürdigen „Leistungsträgern“ der Gesellschaft begegnen wir mit Bewunderung und unterstützen sie begeistert.
- Kalte Erfolgstypen beneiden wir zwar, aber wir missgönnen ihnen den Erfolg auch ein wenig und wollen ihnen lieber nicht in die Quere kommen.
- Menschen, die wir für nett, aber nicht besonders fähig halten, können selten auf unsere aktive Unterstützung vertrauen. Wir begegnen ihnen mit Mitleid, nehmen sie und ihre Bedürfnisse nicht für voll und richten durch unsere Passivität Schaden an – klassische Unterlassungssünden.
- Wem wir nicht nur Kompetenz, sondern auch Wärme absprechen, begegnen wir mit Verachtung. Wir gönnen diesen Menschen nichts, streiten um Leistungen und Bedingungen, und richten aktiven Schaden an, um zu verhindern, dass sie bekommen, was sie aus unserer Sicht nicht verdienen.
Was schauderhaft klingt und so gar nicht mitmenschlich ist, ist leider allzuoft die zwischenmenschliche Realität. Aber: Wer anderen fair begegnen will, muss zuerst solche Mechanismen verstehen und kann dann auch die eigene Haltung verändern.
Dazu reicht es nicht, Menschen mildtätig Unterstützung anzubieten oder am Ende des Jahres schnell noch etwas in den Klingelbeutel der Heilsarmee zu stecken. Zwar schadet das natürlich nicht, wer aber verstehen lernt, wie viel auch jene zu bieten haben, die auf den ersten, stereotyp ausgerichteten Blick vielleicht nicht den Anschein machen – auf beiden Achsen: Wärme und Kompetenz –, steigert die eigene emotionale Intelligenz und eröffnet anderen bessere Chancen. Was also tun?
- Informieren Sie sich! Hashtags wie #ichbinarmutsbetroffen geben Menschen eine Stimme, die nicht genug zum Leben haben. Sie geben Einblicke in ihr Leben und räumen mit vielen Vorurteilen auf.
- Suchen Sie Gelegenheiten, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, die nicht Teil Ihres täglichen Lebens sind. Kaufen Sie nicht nur die Obdachlosenzeitung, sondern kommen Sie mit dem Verkäufer auf Augenhöhe ins Gespräch.
- Stellen Sie sicher, dass in Ihrem Team, im Freundeskreis und in Ihrem Netzwerk Menschen mit anderen Erfahrungen vertreten sind. Suchen Sie den Kontakt, selbst wenn Sie sich (zunächst) dabei unwohl fühlen.
- Praktizieren und trainieren Sie „aktives Zuhören“. Bemühen Sie sich, die Welt der anderen zu verstehen und sich auf ihre Wirklichkeit einzulassen. Sonst hören wir nämlich immer nur, was wir hören wollen – oder erwarten und sehen automatisch unsere Einschätzung bestätigt, weil jede Aussage mit den eigenen Vorurteilen oder negativen Bewertungen verknüpft wird.
An dieser Stelle bleibt mir nun, Ihnen frohe und geruhsame – alles zu seiner Zeit – Festtage zu wünschen, und natürlich einen guten, fairen Start ins nächste Jahr!
Quellen und Links
[1] https://www.csu.de/leistung-muss-sich-lohnen/
[2] Amy Cuddy Peter Glick & Anna Beninger: The dynamics of warmth and competence judgments, and their outcomes in organizations.
Nächste Schritte:
Weitere praktische Tipps und Tricks bietet Fair führen. Das Buch wurde mit dem getAbstract International Book Award 2020 ausgezeichnet. Laut Jury liefert es „nicht weniger als das erforderliche Rüstzeug für zukunftsfähige Unternehmen – eloquent, sachkundig und inspirierend.“
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