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„Hierarchien sind rostige Anker.“

In einer idealen Welt treffen kompetente Menschen Entscheidungen – aber in der realen ordnet weiterhin der Vorstand die nächste Reorganisation an. Der New-Work-Experte Daniel Vonier findet das brandgefährlich und sagt, wie es besser geht.

„Hierarchien sind rostige Anker.“

Herr Vonier, der Titel Ihres neuen Buches lautet Unlearning Hierarchy. Was haben Sie gegen Hierarchien?

Daniel Vonier: Überhaupt nichts! Deshalb haben mein Co-Autor Lennart Keil und ich ja bewusst von „verlernen“ und nicht von „abschaffen“ gesprochen. Selbst wenn wir versuchen würden, Hierarchien komplett abzuschaffen, es würde uns nicht gelingen – schließlich sind sie etwas ganz Natürliches. Immer dann, wenn es keine formellen Hierarchien gibt, entstehen ja soziale Rangordnungen. Das kann man in der Tierwelt, aber auch unter uns Menschen beobachten. Der Begriff Hierarchie steht für mich vielmehr stellvertretend für rigide Organisationsstrukturen und ein tradiertes Führungsverständnis.

Image of: Unlearning Hierarchy
Zusammenfassung (Buch)

Unlearning Hierarchy

Warum Hierarchien sich so hartnäckig halten – und wie es dennoch gelingen kann, sie loszuwerden.

Lennart Keil und Daniel Vonier Vahlen Verlag
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Das bedeutet konkret?

Wir müssen uns fragen, welchen Wert starre Hierarchien heute noch haben. Natürlich wären die extremen Produktivitätszuwächse der vergangenen 200 Jahre ohne zentrale Steuerung, Standardisierung und Skalierung, die mit diesen Hierarchien zusammenhingen, gar nicht möglich gewesen. Aber – und um dieses „aber“ dreht sich das Buch – sind die dieser Erfolgsgeschichte zugrunde liegenden Glaubenssätze und Prinzipien noch zeitgemäß? Für mich sind sie eher rostige Anker, die uns davon abhalten, Unternehmen, Arbeitsweisen und Führung zukunftsfähig zu gestalten.

Sie nennen im Buch den Ameisenstaat als Beispiel echter Selbstorganisation: Werden zu viele Nahrungssammlerinnen auf einmal getötet, übernehmen die übrigen Ameisen deren Arbeit – und zwar ohne Befehl „von oben“. Gleichzeitig ist der Ameisenstaat aber doch ein Paradebeispiel für ein strenges Kastensystem. Wie passt das zusammen?

Das ist eine gute Frage, denn sie entlarvt im Grunde unser klassisches Bild von Hierarchien, die durch Personen geprägt werden. In selbstorganisierten, antifragilen Systemen wird dieses jedoch von einer Hierarchie der Rollen abgelöst.

Nehmen wir die Königin im Ameisenstaat: Die sitzt ja auch nicht am Dashboard, befiehlt top down Handlungen und hat ständig das letzte Wort. Vielmehr erfüllt sie aufgrund ihrer Rolle in dem Staat eine dedizierte Aufgabe.

Das ist auch in Unternehmen mit hoher Selbstorganisation so. Es braucht durchaus jemanden oder eine Gruppe von Menschen, die Entscheidungen treffen. Doch sie tun das nicht aufgrund ihrer hierarchischen Stellung, sondern weil sie kompetent sind und diese Kompetenz in ihrer Rolle ausleben. Das ist der feine, aber entscheidende Unterschied.  

Viele Organisationsentwickler sagen, das Problem seien gar nicht starre Organigramme, sondern schlechte Vorgesetzte. Wie aber wird man die los – oder macht sie zu besseren Managern?

Noch einmal, ich glaube der personifizierte Ansatz ist ein falscher. Wir sollten nicht im großen Stil Führungskräfte feuern oder verbiegen, sondern Führung neu denken und zukunftsfähig gestalten. Wir brauchen weniger Personen mit wohlklingenden Titeln und mehr Menschen, die wirklich Verantwortung übernehmen wollen. Wir haben uns im Laufe der Zeit allzu sehr auf die Führungskräfteentwicklung und Chefs als Multihelden konzentriert. Für viel wichtiger halte ich aber die Frage der Führungsentwicklung, sprich: Wie schaffe ich es, im Unternehmen Macht, Entscheidungsgewalt und Verantwortung besser zu verteilen.

Die bei vielen Beratern so beliebte Reorganisation von Unternehmen steht diesem Ziel eher im Weg, schreiben Sie. Warum?

Nach meiner Erfahrung verbrennen Reorganisationen nicht nur Geld, sondern leider auch Menschen.

Sie gelten immer noch als Allzweckwaffe, die angeblich alle organisatorischen Probleme auf einmal lösen kann. In Wahrheit sind sie ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Denn Reorganisationen liegt ein technokratisches und mechanistisches Bild von Unternehmen zugrunde – dass nämlich ein Organigramm die reale Organisationsstruktur sauber abbildet. Das tut es aber nicht. Hier gilt der alte Spruch: The map is not the territory.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Ich glaube, dass nur solche Organisationen morgen erfolgreich sein werden, die auf informellen Hierarchien und Netzwerken beruhen. Diese funktionieren nicht nur in kleinen oder mittleren Unternehmen, sondern auch in hochkomplexen, großen Organisationen. Beispiele sind Wikipedia oder Linux. Natürlich lässt sich das nicht nach dem Copy-and-paste-Prinzip auf jedes Unternehmen übertragen. Aber wir können viel von diesen Organisationen lernen.

Auch die Strategieentwicklung halten Sie für überbewertet.

Ja, das stimmt. Mal ganz ehrlich: Was nützen uns heute Fünf- oder Zehnjahrespläne, wenn wir nicht einmal die nächste Woche voraussagen können? Natürlich braucht es eine gewisse Orientierung. Aber ich habe Organisationen kennengelernt, die ihre Planung iterieren. Bei ihnen sperrt sich nicht der Vorstand mit seinen Beratern zwei Wochen in einen dunklen Raum ein und kommt mit einer 100-seitigen PowerPoint-Präsentation wieder heraus. Vielmehr revidieren sie ihre Strategie ständig, passen sie an geänderte Umstände an und laden offen zur Teilnahme ein. Sie fragen nicht nur Leute nach ihrer Meinung, die formal an der Spitze stehen, sondern auch und vor allem die, die nah am Kunden arbeiten und etwas von Technologie und Innovation verstehen.

Wer iterativ plant, muss ständig neu hinzulernen. Lernt ein selbstorganisiertes Unternehmen dann also grundsätzlich besser?

Ja. Es lernt besser – und schneller! Lernen wird in den meisten Unternehmen immer noch als individueller Prozess verstanden. Eine selbstorganisierte Organisation lernt jedoch zunehmend kollektiv. Nur so kann sie hochkomplexe und dynamische Umgebungen navigieren und dabei anpassungs-, lern- und handlungsfähig bleiben. Natürlich muss das behutsam begleitet werden. Ansonsten kommt schnell Frust auf.

Und dann?

Dann bleibt natürliches Lernen aus.

Manche Experten sehen Frust aber auch als unvermeidliche Folge der Selbstorganisation – schließlich fühlten sich die meisten Menschen mit klaren Strukturen, Aufgaben und Ansagen wohler. Was antworten Sie darauf?

Also zunächst einmal möchte ich mit einem Mythos aufräumen:

Selbstorganisation organisiert sich nicht von selbst. Sie ist keine Anarchie, sondern braucht einen stabilen Rahmen.

Während wir in hierarchischen Systemen aber meist von sehr vielen Regeln sprechen, gibt es in selbstorganisierten Systemen nur ein paar wenige, aber sehr klare Prinzipien, an denen sich die Menschen orientieren können.

Welche sind das?

Zuerst müssen die Menschen, die heute Macht, Entscheidungsgewalt und Verantwortung haben, davon etwas abgeben. Und dann muss es Menschen geben, die diese Verantwortung aus dem Team heraus aufnehmen. Das werden nicht alle in gleichem Maße tun. Aber wenn man einen Raum schafft, in dem Menschen lernen, experimentieren, auch Fehler machen dürfen, dann werden sie es dankbar tun. Ich habe selbst in meiner letzten Rolle ein selbstorganisiertes Team von 50 Leuten aufgebaut. Das hat anderthalb bis zwei Jahre gedauert, und ich bin dabei auch auf Widerstände gestoßen. Aber heute würden 90 bis 95 Prozent der Teammitglieder niemals zum alten hierarchischen System zurückkehren wollen – auch weil sie gemerkt haben, dass die Arbeit so viel mehr Freude bringt.

Über die Generation Z heißt es oft, dass sie sich weder Hierarchien unterordnen noch selbst Verantwortung übernehmen möchte. Sie sind selbst als Gastdozent an Universitäten tätig. Können Sie dieses Urteil bestätigen?

Ich bin immer sehr vorsichtig mit Generalisierung über Generationen hinweg. Dass die oft zitierte Generation Z keine Verantwortung übernehmen möchte, kann ich so nicht bestätigen. Es gibt sehr viele junge Leute, die bereit sind, an vorderster Front für ihre Überzeugungen zu kämpfen.

Was ich durchaus beobachte, ist, dass jüngere Menschen rigide Hierarchien, Machtworte und tradierte Führungsrollen weniger schätzen und stärker hinterfragen als unsere Generation und die Generationen davor.

Sie haben einfach keine Lust mehr auf eine 70-Stunden-Woche und ein Leben aus dem Koffer. Ich finde das gut so.

Wir brauchen tatsächlich mehr Führung und weniger Führer – ein schwieriges deutsches Wort, ich weiß. Meines Erachtens braucht es weniger autokratische, alte, machtbesessene Männer in Führungspositionen. Und ich bin überzeugt, dass die junge Generation helfen wird, Führung diverser zu gestalten.

Das Unternehmen GitHub hat seine Experimente mit „Teal“ und „Holocracy“ wieder eingestellt und ist zu einer traditionellen Unternehmenshierarchie zurückgekehrt. Manche erklären die Idee einer „bossless company“ bereits für gescheitert. Ihre Antwort darauf?

Ich denke, wir müssen aufpassen, dass wir nicht dem Tesla-Irrtum aufsitzen: Nur weil einer von fünfhunderttausend Wagen Feuer fing, war die Idee des Elektroautos nicht per se schlecht oder gescheitert.

Natürlich ist Selbstorganisation nicht trivial. In dem Team, das ich zwei Jahre lang begleitete, mussten alle 50 Mitglieder neu lernen, wie sie Projekte priorisieren, offene Stellen besetzen und Bonuszahlungen organisieren – alles Dinge, die zuvor klar auf verschiedenen Hierarchieebenen angesiedelt waren. Das funktioniert nur, wenn man experimentiert und immer wieder nachjustiert. Wichtig ist: Es geht gar nicht um ein radikales Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Also um die Frage, wie wir besser zusammenarbeiten und Führung anders gestalten.  

Inzwischen ist vielen Menschen angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit die Lust am Experimentieren vergangen. Wie können Unternehmen Mitarbeitende dennoch davon überzeugen, etwas Neues zu wagen?

Die Angst vor Veränderung ist verständlich, sie hilft uns aber nicht weiter. Die einfachste Lösung ist langfristig nicht unbedingt die beste. Schließlich weiß niemand, wer oder was demnächst als schwarzer Schwan um die Ecke kommt. Gerade weil die Welt so komplex geworden ist, müssen wir anpassungsfähiger werden. Nur so können wir als Individuen, Teams und Organisationen überleben. Wenn wir aktuell kein Mandat haben, etwas Neues zu wagen – wann dann?

Über den Autor
Daniel Vonier war über 15 Jahre international als Führungskraft unter anderem für Siemens, Deutsche Telekom und SAP tätig und arbeitet heute als HR-Berater, Organisationsentwickler und Impulsgeber zu Themen rund um Führung und die Zukunft der Arbeit. Außerdem ist er als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen aktiv. Im Frühjahr hat er sein zweites Buch mit dem Titel Unlearning Hierarchy veröffentlicht.

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1 Wir haben ein Buch mit 252 Seiten für diesen Artikel gelesen und zusammengefasst.
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