Agil sein oder nicht sein?
Es scheint kaum noch eine Organisation zu geben, die nicht behauptet, agil zu sein. Von Armeen und Ministerien über Groß- und Kleinunternehmen, Universitäten und Grundschulen bis hin zum örtlichen Sportverein – sie alle stehen vor der Wahl: Agil sein oder nicht sein?
Eigentlich spricht ja nichts gegen Agilität. Was kann schon verkehrt daran sein, sich ständig an eine komplexe und unsichere Umwelt anzupassen, Abteilungssilos aufzulösen und Mitarbeitenden auf Augenhöhe zu begegnen? Im Prinzip gar nichts, sagt der Soziologe und Systemtheoretiker Stefan Kühl. Dennoch hält er die agile Organisation für „kalten Kaffee“, die wolkigen Forderungen nach mehr Agilität für „banal“ und das Silodenken für eine natürliche Folge menschlicher Arbeitsteilung. In seinem Buch Schattenorganisation schildert er anschaulich, wie Mitarbeitende in vermeintlich hierarchiefreien, holakratischen Unternehmen deren egalitäres Prinzip in Hinterzimmern und Schattenabteilungen unterlaufen und ad absurdum führen.
Je stärker Transparenz in der Organisation eingefordert wird, desto stärker sind die Bemühungen des Versteckens.
Stefan Kühl
Das Konzept der Agilität stammt aus der Softwareentwicklung und wurde erstmals 2001 im Agilen Manifest formuliert. Natürlich habe man damit das Rad der Managementtheorie nicht neu erfunden, sagen auch die Autoren von Postbürokratisches Organisieren. Dennoch wollen sie es nicht als Modeerscheinung abtun. Schließlich wären agile Ansätze nicht so populär, wenn es keinen echten Leidensdruck und Handlungsbedarf gäbe. Dabei müssen Unternehmen nicht alles vom Kopf auf die Füße stellen. Vielmehr können sie beidhändig fahren, indem sie dort, wo es Sinn ergibt, hierarchische Strukturen und Abteilungsgrenzen beibehalten, aber für bestimmte Projekte agile Nischen und Inseln schaffen.
Letztlich ist jedes Unternehmen ein komplexes Ökosystem: Die agile Transformation zu erzwingen hieße, den ganzen Wald auf einen Schlag zu roden. Um ein gesundes, atmendes System zu schaffen, müssen Veränderungen schrittweise eingeführt werden, während agile Teams über Schnittstellen mit traditionellen Abteilungen zusammenarbeiten und sich beide Seiten immer stärker untereinander vernetzen.
Der Ökosystem-Ansatz ist eine Möglichkeit, die hybride Organisation praktisch umzusetzen.
Christian Böhler
Das ist natürlich leichter gesagt als getan, und gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. In der Praxis scheitert etwa die Hälfte aller Unternehmen an der Umsetzung agiler Methoden. Ein Grund dafür sind die vielen Beharrungskräfte und Stolpersteine, die Agilität immer wieder zu Fall bringen. Darunter die folgenden:
1. Alter Wein in neuen Schläuchen
Die Verantwortlichen springen vordergründig auf den Agilitätstrend auf. Sie preisen die Vorteile radikaler Zusammenarbeit, nehmen einige kosmetische Eingriffe vor, entlassen im Zweifel noch ein paar Leute und berauschen sich an den erhofften Effizienzgewinnen – behalten die Organisationsstrukturen, die Kommunikations- und Informationspolitik im Unternehmen aber bei.
Lösung: Kehren Sie die Reihenfolge um. Verändern Sie zuerst Erwartungen, Umgangsformen und Unternehmenskultur und beginnen Sie die agile Reise mit einem Pilotprojekt. Von der agilen Transformation können Sie immer noch schwärmen, wenn sie am Horizont erkennbar wird.
2. Willkürliche Abschaffung von Hierarchien
Das (fast) führungslose Unternehmen wird ausgerufen, ohne dass neue Leitplanken und Wegweiser aufgestellt werden. Chaos, Unsicherheit und Verwirrung sind die Folge. Es entsteht ein Vakuum, Mitarbeitende fallen in alte Verhaltensmuster zurück und bilden Schattenstrukturen. Steigender Gruppendruck kann zudem Ängste, Schuldzuweisungen und Mobbing auslösen.
Lösung: Bevor Sie Hierarchien abflachen oder abschaffen, kommunizieren Sie, was an ihre Stelle treten soll. Stellen Sie sicher, dass die neuen Organisationsformen verstanden und umgesetzt werden. Nehmen Sie alle Mitarbeitenden mit und schaffen Sie psychologische Sicherheit, indem Sie für ein angstfreies Gesprächsklima sorgen.
Die dunkle Seite der Agilität
managerSeminare Verlag3. Mangelnde Qualifikation
Für jedes neue Softwaretool gibt es umfangreiche Schulungen. Nur bei agilen Methoden und Mindsets gehen manche Führungskräfte aus unerfindlichen Gründen davon aus, dass ihre Mitarbeitenden von allein herausfinden, wie sie sich optimal selbst organisieren. Die Botschaft lautet: Sink or swim – mit dem Ergebnis, dass agile Initiativen untergehen, bevor sie richtig begonnen haben.
Lösung: Investieren Sie in Schwimmunterricht. Trainieren Sie Ihre Mitarbeitenden, alte Verhaltensweisen durch neue zu ersetzen, und erklären Sie ihnen den Weg von A nach B.
4. Kampf gegen alte Windmühlen
Angenommen, Sie haben bisher alle Regeln befolgt. Die Scrum-Teams sprinten, was das Zeug hält – bis die Jahresbudgets vergeben werden. Das Management verlangt Ergebnisse und konkrete Zusagen. Das agile Team legt sich notgedrungen auf suboptimale Lösungen fest, ohne dass ihre neue Arbeitsweise dies hergibt. Im Kampf gegen verkrustete Strukturen fühlen sich die Teammitglieder zunehmend erschöpft. Ans Sprinten ist nicht mehr zu denken.
Lösung: Agilität ist kein Glitzerstab, mit dem Sie – Simsalabim – bessere Produkte und höhere Gewinne wie rosa Kaninchen aus alten Hüten zaubern. Auch in hybriden Organisationen müssen Sie das Topmanagement in agile Prozesse einbinden und die Strategiefindung und Budgetplanung entsprechend anpassen. Fördern und coachen Sie Ihre Führungskräfte. Agilität betrifft die gesamte Organisation, nicht nur einzelne Teams.
5. Veraltete Architektur und Infrastruktur
Manche Unternehmen versuchen, agile Methoden zu alten Rahmenbedingungen einzuführen. Produktorientierte Teams sollen dann plötzlich in einem prozessorientierten System arbeiten. Das funktioniert nicht, weil sich beide Systeme gegenseitig behindern.
Lösung: Ändern Sie technische Systeme, Architekturen und Strukturen. Machen Sie Ihr Unternehmen von Grund auf zukunftsfähig.
Life Changer – Zukunft made in Germany
Penguin-Verlag6. Filz, Flurfunk und Fehlerintoleranz
Für Alphatiere ist Agilität der Super-GAU. Und nicht nur für sie: Niemand springt bei Veränderungen vor Freude in die Luft, und der Teufel, den man kennt, ist immer noch besser als der, den man nicht kennt. Deshalb versuchen manche, ihre Schäfchen heimlich ins Trockene zu bringen. Sie verfolgen eigene Ziele, intrigieren gegen Kollegen, die Veränderungen vorantreiben, und prangern deren Fehler an.
Lösung: Fordern Sie bedingungslose Transparenz, sprechen Sie ungelöste Streitpunkte an und leben Sie eine offene Fehlerkultur vor. Das ist Ihre Chance, seit Langem schwelende Konflikte anzusprechen und – wenn schon nicht zu lösen – so doch allen Mitarbeitenden das Gefühl zu vermitteln, dass sie gehört werden und Fehler machen dürfen.
7. Verzettlung in Verfahrensfragen
Viele Teams und Führungskräfte stürzen sich bei der agilen Transformation übereifrig auf Tools und Prozesse. Sie fragen zuerst nach Taskboards und Scrum-Methoden, anstatt zu überlegen, was sie mit ihrem prall gefüllten Werkzeugkasten eigentlich erreichen wollen, wie ihre Kunden ticken und welches Produkt ihnen vorschwebt. Der Fokus auf Prozesse führt oft dazu, dass sich engagierte Teams in Verfahrensfragen verzetteln.
Lösung: Überlegen Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitenden, wie die Unternehmenskultur in einigen Jahren aussehen soll. Definieren Sie die Kunden, die Sie haben oder gern hätten. Helfen Sie Mitarbeitenden von Anfang an, ein agiles Mindset zu entwickeln. Dann können Sie sich immer noch um Taskboards und agile Tools kümmern.
Die entscheidende Frage aber stellt Reinhard K. Sprenger in seiner aktuellen Kolumne: Wollen Sie die radikale Zusammenarbeit in einem agilen Unternehmen ernsthaft, mit allen Konsequenzen? (Visitenkarten ohne Angabe der Abteilungszugehörigkeit, Kooperation mit unsympathischen Kollegen, die Gefahr, dass die Geschichte irgendwann aus dem Ruder läuft …) Falls nicht, dann gibt es eine durchaus sinnvolle Alternative: nicht agil sein – und dazu stehen.