„Wir lassen uns nur mit einem Viertel unserer Gehirnkapazität auf das Lernen ein.“
Herr Korte, es ist 11 Uhr an einem Freitagmorgen – was haben Sie heute schon Neues gelernt?
Martin Korte: Ehrlich gesagt eine ganze Menge! Das fing auf dem Weg zur Arbeit an: auf Eis und dickem Schnee fahren, mit Hinterradantrieb und anderen Verkehrsteilnehmern, denen offenbar nicht klar war, dass es glatt ist auf den Straßen – das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Man muss anders anfahren, anders bremsen, anders vorausschauen. Mein Bruder hat außerdem gerade eine Operation an der Hüfte hinter sich. Neu war für mich: Hüftoperationen sind bei jungen Patienten sehr viel schwieriger ist als bei älteren, weil bei jungen Menschen die Hüfte durch die starke Muskulatur so fest mit dem Bein verbunden ist, dass es gar nicht so einfach ist, einen Ersatzhüftkopf einzubauen. Ich habe einem meiner Söhne, der gerade im Homeschooling ist, bei einem Referat über den Buddhismus geholfen. Und schließlich habe ich einen Fachartikel über die Neurogenese gelesen: Er handelt davon, wie neugeborene Neuronen es schaffen, sich in ein komplexes neuronales Netzwerk einzugliedern. Ein einziges Neuron hat immerhin 10.000 synaptische Verbindungen. Man kann sich das vorstellen wie ein komplexes Straßengeflecht. Darin eine neue Straße zu bauen, ist eine Mordsaufgabe. Und es ist noch nicht genau erforscht, wie das unserem Nervensystem gelingt.
Hängt der Erfolg auch vom Alter ab?
Nicht unbedingt. Bei älteren Menschen werden tatsächlich weniger dieser neuen Nervenzellen gebildet als bei jüngeren. Aber entscheidend ist, wie viele der neugeborenen Neuronen erfolgreich in Schaltkreise integriert werden. Dafür ist Nervendünger notwendig, der vor allem dann ausgeschüttet wird, wenn wir Neues lernen, und der dann neugeborene Nervenzellen besser überleben lässt.
Genau darum geht es in Ihrem Buch: Sie behaupten, dass sich dieser Düngeprozess auch bei älteren Menschen gezielt ankurbeln lässt. Und Sie warnen vor sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Warum?
Weil das Gehirn von dem ausgeht, was wir glauben leisten zu können. Viele Studien haben gezeigt: Wenn ich glaube oder andere von mir glauben, dass ich im Alter weniger leiste und mein Gedächtnis nachlässt, dann ist es auch so. Tatsächlich lernen wir mit zunehmendem Alter langsamer: Wir brauchen einfach länger, um uns etwas Neues zu merken. Aber da wir neues Wissen an bestehendes anknüpfen, fällt es uns auch leichter, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.
Entscheidend ist, sich wirklich auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Ich kann keine neue Fremdsprache erlernen, während ich die Spülmaschine ausräume und nebenbei Textnachrichten schreibe.
Martin Korte
Da nützt es auch nichts, fleißig Blaubeeren zu essen. Wir beschweren uns, dass wir nicht mehr lernen können, lassen uns aber auch nur mit einem Viertel unserer Gehirnkapazität darauf ein. Deshalb mein Ratschlag: Definieren Sie für sich ein Ziel und räumen sich dann Zeiträume frei, in denen Sie sich dezidiert nur aufs Lernen konzentrieren und auf nichts Anderes.
Das klingt momentan nach einem frommen Wunsch. Wie soll man sich diese Freiräume zwischen Homeoffice, Homeschooling und Hausarbeit überhaupt freischaufeln?
Klar, das ist nicht einfach. Wir sind vor knapp einem Jahr in diese Situation hineingeschlittert, und leider hat sich seitdem an dem Improvisationszustand nicht viel geändert. Wichtig ist: Es muss klar sein, wann ich arbeite oder lerne und wann nicht. Wenn irgend möglich, sollten Sie die Wohnung so umräumen, dass der Schreibtisch beispielsweise nicht in die Küche guckt. Natürlich ist es derzeit noch schwerer als zuvor, aber das Problem gab es ja schon, bevor wir im großen Stil ins Homeoffice geschickt wurden:
Wir müssen Arbeit und Privates wieder stärker voneinander trennen. Ich empfehle großen Firmen, ihre Server abends abzustellen – das ist die einzige Chance, dass die Leute mal Feierabend machen.
Martin Korte
Vor allem dürfen wir nicht den Stresslevel der geglaubten Produktivität mit der wirklichen Produktivität verwechseln, denn je mehr wir versuchen, alles parallel zu erledigen, desto fehleranfälliger und langsamer werden wir auch.
(Just in diesem Moment saust unsere 12-jährige Tochter jauchzend an der Zoom-Kamera vorbei, und Korte lacht)
Das passt doch gut! Genauso ist das mit meinen Söhnen auch. Kinder, die durchs Zimmer rennen, kann und sollte man natürlich nicht beliebig umräumen. Aber zurück zur generellen Frage, ob Homeoffice uns langfristig gut tut, denn da bin ich der Meinung, dass die Leute den direkten Kontakt zu ihrem Team brauchen.
Sie sind also kein Fan des Homeoffices?
Nur bedingt. Es mag bei einigen gut funktionieren. Bei den meisten ist es als Monokultur einer Arbeitsform aber nicht ausreichend. Immer, wenn es um einen horizontalen Wissenstransfer zwischen Teams geht, sieht man, dass die Menschen im Homeoffice nur halb so effektiv arbeiten. Man meint zwar, dass man über Videocalls wie diesen alle nötigen Informationen austauschen kann. Aber de facto muss man sagen: Ein Monteur, der mit seinem Kollegen zusammen eine Waschmaschine repariert, der lernt nur, indem er sieht, wie der andere das macht. Das gleiche gilt für viele andere Arbeitsabläufe auch. Um langfristig motiviert arbeiten zu können, brauchen wir das soziale Miteinander. Es ist eher die Ausnahme, dass Menschen für ihre eigene Motivation darauf verzichten können.
Geht Ihnen das genauso?
Ja, auf jeden Fall. Die Lehrveranstaltungen an der TU Braunschweig sind derzeit alle online, und ich leide darunter. Mir fehlt der direkte Kontakt zu den Studierenden: fragende Gesichter, lachende Gesichter, sorgenvolle Gesichter – all das nehme ich am Bildschirm kaum wahr.
Zurück zu idealen Lernvoraussetzungen: In Ihrem Buch raten Sie zu gesunder Ernährung, mehr Bewegung – am besten in Gemeinschaft – Lachen und guter Laune. Das war vor Covid-19. Würden Sie das heute wieder so schreiben?
Also zunächst einmal müssen wir aufhören, uns darüber zu beschweren, dass die Ampel rot ist. Ampeln die rot sind, sind rot. Die wollen uns nichts Böses. Jetzt kann ein Autofahrer vor der roten Ampel toben, weil er einen wichtigen Termin hat und es gerade nicht vorangeht. Oder er verwendet seine Energie darauf, sich mit der Situation zu arrangieren. Ich selbst gehe normalerweise zwei- bis dreimal die Woche ins Fitnessstudio. Es hat im Lockdown ein paar Wochen gedauert bis ich gemerkt habe: Das meiste, was dort gemacht wird, kann man auch zu Hause stemmen. Zwei Hanteln, ein Stuhl, ein paar Bänder, fertig. Es ist kein Naturgesetz, dass man sich in diesen Zeiten weniger bewegen und schlechter ernähren muss. Im Grunde nimmt unser Körper die Situation als Ausrede für Bequemlichkeiten, die er sich immer schon gewünscht hat. Dabei vergisst er, wie viel Spaß Bewegung eigentlich macht. Auch ich habe einen Lernprozess durchgemacht. Meine Frau lacht sich jedenfalls immer kaputt, wenn ich die Metapher von der roten Ampel verwende: Sie besteht darauf, dass sie niemanden kenne, der sich so sehr über rote Ampeln aufregt wie ich.
Nicht nur die Arbeit, sondern auch die Weiterbildung findet zur Zeit überwiegend online statt – und manche Unternehmen haben bereits angedeutet, dass sie nach der Pandemie damit fortfahren möchten. Was halten Sie davon?
Nicht viel. Begeistert sind nur die Wirtschaftsleute in den Firmen, nicht diejenigen, die wirklich ein Interesse daran haben, dass die Mitarbeiter etwas lernen. Denn die Effektivität erreicht nicht einmal 50 Prozent.
Gehirne lernen lieber in Gemeinschaft, und die kann man nur bedingt virtuell erzeugen.
Martin Korte
Aber tatsächlich lässt sich nach einem initialen Lernerlebnis mit einem Mentor und einer Peer-Gruppe vor Ort das Gelernte wunderbar online vertiefen, auch mithilfe von individuellen Lernplänen, Gamification, usw. Es ist jedoch völlig illusorisch zu glauben, man könnte ein paar Cents einsparen, indem man alles online stattfinden lässt – weil die Leute dann nicht mehr richtig hinhören, sich nichts merken und ganz schnell die Lust verlieren. Das sehen wir auch an unseren Studierenden: Die TU Braunschweig ist normalerweise eine Präsenzuni mit sehr geringen Abbrecherquoten. Bei den reinen Onlinekursen, die wir und auch andere Universitäten weltweit anbieten, beträgt die Quote aber fast 90 Prozent.
Egal ob on- oder offline: Sie sagen, dass viele Weiterbildungsangebote an den Bedürfnissen älterer Mitarbeiter vorbeigehen. Warum ist das so – und was könnten Unternehmen besser machen?
Das stimmt. Selbst bei Unternehmen mit einem sehr guten innerbetrieblichen Fortbildungsprogramm mussten wir feststellen: Fast alle, die sich anmelden, sind unter 45.
Warum meiden so viele ältere Mitarbeiter die Angebote? Weil sie Angst haben, negativ aufzufallen. Es gibt in ihren Firmen keine angemessene Fehlerkultur. Fehler machen zu können ist jedoch die Voraussetzung dafür, alte Gewohnheiten abzulegen und etwas Neues zu lernen.
Martin Korte
Ein ganz banales Beispiel: Wir wissen alle, wie es ist, vom Schaltgetriebe auf einen Automatikwagen umzusteigen. Als erstes tritt man da mit dem zweiten Fuß auf die Bremse, weil man dort die nicht vorhandene Kupplung vermutet. Das passiert einem zweimal, dann nicht mehr. Wenn man aber nach dem ersten Mal aus dem Auto steigt und sich in Grund und Boden schämt, dann war‘s das. Sie müssen also Zeit für Fehler einplanen. Das ist der eine Aspekt. Der zweite ist: Helfen Sie Mitarbeitern, an bestehendes Wissen anzuknüpfen – zum Beispiel mithilfe von Metaphern, oder indem Sie den Bogen von den herkömmlichen Vorgehensweisen zu den neuen spannen. Bilden Sie zu diesem Zweck gemischte Lernteams, in denen die Älteren von den Jüngeren lernen und umgekehrt. Und schaffen Sie, wann immer möglich, neue Lernkontexte: Es fällt uns immer leichter, an einem neuen Ort zu lernen, als vor einem Bildschirm in gewohnter Umgebung.
Manche Digitalunternehmer und Zukunftsforscher gehen davon aus, dass KI uns die meiste Denkarbeit schon bald abnehmen und der Mensch über Gehirn-Computerschnittstellen nur noch kreative Ideen beisteuern wird. Warum also überhaupt noch die eigene Denkfähigkeit trainieren?
Also ich bin da deutlich skeptischer. Seit 50 Jahren prophezeien uns diese Leute selbstfahrende Autos, und meiner Ansicht nach werden sie es auch noch lange tun. Allerdings gibt es heute smarte Assistenzsysteme, die viele Unfälle verhindern – und dafür können wir nur dankbar sein. Wir sollten uns nur nicht von Expertensystemen abhängig machen oder gar glauben, wir bräuchten zukünftig nichts mehr zu wissen. Kreativität hängt beispielsweise sehr stark davon ab, bestehendes Wissen neu zusammenzufügen. Auch bei den neuesten Systemen müssen wir mit unserem Verstand analysieren, ob diese „Lösungen“ das bestehende Problem effektiv lösen. Deshalb werden wir auch künftig viel denken und wissen müssen: einerseits, um kreativ zu sein, und andererseits, um Dinge einschätzen und beurteilen zu können. Das sollten wir übrigens nicht nur im Beruf, sondern auch, um als mündige Bürger in einer Demokratie agieren zu können. KI-gestützte Assistenzsysteme können dabei behilflich sein. Aber sie dürfen uns nicht die Entscheidungen abnehmen.
Eine wichtige Rolle spielt dabei das Gedächtnis. Wie trainieren wir es am effektivsten?
Zum Beispiel, indem wir neu Gelerntes mit einem Ort verbinden. Mit der Loci-Lernmethode arbeiten auch Gedächtnisweltmeister. Und nicht nur die: Seit Beginn der Evolutionsgeschichte merkt sich der Mensch anhand von Landmarken, von A nach B zu kommen. Diese Landmarken können wir auch dazu verwenden, uns 20 oder 30 Begriffe zu merken. Das funktioniert so gut, weil sich in unserem Gehirn das Fakten- und Ortsgedächtnis an der gleichen Stelle befinden. Ganz generell gilt, dass sich die Synapsen im Gehirn am leichtesten über Assoziationen und assoziative Tätigkeiten verändern. Ich persönlich kann mir zum Beispiel Passwörter und PIN-Nummern am besten merken, indem ich mir verrückte Geschichten dazu ausdenke. Welche Methode am besten funktioniert, muss aber jeder für sich selbst herausfinden.
Zum Abschluss kurz auf den Punkt gebracht: Die drei wichtigsten Tipps für geistige Fitness in jedem Alter!
Punkt eins: Trauen Sie sich etwas zu.
Machen Sie Ihre Ziele nicht davon abhängig, was andere von Ihnen erwarten, sondern setzen Sie selbst die Latte so hoch wie möglich.
Martin Korte
Punkt zwei: Konzentrieren Sie sich während des Lernens auf eine einzige Sache – selbst wenn Sie diese Fähigkeit ganz neu erlernen müssen. Und Punkt drei: Sport und vernünftige Ernährung. Wenn wir uns regelmäßig bewegen, wird das Gehirn in vielerlei Hinsicht lernfähiger, und umgekehrt setzt überschüssiges Fettgewebe Entzündungsfaktoren frei, die es langfristig schädigen. Deshalb sollte man sich gar nicht so sehr Rechenschaft darüber ablegen, was man isst – sondern vielmehr darüber, was man alles nicht isst.
Über den Autor
Martin Korte ist Professor für Neurobiologie an der TU Braunschweig mit den Forschungsschwerpunkten Lernen und Gedächtnis. Er war mit Hirngeflüster für den getAbstract Book Award 2020 nominiert, ist Autor von Wir sind Gedächtnis, und im Herbst kommt bei DVA sein neuestes Buch Klüger als wir denken über unsere Gehirne im Umgang mit digitalen Medien und KI-Systemen heraus.