Das Märchen von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne
Sicher haben Sie es auch schon gehört: Unsere Aufmerksamkeitsspanne sinkt. Im Jahre 2000 lag sie noch bei zwölf Sekunden, 2013 schon bei acht. Schlimmer noch: Wir können uns sogar schlechter konzentrieren als ein Goldfisch: Dessen Aufmerksamkeitsspanne liegt nämlich bei neun Sekunden.
Wissen Sie, wie man die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches misst? Wir auch nicht. Ebenso wenig wissen es die Leute, von denen diese Zahlen kommen – die Leute bei Statistic Brain nämlich. Schlimm genug, dass eine Firma mit solch einem sprechenden Namen unzureichend belegte Zahlen veröffentlicht. Noch schlimmer ist allerdings, dass Microsoft genau diese Zahlen in einer Marketing-PowerPoint-Präsentation verwendet hat – und damit das Märchen von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne ins Rollen gebracht hat.
Was also hat es damit auf sich?
Warum es keine fixe Aufmerksamkeitsspanne gibt
Auch wenn es gerade im Bereich Marketing sehr verlockend klingt, eine magische Zahl zu haben, an der man sich orientieren kann, was die Aufmerksamkeit von Menschen betrifft – eine derartige allgemeingültige Zahl gibt es nicht. Wie unzureichend belegt die Zahlen sind, auf die sich Microsoft bezogen hat, haben Journalisten von BBC herausgefunden. Die haben nämlich versucht, die Leute bei Statistic Brain zu erreichen, um den Ursprung der von ihnen veröffentlichten Zahlen zu klären – leider ohne Erfolg. Auch konnten sich andere Experten für menschliche Aufmerksamkeit, mit denen sie gesprochen haben, nicht erklären, wie die Zahlen zustande gekommen sind.
Generell würde es obendrein wenig Sinn machen, nach einer solchen Zeitspanne zu forschen. Maria Panagiotidi von der Universität Sheffield erläutert, warum:
Kahneman’s (1973) capacity theory of attention proposed that people’s capacity for attentional focus is not static, but instead varies as a function of factors such as the reward characteristics of the task, arousal level, motivation, and other biological determinants.
Maria Panagiotidi
Das heißt: Wie gut bzw. wie lange wir uns konzentrieren können und aufmerksam sind, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, unter anderem auch von der Aufgabe. Wir haben keine feste Aufmerksamkeitsspanne.
Was jedoch heute durchaus anders ist als früher – und das wird auch einer der Gründe sein, warum sich dieses Märchen so hartnäckig hält: Es gibt schlicht mehr und verlockendere Ablenkungen. Wir sind umzingelt von diversen Apps und Medien, die sich darauf spezialisiert haben, uns möglichst gut (und lange) zu unterhalten. Und ja, sicher gewöhnen wir uns auch schnell an die stetigen Dopaminschübe, die wir etwa beim Scrollen durch Instagram oder beim Erhalten von WhatsApp-Nachrichten erleben.
Doch nur weil wir uns angewöhnt haben, uns schnell ablenken zu lassen, heißt das nicht, dass wir nicht mehr anders können.
Und das ist, was so oft falsch interpretiert wurde: Es ist heute vermutlich schwieriger sich zu konzentrieren als früher. Zum einen, weil es mehr Ablenkungen gibt, und zum anderen, weil wir es mitunter deshalb teilweise verlernt haben. Das bedeutet aber nicht, dass wir heute biologisch eine kleinere Aufmerksamkeitsspanne haben als früher. Zumindest gibt es dafür noch keine Belege.
Das Problem
Doch warum ist es ein Problem, wenn Menschen denken, sie hätten eine kleine Aufmerksamkeitsspanne? Weil damit suggeriert wird, dass wir diesbezüglich mehr oder weniger machtlos sind.
Wenn wir davon ausgehen, dass die neue bunte Welt voller Technologien nun mal dazu geführt hat, dass wir uns schlechter konzentrieren können, wird das für viele bedeuten, dass sie es nicht mehr gleich ambitioniert versuchen.
Natürlich, die meisten müssen sich in ihrem Job irgendwie konzentrieren. Wenn sie bei einer komplexeren Aufgabe jedoch schon von vornherein erwarten, dass sie nun einen Kampf gegen die eigenen unumstößlichen Veranlagungen führen, wird es ihnen vermutlich auch schwererfallen, diesen zu gewinnen – oder es wird mit unnötig großer Anstrengung verbunden sein.
Eine allgemeine, nachweislich geringe Aufmerksamkeitsspanne könnte für viele Menschen auch bedeuten, sich dem erwiesenermaßen schädlichen Multitasking einfach hinzugeben. Wenn man sich sowieso nicht allzu lange konzentrieren kann, so die Logik, macht es doch Sinn, alle paar Minuten an einer anderen Aufgabe weiterzuarbeiten. Doch was für viele Menschen so verlockend ist, schadet der Qualität der Arbeit – ganz abgesehen davon, dass wir uns gar nicht gleichzeitig auf mehrere komplexe Aufgaben konzentrieren können; Beim Hin und Her geht immer eine gewisse Zeit verloren, in der unser Gehirn sich neu einstellen muss. Dass man damit produktiver wird, ist also ein weiteres Märchen.
Die Annahme über unsere Aufmerksamkeitsspanne kann auch dazu führen, dass wir eine falsche Erwartungshaltung entwickeln. Lernen soll möglichst schnell in Microlearning-Kursen stattfinden, idealerweise wird man auf den richtigen Weg genudgt. Eine wichtige Präsentation soll gefälligst interessant gestaltet sein und uns abholen – und falls es uns zu langweilig wird, wird doch hoffentlich irgendwo eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkten zu finden sein.
Natürlich ist es gut und richtig, Prozesse effizienter zu gestalten und die menschlichen Bedürfnisse und Veranlagungen zu berücksichtigen – gerade auch im L&D-Bereich. Es gibt aber nun mal Dinge, die eine gewisse Zeit brauchen.
Und wo rein biologisch nichts zwischen uns und einem konzentrierten Arbeiten steht – die Leute mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom natürlich ausgenommen –, müssen wir aufpassen, dass wir nicht anfangen, uns selbst im Weg zu stehen. Es ist unsere Verantwortung, wieder zu lernen, uns richtig auf eine Sache zu konzentrieren.
Wie Sie sich konzentrieren lernen
Sie nehmen für sich also mit: Es gibt keine Belege dafür, dass wir uns heute schlechter konzentrieren könnten als noch vor zehn Jahren. Um den ständigen Ablenkungen in Form von Unterhaltung oder aber nicht enden wollender To-do-Listen besser zu widerstehen, können Sie einige Dinge ab sofort tun, um gegenzusteuern:
- Versuchen Sie, Dinge, auch solche, die Sie in Ihrer Freizeit tun, ganz bewusst zu erleben. Schauen Sie zum Beispiel aufmerksam einen Film, statt daneben immer wieder Ihr Smartphone zu checken. Lesen Sie Bücher, nicht nur Artikel. Hören Sie sich einen längeren Podcast an, idealerweise in Normalgeschwindigkeit. Es geht darum, dass Sie sich (wieder) angewöhnen, Dinge bewusst zu tun – und nicht schon gedanklich bei der nächsten und übernächsten Tätigkeit zu sein. Stichwort Achtsamkeit.
- Auch Ihre körperliche Gesundheit hilft Ihnen dabei, konzentriert zu bleiben. Trinken Sie ausreichend Wasser – idealerweise etwa 1,5 Liter am Tag – und treiben Sie Sport.
- Meditation ist ein probates Mittel, um zu lernen, ganz bei sich zu sein und die eigenen Gedanken langsam wieder zurückzuholen, wenn sie abzuschweifen drohen. Das sagt etwa Marco von Münchhausen in seinem Buch.
- Auch erwähnt er, dass man Konzentration übt, indem man wieder und wieder versucht, sich bei der Arbeit wirklich nur einer Aufgabe zu widmen. Dass das nicht von Anfang an klappt und Sie Rückschläge erleben, ist klar. Trotzdem sollten Sie dranbleiben – denn:
Konzentrationsfähigkeit kann man wie einen geistigen Muskel stärken und trainieren.
Marco von Münchhausen
- Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Volker Busch rät auch, die eigene Wahrnehmung zu trainieren – nicht zuletzt, um eben auch die zuvor erwähnten Achtsamkeitsübungen besser durchführen zu können. Dazu legen Sie zum Beispiel 15 Gegenstände vor sich auf den Tisch und versuchen, sich diese in 60 Sekunden einzuprägen. Je häufiger Sie das üben, desto besser können Sie sich erinnern.
- Wenn wir eigentlich konzentriert an etwas arbeiten sollten, uns dann aber trotzdem dazu hinreißen lassen, etwas anderes zu tun – sei es eine andere Aufgabe oder aber durch TikTok scrollen –, dann ist das meist eine unbewusste Reaktion auf einen inneren oder äußeren Reiz, schreibt Nir Eyal. Der Reiz, die aktuelle Aufgabe abzubrechen, sollte aber nicht einfach unterdrückt werden, denn das verstärkt ihn nur. Stattdessen sollten Sie versuchen, sich auf den inneren Druck zu konzentrieren und herauszufinden, woher er rührt. Warum wollen Sie so unbedingt weg von Ihrer Aufgabe? Notieren Sie, wann dieser Druck auftaucht, also zu welcher Zeit, bei welcher Tätigkeit usw. Beobachten Sie sich und Ihre körperlichen Reaktionen aufmerksam – schlägt Ihr Herz schneller, wird Ihr Magen unruhig? Orientieren Sie sich an der 10-Minuten-Regel: Geben Sie einem Impuls nicht sofort nach, sondern zwingen Sie sich, ihn über 10 Minuten auszuhalten.
Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen
Redline VerlagWenn Sie sich diese Punkte zu Herzen nehmen und damit Schritt für Schritt versuchen, Ihre Konzentration bzw. Aufmerksamkeitsspanne zu trainieren, werden Sie merken, wie gut es tut, wenn Sie sich plötzlich besser auf Aufgaben und Momente einlassen können. Und zwar nicht nur Ihrer Produktivität – sondern auch Ihnen selbst.
An dieser Stelle gilt es jetzt nur noch, eine Lanze für die Goldfische zu brechen. Auch wenn man über deren Aufmerksamkeitsspanne nicht wirklich viel weiß, so wird mit ihnen seit 1908 geforscht – und zwar zum Thema Lernen und Gedächtnis. Felicity Huntingford, eine Expertin für Fischverhalten, kann dazu nur sagen:
That a species that’s used by neuro-psychologists and scientists as a model for studying memory formation should be the very species that has this reputation – I think that’s an interesting irony.
Felicity Huntingford