„Was Sie am Anfang sehen, ist in der Regel nur die Spitze Ihres Eisbergs.“
Herr Jann, wenn im Berufsalltag Fehler passieren, und sich dann im schlimmsten Fall in Ketten reihen, wie Sie das in Fehler Eins anschaulich zeigen, so stellen wir das meist erst fest, wenn das Ganze schon Effekte gezeitigt hat, oder einfacher: wenn das Kind längst im Brunnen ist. Warum lohnt es sich dennoch, Fehler systematischer zu untersuchen?
Eckhard Jann: Beim Identifizieren des initialen Fehlers schauen wir zunächst zurück. Es geht aber darum, den Blick nach vorne zu richten, in die Zukunft. Sie können unterschiedliche Vorfälle haben, die alle den gleichen Ursprung, den gleichen „Fehler Eins“ haben. Die Fehlerkette verzweigt sich aber in unterschiedliche Richtungen. Fehlerketten muss man sich dazu vorstellen wie komplexe Kunstwerke aus Dominosteinen: Am Anfang kippt einer um, und von dort nimmt dann das Unheil seinen Lauf – je nachdem, wie die anderen Steine stehen. Solche Ketten nehmen an wichtigen Punkten verschiedene Bahnen, auf denen sie am Schluss nur zu dem Vorfall führen können, den Sie identifiziert haben. Wenn Sie immer nur auf das Ende der Fehlerkette schauen, werden Sie zukünftige Vorfälle also nicht verhindern, denn Sie kümmern sich nur um Symptome, nicht um die Ursachen. Letztere finden Sie bei Fehler Eins.
Sie meinen: Je weiter man vom entdeckten Vorfall, der vielleicht nur ein kleines Symptom darstellt, zurückgeht, desto größere Probleme kann man so verhindern lernen?
Genau so ist es. Es gibt eine riesige Dunkelziffer von latenten Fehlern und Widersprüchlichkeiten in Organisationen. Was Sie am Anfang sehen, ist in der Regel nur die Spitze Ihres Eisbergs. Wer sich darum nicht kümmert und immer nur die Symptome zu beheben versucht, leistet der Entwicklung einer fatalen Fehlerkette, die nachher zur Katastrophe führen kann, unbewusst Vorschub.
Können Sie dazu ein Beispiel geben?
Ein gutes Beispiel, das ich dazu kenne, ist das der Medikamentenverwechslung im Krankenhaus. Es kommt immer wieder, und leider auch teilweise mit furchtbaren Folgen, dazu, dass Patienten im Spital falsche Medikamente erhalten. Und wenn die Stationsleitung dann gefragt wird: „Was habt ihr denn daraus gelernt?“, so kriegt man meist folgende Antwort: „Natürlich haben wir daraus die richtigen Schlüsse gezogen! Die Krankenschwester wurde abgemahnt und sie wurde angehalten, das nächste Mal besser hinzugucken.“ Und da muss ich trotz ernster Umstände immer etwas schmunzeln. Denn: Das würde ja implizieren, dass sie vorher nicht hingeguckt hat, dass sie die Augen verschlossen und gesagt hat: „Okay, wovon haben wir noch zu viel?“, dann nach irgendeiner Schachtel gegriffen hat, um dann irgendwas zu nehmen …
Aber das ist in der Regel nicht der Fall: Mutwillig passieren schließlich nur die allerwenigsten Fehler.
Deutlich häufiger sind in der Tat unabsichtliche Fehler oder Verkettungen verschiedener Fehlertypen. Um herauszufinden, wo das wirkliche Problem lag, muss man deshalb tiefer bohren und eine echte Fehlerkultur pflegen.
Take-aways:
- Die Dunkelziffer von Fehlern und Fehljustierungen, die in Unternehmen zu Vorfällen an vielen verschiedenen Orten führen können, ist hoch.
- Nur wer die zu einem Vorfall führenden Fehlerketten untersucht, kann diese initialen Fehljustierungen finden und beseitigen.
- Bei den Regeln zur Fehlervermeidung gilt: Weniger ist mehr. Und: Kultur schlägt Paragrafen.
Was verstehen Sie denn darunter genau? Viele Firmen geben ja vor, eine zu haben, oft ist es aber mit den typischen „Fail better“-Schaumschlägereien getan, die Vorgesetzte gern von sich geben, die Mitarbeitenden aber im Ernstfall doch im Regen stehen lassen.
Viel zu viele Unternehmenskulturen sind noch davon geprägt, Fehler zu bestrafen – und die Sache dann damit abzuhaken. Das sehen Sie jetzt gerade wieder bei dem furchtbaren Bahnunglück in Garmisch-Partenkirchen: Sobald man einen Schuldigen gefunden hat, werden weitere Ermittlungen eingestellt und die Vorgesetzten sagen: „Okay, der war’s. Menschliches Versagen – soll nie wieder vorkommen!“. Sie haben aber die wahren Probleme gar nicht erkannt, denn die liegen ja nur in den seltensten Fällen beim einzelnen, vorsätzlichen Verhalten. Natürlich können und sollen Ermittlungen zu dem gemachten Fehler – auf der justiziablen Ebene – durchgeführt werden. Und bei krassen Fehlleistungen kann auch eine Sanktion nicht ausbleiben. Mir geht es aber darum, einen zweiten Weg zu entwickeln, der dazu führt, dass die Umstände besser erkennbar und erst damit veränderbar werden.
Wie macht man das?
Zuerst:
‚Fehlerkultur‘ funktioniert nur, wenn Sie in der Organisation eine ansprechbare Vertrauensperson haben.
Eckhard Jann
Dieser „Beichtvater“ oder diese „Beichtmutter“ muss die betriebliche Schnittstelle besetzen, an der Fehlermeldungen eingereicht werden können, und dann die Möglichkeit haben, das Gespräch mit der meldenden Person zu suchen. Die Vertrauensperson garantiert für die Anonymität der Meldungen und setzt sich dann vertraulich mit dem Melder zusammen. Bleiben wir im Krankenhaus: Hier braucht es jemanden, der sich mit der zuständigen Krankenschwester in Verbindung setzt, um sie ganz konkret und offen zu fragen: „Okay, erklär mir mal: Was ist an dem Tag gewesen? Um welche Uhrzeit war es, an welchem Wochen- und Arbeitstag ist das passiert?“ Denn es kann sein, dass die Person einen schlechten Tag hatte, und das kommt bei uns allen mal vor. Aber: Viel öfter tun sich völlig ungeahnte Umstände auf, die zu einem Vorfall geführt haben.
Bleiben wir bei dem Beispiel: Was wären solche beispielhaften Umstände im Spital?
Etwa, dass festgestellt wird, dass die Krankenschwester sehr wohl die richtige Verpackung genommen hat und der Meinung war, das richtige Medikament zu verabreichen – aber in der richtigen Verpackung die falschen Medikamente drin waren. Das bringt uns schon einen Schritt weiter: Wir wissen jetzt, dass die Verkettung der Fehler tatsächlich vorher angefangen haben muss und mit dem „schlechten Tag“ nichts zu tun haben. Hat jemand die Medikamente vertauscht? Wurden sie vom Apotheker falsch geliefert? Oder ist es ein ganz großes Ding? Zum Beispiel, dass bei der Herstellung und Verpackung etwas falschgelaufen ist? Das ist alles schon vorgekommen. Man findet es aber nur raus, wenn man sich um die notwendige und rasche Aufklärung bemüht.
Im Ernstfall rettet das nicht ein Leben, sondern Hunderte.
Eckhard Jann
Sie sehen also, wie wichtig es ist, den Fehler Eins zu finden.
Durchaus. Das klingt aber, als sei diese Suche sehr ressourcenintensiv. Wer übernimmt in kleinen und mittleren Unternehmen zum Beispiel so eine Beichtvaterfunktion? Den Praktikanten wird man wohl nicht schicken können.
So schwierig ist es eigentlich nicht. Eine solche Beichtperson muss drei Anforderungen erfüllen: Erstens, sie darf keine Vorgesetztenfunktion haben. Denn Vorgesetzte fühlen sich ja immer irgendwie mitverantwortlich für Entscheidungen, die in ihrer Abteilung getroffen wurden. Die Person muss, zweitens, vertrauenswürdig sein, also den Ruf der Integrität genießen und mit heiklen Informationen umgehen können. Denn: In dem Moment, da sie als Beichtvater oder -mutter das entgegengebrachte Vertrauen missbraucht, etwa indem sie die meldende Person beim Vorgesetzten anschwärzt oder ihr nur schon der Name in seiner Gegenwart herausrutscht, kippt das ganze System. Passiert das einmal, werden Sie für die nächsten 10 bis 15 Jahre im selben Betrieb nie wieder die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen erhalten, sich zu öffnen und wahrheitsgemäß preiszugeben, was falschläuft. Und so kommen Sie nie zu Fehler Eins.
Und was ist die dritte wichtige Qualifikation der Beichtperson?
Drittens schadet es nicht, wenn man an dieser Stelle den richtigen Fähigkeitenmix aus Empathie, also einem guten Einfühlungsvermögen, und Analytik, einem ausgeprägten Sinn für logisches Denken, mitbringt (Lacht.).
Okay. Aber selbst, wenn die Person all diese Qualifikationen erfüllt: Wie soll sie denn neben ihrem normalen Pensum noch mit Dutzenden von Fehlermeldungen am Tag jonglieren?
Oh, schön wär’s! Tatsächlich kenne ich Krankenhäuser mit circa 2000 Mitarbeitern, die weniger als zehn Fehlermeldungen pro Jahr erhalten. Organisationen, die mit meinem Unternehmen zusammenarbeiten, erhöhen die Meldungsquote auf bis zu 30 Prozent, und zwar dauerhaft – das wird dann sicherlich etwas zeitintensiver für die Beichtpersonen, aber man erkennt auch zügig, dass bestimmte Fehlermeldungen sich wiederholen, und da müssen Sie die Arbeit nicht jedes Mal neu machen. Und nicht vergessen: Diese Vertrauenspersonen erreichen zwei weitere wichtige Dinge, die einer Organisation viel Geld sparen können.
Welche sind das?
Zum einen ist es wichtig für Mitarbeiter, dass sie sich einfach mal öffnen können und etwas sagen dürfen, ohne dass sie gleich als Mensch oder Figur bewertet oder verurteilt werden. Das tut unglaublich gut, und die Leute erkennen in der sich damit auftuenden sicheren Umgebung viel besser, was eigentlich passiert ist oder bei Fehlerursachen eine Rolle gespielt hat: Wie war die private Situation? Die Schlafqualität? Der Stresslevel? Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, kann die Person selbst Lehren aus dem Vorfall ziehen. Wichtiger ist aber, dass zum anderen die Organisation die richtigen Schlüsse zieht! Funktioniert der Dienstplan der Mitarbeiter und speziell derjenige der Person, die den Fehler gemacht hat? Sollte bei der Verabreichung gewisser Medikamente ein Vier-Augen-Prinzip gelten? War die Anamnese des Patienten vielleicht unzureichend? Klar ist: Fehlerkettenanalysen versetzen Unternehmen in einen Zustand der deutlich verbesserten Übersicht. Und nur wer diese Übersicht hat, kann versuchen, gegenzusteuern.
Das führt uns direkt zu den Regeln. In Ihrem Buch gibt es einige interessante Passagen über Regelwerke, erdacht zur Erhöhung der Sicherheit, die mitunter das Gegenteil erreichen: Weil sie irgendwann so ausführlich und unübersichtlich sind, provozieren inhärente Zielkonflikte und Widersprüche immer neue Fehler. Wie vermeidet man das?
Das lässt sich gut zusammenfassen: Weniger ist mehr! Wer eine Bibliothek der Fehler führt und Prozeduren zu ihrer Vermeidung vorschreibt, sollte sich ganz genau überlegen, wie er dabei vorgeht. Ich erinnere in solchen Fällen immer an die Markteinführung des iPhones damals: Bis zu diesem Zeitpunkt waren Nokia, Siemens oder Sony der festen Überzeugung, die tollsten Mobiltelefone herzustellen – und erklärten deren Funktionen auf über 200-seitigen Bedienungsanleitungen. Und dann kam Steve Jobs und hat gesagt: „Hey, ich zeig euch mal, wie es anders geht. Hier ist ein Smartphone, es kann viel mehr als alle Telefone, und zur Bedienung braucht niemand mehr eine Anleitung.“ Den Rest kennen Sie. Ich bin der Meinung, dass wir Ähnliches auch mit Organisationsregelwerken erreichen könnten.
Es sollte einige klare, einfache Regeln und Leitmotive in Unternehmen geben, die die Kultur definieren, und den Rest können Sie in Abteilungen und Teams verfeinern – wenn und wo nötig.
Eckhard Jann
In der Luftfahrt hat man das Prinzip für Sicherheitsmanagement vor knapp 20 Jahren genau so reformiert.
Konkreter?
Die internationale Luftfahrtbehörde ICAO merkte irgendwann, dass mehr Vorschriften nicht automatisch zu mehr Sicherheit führten. Deshalb übertrug sie die Lösung der folgenden Aufgaben den Luftfahrtunternehmen: Was ist eigentlich der Sicherheitsstandard unseres Unternehmens? Wo wollen wir hin? Was ist das Ziel, das wir erreichen wollen? Das Ziel der ICAO war also, die Verantwortung mehr in die Unternehmen zu bringen und dort klarzumachen: Ihr müsst selbst erkennen, wo eure Probleme und eure Risiken sind, um dann die richtigen Maßnahmen zu treffen. Wenn wir nur immer mehr und neue Gesetze für alle erlassen, wird das einfach zu komplex und widersprüchlich und irgendwann unmöglich, immer alle Regeln zu beachten. Das führt fast zwangsläufig zu mehr Regelverletzungen. Sicherer wird es aber nicht, eher stressiger.
Stress ist ein gutes Stichwort. Eine der imposantesten Statistiken, die Sie in Fehler Eins nennen, ist, dass unter starkem Stress die Fehlerwahrscheinlichkeit bei hochkomplexen Aufgaben auf bis zu 100 Prozent steigt.
Aus der Atomwirtschaft bekannt ist die Human Error Rate Prediction, die aus zwei Faktoren errechnet, wie wahrscheinlich ein menschlicher Fehler in einem Prozess ist: Zeitdruck und Komplexität der Aufgabe. Stress allein führt nicht zu 100-prozentiger Fehlerwahrscheinlichkeit, aber extremer Stress – also Zeitdruck – bei gleichzeitig hoher Komplexität einer Aufgabe – das sind vor allem Dinge, die sehr selten oder noch nie durchgeführt worden sind – schon. Wichtig ist, dass auch Unternehmen, die kein Atomkraftwerk betreiben, wissen, dass ihre Mitarbeiter nicht immer rational handeln:
Von den rund 20 000 Entscheidungen, die wir täglich treffen, ist die Mehrzahl irrational. Es passieren deshalb immer Fehler. Und betriebliche Abmahnungen werden sie nicht abstellen.
Eckhard Jann
Aber um die schlimmsten und folgenschwersten immerhin unwahrscheinlicher zu machen, hilft das vertrauliche Meldesystem, das ich eben bereits skizziert habe. Einmal aufgebaut, funktioniert es wie ein Wetterradar im Flugzeugcockpit: Es sagt Ihnen schon mehrere Hundert Kilometer im Voraus, wo sich Gewitterzellen bilden, und gibt Ihnen damit genug Zeit, den Kurs anzupassen. Alles andere ist Fliegen nach Sicht und führt zu großem Aktionismus!
Nun fliegen große Linienmaschinen schon lange mehrheitlich im Autopiloten, was das Fliegen sicherer gemacht hat. Was meinen Sie: Wird die digitale Transformation dafür sorgen, dass die vielen Fehler, die uns im Alltag unterlaufen, weniger werden?
Ja. Die Digitalisierung hat bereits viele Fortschritte gebracht und auch in vielen Fällen die Sicherheit erhöht. Aber die Frage nach den Fehlerquellen wird dabei letztlich nur verschoben. Denn: Wer hat die Softwares, die unsere Fehler verhindern sollen, denn entwickelt? Auch da stecken wieder Menschen dahinter. Und wenn wir ganz ehrlich sind, vergeht doch kaum ein Tag, an dem unsere Smartphones kein Update bekommen – „Fehlerbehebung“. Weil die Apps eben auch nicht perfekt sind, aus dem einfachen Grund, dass die Programmierer nicht perfekt sind. Letzten Monat sind in ganz Deutschland die Kartenzahlungsterminals ausgefallen und Sie konnten nur noch bar zahlen …
Es hat Tage gedauert, bis der Fehler identifiziert war.
Genau. Denn durch die Digitalisierung erhöht sich automatisch auch die Komplexität der Systeme – und die bauen ja alle aufeinander auf. Deshalb kann es passieren, dass ein minimaler Softwarefehler, irgendein ungültiges kleines Zertifikat, das zur Abwicklung der eigentlichen Aufgabe eine kaum erkennbare Rolle spielt, in einer unglücklichen Verkettung der Umstände den gesamten Kartenzahlungsverkehr eines Landes lahmlegt. Hinzu kommt: Programmieren können Sie nur das, was Sie auch erwarten. Unerwartete Fehler werden von keiner Software der Welt selbst behoben – dazu braucht es auch wieder Menschen, die kreativ sind und die Strukturen nach Widersprüchen oder Problemen durchleuchten können, bis eine Lösung gefunden ist.
Zum Abschluss: Haben Sie eine Art Lieblingsfehler, den Sie in Ihrem Leben einmal gemacht, dann analysiert und deshalb abgestellt haben?
Viele Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe, lassen sich auf einen eher abstrakten Fehler Eins zurückführen: Angst vor dem Scheitern respektive Angst vor Veränderung. Aber ich habe gelernt, dass eine lebendige, offene Fehlerkultur diese Angst nehmen kann.
Wenn Sie einmal verstanden haben, dass Sie nicht als Mensch gescheitert sind, wenn Sie einen Fehler machen, sondern das ganz natürlich ist und Sie in einem Team das Richtige daraus ableiten und lernen können, ändert sich Ihr ganzer Zugang zur Welt.
Eckhard Jann
Es ist die Grundlage, um etwas ganz Großes zu erreichen. Für jeden Einzelnen, aber auch für Teams, Organisationen und Unternehmen.
Über den Autor
Eckhard Jann ist Pilot, Sicherheitsmanager und Urheber eines Unfalluntersucherlehrgangs in der deutschen Luftfahrt. Jann ist außerdem als Vortragsredner tätig.