„Man kann jeden Job kreativ machen“
Frau Weiß, in Weltbeste Bildung! nehmen Sie die gegenwärtige Technologieskepsis aufs Korn und schreiben, dass Deutschland das Potenzial neuer Technologien endlich nutzen lernen muss, um Lösungen für drängende Probleme wie den Klimawandel, Pandemien oder Kriege zu finden. Worin äußert sich diese Technologieskepsis konkret?
Yasmin Weiß: Zuerst: Technologieskepsis resultiert häufig aus Ängsten, und die müssen wir ernst nehmen. Da sind Ängste vor drohender Arbeitslosigkeit, vor Kontrollverlusten, vor Veränderungen generell. Solche Ängste entstehen, weil ein Großteil der Bevölkerung – über alle Altersklassen und Qualifizierungsschichten hinweg – nicht genau weiß, was es mit den Schlüsseltechnologien der Welt auf sich hat. Nehmen Sie die größte transformative Schlüsseltechnologie, die wir derzeit haben: künstliche Intelligenz. In welchen Ländern befinden sich die wissenschaftlichen und unternehmerischen Vorreiter, also diejenigen, die forschen und Geld mit KI-gestützten Produkten verdienen? Sie kommen aus den USA und China. Als Deutsche und Hongkong-Chinesin, die viel Zeit in beiden Ländern verbringt, sehe ich die resultierenden Unterschiede auch bei der Nutzung regelmäßig: In China sind die Menschen neuen Technologien gegenüber offener und sehen in ihnen neue Chancen, das Leben angenehmer zu machen, Probleme besser zu lösen, effizienter zu arbeiten, Dinge im Alltag besser erledigen zu können.
Und in Deutschland?
Hier hören wir von künstlicher Intelligenz, und sehr viele Menschen haben zuerst mal Vorbehalte, noch bevor sie sich damit überhaupt auseinandergesetzt haben. Zwar nutzen wir alle bereits künstliche Intelligenz: Wer ein Smartphone in der Tasche hat, wendet KI täglich an, von der besten Strecke von A nach B im Routenplaner über die Vorsortierung von E-Mails in digitale Ordner bis zu den Korrekturhilfen der Office-Tools kommt kaum eine App mehr ohne sie aus. Wir wissen auch, dass wir in der Pandemie deshalb so schnell einen hochwirksamen Impfstoff entwickeln konnten, weil ein Forscherteam in Rekordzeit so viele Daten auswerten, Wirkstoffkombinationen entwickeln und testen und die richtige finden konnte – ohne Einbezug von KI wäre das natürlich unmöglich gewesen. Aber genau diese Erfolgsgeschichten und Use Cases werden bei uns zu selten erzählt. Wir feiern zwar die Forscher, die den Durchbruch erzielen, oder nehmen hin, dass da ein erfolgreiches digitales Werkzeug auf unseren Handys existiert und genutzt wird, wir interessieren uns aber zu wenig für die Grundlagen der Technik und die Hintergründe ihrer Nutzung.
Wie kommt man dem bei?
Indem man das ängstliche Narrativ, das immer wieder bemüht wird, eine Art „Mensch gegen Maschine“-Denken von Erfolgsgeschichten ablöst und das „Warum?“ hinter neuen Technologien erklärt.
‚Mensch mit Maschine‘ ist die Geschichte, die wir uns erzählen sollten, denn wir sind beispielsweise durch die Zusammenführung unserer humanen Intelligenz mit einer künstlichen Intelligenz in der Lage, Lösungen für die größten Herausforderungen unserer Zeit – beispielsweise den Klimawandel – zu finden.
Vorausgesetzt natürlich, wir nutzen die neuen Technologien richtig und bilden Menschen aus, die neue Technologien nach unseren Wertmaßstäben entwickeln können. Und genau da müsste digitale Bildung ansetzen, in der Schule, in den Unternehmen, in der Politik und bei den Weiterbildungsmaßnahmen.
Das ist Deutschland in der Vergangenheit an anderem Ort nicht schlecht gelungen: Die hiesige Automobilindustrie gilt weit über die Grenzen hinaus immer noch als Vorzeigemodell, obschon sie ja längst globale Konkurrenz – und einige Innovationen verschlafen – hat.
Ja, wir waren bislang sehr, sehr gut darin, iterativ Innovationen voranzutreiben, also bei einem spezifischen Produkt immer und immer besser zu werden. Allerdings sind die Chinesen und die Amerikaner heute deutlich geübter darin, disruptive Innovationen zu entwickeln. Also solche, die alte Geschäftsmodelle und -prozesse radikal neu denken. Das ist in der DNA der deutschen Wirtschaft noch nicht besonders ausgeprägt, und darin liegt eine große Gefahr für den Standort. Denn: KI hat das Potenzial zur Disruption. Und aktuell sind wir beinahe gezwungen, erfolgreiche Modelle aus den USA oder China zu importieren. Denn wir haben schlicht keine eigenen. Solche „Importe“ kommen auch immer mit einem entsprechenden Wertesystem, das die Entwickler, die eine KI in einem bestimmten Kontext marktreif gemacht haben, integriert haben. Wir kaufen dann dieses Wertesystem mit, ob wir wollen oder nicht.
Das klingt nun sehr theoretisch. Können Sie dazu ein Beispiel geben?
Millionen Deutsche benutzen TikTok und Instagram, besonders junge Menschen. Diese können die Frontends dieser Apps ganz virtuos bedienen. Aber was dahintersteckt, wissen die allerwenigsten: Was passiert im Backend mit den Daten? Wie wird das Nutzer- und Konsumverhalten gezielt durch Algorithmen beeinflusst? Was bedeutet das für die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer? Was für Informationen werden mir aufgrund meines bisherigen Nutzerverhaltens angezeigt und wie hinterfrage ich den Wahrheitsgehalt von Informationen aus dem Netz ausreichend kritisch? Nur, wer diese Fragen stellt und Antworten darauf findet, kann Einfluss auf die eigene Entwicklung nehmen.
Was bräuchte Deutschland, um mitzuhalten?
Wir brauchen erstens mehr „Spitzensportler“, also tiefgreifende Expertise: Menschen, die neue Technologien auf Weltklasseniveau beherrschen, und die Tech- und Wertestandards setzen, die wir in die Welt exportieren können. Und wir brauchen zweitens mehr „Breitensportler“. Also eine Bevölkerung, die sich in jedem Alter ausreichend fit hält, was den technischen Fortschritt angeht. Dazu muss der oder die Einzelne gar kein Experte werden, sondern Grundlagenwissen erwerben und am Ball bleiben. Hier haben wir sowohl in der Spitze als auch in der Breite eine Herausforderung.
Sprechen wir zuerst von den Breitensportlern: Wie senken wir die Hürden, damit sie fit bleiben können?
Die sind gar nicht hoch! Ich habe gerade heute, weil ChatGPT so ein riesiges Thema ist, verschiedene kostenlose Angebote zu KI-Grundlagenkursen auf LinkedIn gepostet mit dem Hinweis, dass erstens ein Basiswissen ziemlich leicht zu erwerben ist und zweitens uns alle weiterbringt, weil wir dann einsteigen können in einen informiert-kritischen gesellschaftlichen Dialog und besser verstehen, was die Potenziale und auch die möglichen Risiken einer künstlichen Intelligenz sind.
In vielen Fällen reicht es, die zwei Stunden Netflix am Abend ein einziges Mal durch den zweieinhalbstündigen KI-Basiskurs vom deutschen KI-Campus zu ersetzen. Danach wissen Sie, worum es gerade geht.
Und wenn nur schon ein paar Millionen Deutsche dieses Angebot annähmen, würde die Debatte nicht mehr von Ängsten dominiert. Ich persönlich finde Eigeninitiative beim Erwerb dieses technologischen Grundlagenwissens sehr wichtig. Die Angebote sind da, sie sind niederschwellig und kostenlos und dennoch werden sie zu wenig genutzt.
Nun hat aber Expertenwissen eine nachweislich immer kürzere Halbwertszeit. Woher sollen wir heute also überhaupt wissen, was das Rüstzeug, die Disziplin der „Spitzensportler“ von morgen, ist?
Das ist eine gute Frage! Die Herausforderung in der Bildung ist, dass wir heute ausbilden müssen für eine Welt von morgen, die wir teilweise noch nicht kennen auf Basis von Technologien, die sich erst entwickeln. Daher ist es auch so wichtig, in generelle und zeitbeständige Metakompetenzen wie beispielsweise Lernfähigkeit, Problemlösungskompetenz und Ambiguitätstoleranz zu investieren. Vor allem geht es darum: Wir müssen in der Bildung Sicherheit in der Veränderung, nicht eine trügerische Sicherheit vor der Veränderung vermitteln. Lebenslanges Lernen ist schon längst kein Kür-Thema mehr, es ist Pflicht für jeden, der sich in der sich rasch verändernden Welt weiterhin zurechtfinden möchte.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Nehmen Sie ein KI-Modell wie das hinter ChatGPT: Diese KI lernt immer hinzu – sie wird mit jeder menschlichen Eingabe schlauer. Die Version, die wir jetzt haben, ist deutlich „schlauer“ als die, die wir Ende November erstmals ausprobiert haben. Und das hört nie auf. Deshalb müssen wir Menschen mit der gleichen Selbstverständlichkeit hinzulernen. Die Leitfrage muss deshalb sein: Wie schaffen wir es, uns fortlaufend anzupassen, also innerhalb von kürzester Zeit neues Wissen anzueignen – und Überholtes zu verlernen, wenn nötig? Wie, um es knapper auszudrücken, lässt sich unsere Bildung dynamisieren? Wie können wir Lernen in einen vollgepackten Alltag integrieren?
Wie machen Sie das denn ganz persönlich?
Ich sage mir täglich, dass ich eine Betaversion von mir selbst bin. Wir kennen ja die Betaversionen von Software, die, bevor sie auf den Markt kommen, unheimlich viel Feedback sammeln, also herausfinden, wo die Schwächen und Stärken gerade sind, und darauf aufbauend weiterentwickelt werden.
Letztendlich sind wir alle Betaversionen, die versuchen, in einer schnelllebigen Welt die nötigen Updates zu erhalten.
Wie gelingt uns das? Indem wir uns selbst immer wieder ehrlich befragen und unser Kompetenzportfolio pflegen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mindestens eine Stunde pro Tag ausschließlich in Lernprozesse investiere, weil ich sonst nicht mehr hinterherkomme für die Rollen, die ich habe. Ich bin Professorin, ich bin Aufsichtsrätin und ich bin Gründerin – und das sind alles Rollen, in denen ich nicht im Mainstream mitschwimmen kann. Ich muss vor der Welle herschwimmen und am Puls der Zeit sein. Das Lernen ist deshalb Teil meines persönlichen Aufgabenprofils, und ich glaube, dass das für immer mehr Jobs und Rollen essenziell wird.
Gut. Aber trotzdem bleibt das Problem, dass nicht nur viele Menschen nicht wissen, welche Kompetenzen sie künftig brauchen werden – viele Unternehmen wissen es ja selbst nicht. Die allermeisten Firmen haben nicht einmal eine Übersicht darüber, welche Kompetenzen sie aktuell durch die Belegschaft im Unternehmen haben. Wie sollen sie dann herausfinden, was sie morgen haben müssen?
Es ist sicher so, dass in diesem Bereich noch viel Luft nach oben ist. Aber: Viele Unternehmen machen ja vor, wie strategisches Kompetenzmonitoring funktioniert und wie man aus der Unternehmensstrategie ableiten kann, welche Kompetenzen in Zukunft benötigt werden. Das brauchen wir nicht nur auf der Ebene von Arbeitgebern, sondern auch auf volkswirtschaftlicher Ebene.
Aber das ist doch bestenfalls eine Momentaufnahme. Eine hundertprozentige Sicherheit über mehr als fünf Jahre hinaus kann doch dabei nicht herauskommen.
Für die nächsten fünf Jahre können wir ziemlich gut vorhersagen, welche Kompetenzen wichtiger werden. Ich wünsche mir, dass die Wirtschaft ihren Kompetenzbedarf und neue Anforderungen möglichst frühzeitig an das Bildungssystem kommuniziert, sodass entsprechende Ausbildungs- und Studiengänge geschaffen und die Lehrinhalte bestehender Studiengänge auf die zukünftigen Anforderungen ausgerichtet werden können. Das passiert derzeit zu wenig.
Sie schreiben in Weltbeste Bildung von einem „dynamischen Ökosystem für lebenslange Lernprozesse“. Können Sie anhand eines Beispiels erklären, wie es Leuten, die sich schnell und spezifisch weiterbilden wollen, gute Angebote machen könnte?
Für viele aktuell bedeutende Themen wie beispielsweise Datenanalyse, Cybersecurity, Nachhaltigkeit brauchen wir nicht Formalabschlüsse einer Hochschule, sondern kompaktes Wissen, das sich Berufstätige berufsbegleitend im Selbststudium aneignen können. Das Zertifikat spielt dabei eine untergeordnete Rolle:
Bildung ist das, was wir auf die Straße bringen, nicht was auf einem Papier steht.
Diese „Schnellboote“ der Bildung müssen immer und überall verfügbar, niederschwellig und angstfrei aufrufbar sein. Und sie müssen sich in der gebotenen Tiefe anpassen lassen, denn je nach Rolle brauche ich vielleicht etwas anderes.
Wie werden Karrieren in der Arbeitswelt der Zukunft aussehen?
Karrieren werden in Zukunft nicht mehr linear oder geradlinig verlaufen, sondern von Brüchen, Pausen und Neuanfängen gekennzeichnet sein.
Es muss normal werden, sich beruflich neu zu erfinden und etwas anderes zu machen.
Schon jetzt gibt es Beispiele hierfür, wie eine solche persönliche Transformation erfolgreich gelingen kann: Mein jetziger Physiotherapeut war früher Spengler. Er verdiente sein Geld damit, auf Dächern herumzusteigen und Dachstühle zu bauen. Irgendwann merkte er, dass seine Sehkraft nachließ, inzwischen ist er fast blind. Er machte einen kompletten beruflichen Neustart und eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Dabei ist sein vermeintliches „Handicap“, kaum noch sehen zu können, eine große Stärke, weil er über einen ausgeprägten Tastsinn verfügt. Mich begeistert die Haltung von Menschen, die so agieren wie er. Und das brauchen in Zukunft viel mehr Menschen: den Mut und die Offenheit, sich selbst zu transformieren und in der Veränderung eine Chance zu erkennen.
Machen wir die Probe aufs Exempel: Wenn Sie jetzt noch mal studieren könnten, bzw. noch einmal am Anfang Ihrer Bildungskarriere stünden, wofür würden Sie sich einschreiben – Jura oder Geschichte?
Keins von beiden. Aber wenn es eins sein müsste: Jura.
Physik oder Medizin?
Medizin.
Maschinenbau oder Sozialpädagogik?
Beides! Ich finde die Mischung auch ziemlich gut. (Lacht.)
Informatik oder Biologie?
Informatik.
Kunst oder BWL?
BWL.
Das überrascht mich jetzt. In Ihrem Buch sprechen Sie doch explizit von der Kreativität, die man mehr fördern sollte.
Es stimmt schon: Ich halte Kreativität für eine sehr wichtige Metakompetenz. Ähnlich wie die Lernfähigkeit und die Problemlösungskompetenz. Denn viele Probleme, vor denen wir wirtschaftlich und gesellschaftlich stehen, lassen sich mit den bisherigen Mitteln, also denen, die wir schon lange kennen und einsetzen, nicht mehr befriedigend lösen. Wir brauchen neue Werkzeuge, neue Ideen. Und um sie zu finden, brauchen wir kreative Menschen. Aber Kreativität wird, glaube ich, häufig missverstanden. Man stellt sich Personen vor, die den großen Pinsel schwingen und damit Geniales auf weißen Leinwänden erschaffen. Aber das geht am Kern vorbei:
Kreativität ist in erster Linie die Fähigkeit, unterschiedliche Ideen miteinander zu kombinieren, um zu einer neuen Erkenntnis zu kommen. Dieser Prozess erfordert Offenheit, Experimentierfreude und den Willen, Dinge miteinander zu verknüpfen, die vorher nicht verbunden waren.
Kunst ist also nur eine Form des kreativen Schaffens.
Aber der beschriebene Prozess erfordert natürlich auch ein Umfeld, das Kreativität zulässt, fördert und neue Ideen honoriert.
Damit sprechen Sie einen wunden Punkt an. Viele Führungskräfte unterscheiden weiterhin implizit zwischen „kreativen Jobs“ und … allen anderen Jobs. Dabei wissen wir, dass selbst Buchhalter ziemlich kreativ sein können. Man kann jeden Job kreativ machen, indem man ein grobes Ziel vorgibt, aber nicht den Weg dorthin. Es müssen einfach genügend Freiräume zur Verfügung stehen, um etwas auszuprobieren. Aber daran scheitern viele gut gemeinte Kreativitäts- und Eigenverantwortungsinitiativen.
Wovor haben denn die betroffenen Firmen Angst?
Vor Kontrollverlust. Sie haben Angst davor, dass gewohnte Prozesse unterlaufen oder infrage gestellt werden. In den in Deutschland betroffenen Firmenkulturen ist das iterative, ständige Optimieren des einen Geschäftsmodells aufgrund vergangener Erfolge so tief verankert, dass schlicht wenig Raum bleibt, um daran zu rütteln. Aber wenn wir links und rechts durch Disruption herausgefordert werden, bleibt am Schluss ohnehin nichts anderes übrig:
Entweder, die eigenen Mitarbeiter rütteln am Geschäftsmodell – oder die der Konkurrenz.
Über die Autorin
Yasmin Weiß ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule Nürnberg, Unternehmerin und Verwaltungsrätin in verschiedenen Unternehmen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind „Future Skills“ und „Future of Work“.