Der „Fachkräftemangel“ ist das neue „Covid“
Was früher Covid war, das ist jetzt der Fachkräftemangel: die Allzweckbegründung für alles, was irgendwie nicht geht. Mit einiger Sprengkraft für Migrationspolitik, Bildung und Rentenalter. Man kalkuliert die Opferdividende und bedient sich je nach Interessenlage. Aber Fachkräftemangel ist auch ein Allerweltswort. Es umfasst so ziemlich alle Berufe, die irgendwie relevant sind: vom Busfahrer bis zur Ärztin, von der Servicekraft im Restaurant bis zum IT-Spezialisten in einem Start-up, vom Bauarbeiter bis zur Lehrerin. Jeder versteht etwas anderes darunter. Und was ein Mangel ist, bleibt ebenfalls unklar. Zweifellos geht man nicht falsch in der Annahme, dass Arbeit heute nicht mehr adelt. Anderes jenseits des Arbeitslebens ist wichtiger geworden. Aber ist es ein Mangel, wenn auf eine Ausschreibung nur drei statt zwanzig Bewerbungen eingehen?
Ist es ein Mangel, wenn man ein sehr enges Anforderungsprofil definiert hat und daher sich kaum jemand für passend hält? Wenn man fachfremd ausgebildeten Menschen nicht die Chance gibt, sich in einen Sachbereich hineinzuarbeiten? Wenn die Arbeitsbedingungen als anachronistisch erlebt werden? Oder das gebotene Gehalt unattraktiv ist?
Ein Beispiel: Da ist die Frau, 52 Jahre alt, Wiedereinsteigerin, Mutter zweier Kinder im Teenageralter, vor der Mutterschaft mit anspruchsvollen Jobs bei der UNO betraut. In einem Monat hat sie 160 Bewerbungen geschrieben. Und ausschließlich Absagen erhalten. Kein Einzelfall. Dass Personen über 50 am Arbeitsmarkt benachteiligt sind, war zwar nie ein Geheimnis, verwundert aber doch in Zeiten, da alle Welt über Fachkräftemangel klagt. Werden da Krokodilstränen vergossen? Oder mangelt es lediglich an faltenlosen Fachkräften? Oder schlägt bei der Personalauswahl ein geistloser Algorithmus zu?
Ein weiteres Beispiel: Schon seit Langem, so sagt man allüberall, werden händeringend Ingenieure gesucht. Demnach sollten eigentlich die Gehälter für Ingenieure steigen. Tun sie aber nicht. Sie sind seit Jahren stabil. Also scheint es mit dem Mangel ja nicht so weit her zu sein. Das sagt die wirtschaftliche Nüchternheit.
Ein dritter Aspekt: Fachkräftemangel ist sektoral sehr gespreizt. Nicht überall ist er drängend. Auffällig ist zudem, dass es in allen Wirtschaftssektoren, die ich kenne, immer ein oder zwei Unternehmen gibt, die sich vor Bewerbungen nicht retten können und mithin nur ein qualitatives Problem haben, kein quantitatives. Irgendetwas scheinen die richtiger zu machen als der Wettbewerb.
Überhaupt kann ich mich kaum erinnern, dass in den letzten Jahrzehnten mal nicht über den Fachkräftemangel geklagt wurde. Was den Schluss nahelegt: Entweder wachsen die Unternehmen zu schnell oder es ist eine Fehldiagnose.
Gegenmittel
Sollte die Diagnose Fachkräftemangel aber durch den Abgang der Boomer-Jahrgänge heute tatsächlich zutreffen, dann liegen die Gegenmittel auf der Hand:
- Eine kapitalintensivere Produktion,
- eine höhere Produktivität der verbleibenden Arbeitskräfte,
- kreativere Recruiting-Bemühungen,
- weniger Teilzeit,
- längeres Arbeiten im Alter und
- stärkere Integration von Frauen, Rentnern und Langzeitarbeitslosen.
Andere setzen auf „Quiet Hiring“, also die Suche unter den schon vorhandenen Mitarbeitern, die durch intensivierte Personalentwicklung für die vakante Stelle infrage kommen könnten.
Verborgene Talente finden
Harvard Business ManagerIm Mikrobereich sollte man nicht vergessen, dass kompetente Führungskräfte ein Sozialklima schaffen können, das es zumindest wahrscheinlich macht, dass gute Leute nicht weggehen. Das wäre ja auch schon mal etwas. Wer zu viel Arbeit für zu wenig Mitarbeiter hat, der muss sich über hohe Fluktuation nicht wundern.
All das ist bekannt und wird mit einem Mix aus Aktivitäten auch vielfach angegangen. Es gibt aber auch eine Reaktion auf den Fachkräftemangel, die kaum diskutiert wird: sich zu beschränken! Auch wenn es vor dem Hintergrund einer umfassenden Steigerungsmentalität niemand laut sagen will:
Nicht-wachsen-Wollen ist eine Alternative.
Oder sich von Betätigungsfeldern zu trennen. Kundenablenkungsbürokratie abbauen. Den Management-Firlefanz rauswerfen, der in den letzten dreißig Jahren angespült wurde und die Unternehmen zunehmend sklerotisiert. Und dann mit den Menschen auskommen, die da sind.
Das wäre dann kein zwanghaftes Vergrößern, Verbreitern und Verflachen, sondern ein befreiendes Konzentrieren, Vertiefen und Intensivieren. Man muss diesen Gedanken nicht gleich zur wachstumskritischen Degrowth-Ideologie extremisieren. Aber es ist immerhin eine praktische Option zur Lösung des Fachkräftemangels. Wie es einst Martin Heidegger sagte: „Der Verzicht nimmt nicht, er gibt.“
Nächste Schritte
Reinhard K. Sprengers neues Buch Gehirnwäsche trage ich nicht ist soeben erschienen. Wer den Autor für einen Live-Event buchen will, erreicht das Management hier. Und hier finden Sie alle seine getAbstract-Kolumnen seit 2020.