Persönliche Übergriffe in Unternehmen
Vor ein paar Wochen kam ein Unternehmen aus Südostasien auf mich zu. Sie wollten eine Beschwerde-Hotline für Beschäftigte aus der Produktion aufsetzen. Ihnen ging es vor allem darum, sexuelle Übergriffe zu verhindern und Frauen zu ermutigen, entsprechende Vorkommnisse zu melden. Lokale Anforderungen und kulturelle Aspekte hatten sie vor Ort bereits abgedeckt, wie sie schrieben. Zusätzlich wollten sie aber von den Erfahrungen eines gut aufgestellten Industriestandorts wie Deutschland profitieren, der den Ruf hat, es mit Prozessen sehr genau zu nehmen.
Das Erste, was mir durch den Kopf ging? Dass die deutsche Bilanz in dem Bereich bestenfalls durchwachsen ist. Und dass bei Compliance-Prozessen gute und weniger gute Abläufe oft zu ähnlichen Ergebnissen führen – und die sind alles andere als überzeugend.
Warum? Weil das Melden von Vorfällen nur der erste Schritt ist. Was passiert, wenn schon der nicht funktioniert, weil Beschäftigte sich nicht trauen, sich zu äußern, oder überzeugt sind, dass es eh keiner hören will, konnten wir in aller Ausführlichkeit beim Diesel-Gate in der Automobilbranche beobachten. Aber gerade bei persönlichen Übergriffen existiert nach meiner Erfahrung ganz oft ein zweites Problem: Dass der erforderliche zweite Schritt nach einer Meldung ausbleibt. Dass gemeldete Vorkommnisse also nicht ernsthaft untersucht werden bzw. keine angemessenen Konsequenzen folgen.
Sexuelle Grenzverletzungen am Arbeitsplatz
Springer GablerEin schillernd-schlechtes Beispiel dafür ist in Deutschland die Causa Bild-Zeitung bzw. die Posse um den ehemaligen Chefredakteur Reichelt: Trotz zahlreicher Hinweise auf persönliche Übergriffe hielt es die Verlagsleitung jahrelang nicht für nötig, den von Mitarbeiterinnen gemeldeten Vorfällen auch nur nachzugehen[1].
Weitverbreitete Verlustaversion
Ein derart eklatantes Versagen habe ich persönlich bei meiner Arbeit in und mit Unternehmen nie erlebt. Etwas anderes gab es aber immer wieder: dass falsches Verhalten entschuldigt wurde. Dann war das Ganze entweder nicht wahr („Ich kenne ihn, so was würde er nicht machen!“), nicht so ernst („Das hat er sicher nicht so gemeint …“ oder „Wahrscheinlich war die Situation einfach nicht so klar.“) oder – noch häufiger – konsequentes Handeln schien „zu teuer“. Meine Kolumnistinnen-Kollegin Gudrun Happich beschreibt einen ähnlichen Fall hier.
In diesen weit verbreiteten Fällen werden all die nimmermüde kommunizierten und angeblich tief verankerten „Führungskompetenzen“ derjenigen, die in der Verantwortung stehen, schnell mal eben über Bord geworfen. Weil der Beschuldigte ein erfolgreicher Vertriebler mit gewaltigen Umsätzen ist, weil er besonders innovativ ist – oder eine Leuchte in seinem Bereich. Ist eines dieser Dinge der Fall, scheint plötzlich der Preis für ein konsequentes Vorgehen zu hoch und man möchte ihn ungern bezahlen.
Statt klar zu den gerne verkündeten Werten zu stehen, wird der Vorfall – oder das Opfer – dann klein gemacht. Im Prinzip war ja ‚doch alles ganz anders‘, ‚nicht so schlimm‘ oder man lügt sich anderweitig in die Tasche.
Wie wir in dem Moment agieren, wenn es gilt, Position zu beziehen, hat jedoch Wirkung über den einzelnen Vorfall hinaus. Der Preis, den wir – wie auch Gudrun richtig schreibt – langfristig zahlen, liegt tendenziell weit über dem kurzfristigen Schaden, den wir so entschlossen zu vermeiden suchen. Unsere Verlustaversion – der Loss Aversion Bias – hindert uns schlicht daran, über den Augenblick hinauszudenken und zu berücksichtigen, welche weiteren Konsequenzen unser Handeln hat.
#Hundekot
„When the shit hits the fan“, das englische Pendant zu „Wenn die Kacke am Dampfen ist“, beschreibt den Moment, in dem ein vermeintlicher Einzelfall zur Katastrophe wird, die alle betrifft. Das ist an dieser Stelle ein besonders passender Übergang zum nächsten Beispiel. Denn nichts, was ich in über 30 Jahren in deutschen Konzernen erlebt habe, hat mich darauf vorbereitet, was gerade öffentlich diskutiert wurde: ob es in besonderen Situationen nicht doch okay oder zumindest nachvollziehbar sein könnte, jemandem Hundescheiße ins Gesicht zu schmieren.[2]
In Hannover ist genau das passiert: Der dortige (mittlerweile: ehemalige) Ballettdirektor der Staatsoper, ein „überragender Künstler“, wie ihm gemeinhin attestiert wird, ist einer missliebigen Kritikerin genau so begegnet. Und tagelang wurde öffentlich hin- und herdiskutiert, ob man über die #Hundekot-Attacke deshalb hinwegsehen dürfe bzw. ob die eher halbgare Entschuldigung des Direktors nicht doch ausreichte, um noch einmal Gnade walten zu lassen.
Die positive Seite der Geschichte? Der Öffentlichkeit bot sich hier die Möglichkeit, quasi live zu erleben, was sonst hinter verschlossenen Türen passiert: das Ringen von Kooperations- und Vertragspartnern um eine passende Reaktion, die möglichst wenig wehtut – beim Abwägen verschiedener Prioritäten.
Man konnte quasi minutiös nachvollziehen, wie schnell das Opfer aus dem Blick geriet und sich die ‚wichtigen‘ Fragen darum drehten, welche Konsequenzen die Angelegenheit für diejenigen hat, die über Macht und Entscheidungsbefugnisse verfügen.
Meine Meinung? Wenn Konsequenzen davon abhängig gemacht werden, wie nützlich uns jemand erscheint, von der Stellung einer Person, von ihrem Einfluss, dann sind einige gleicher als andere. Das ist in höchstem Maße unfair. Der Preis dafür ist hoch und ich finde, wir sollten ihn keinesfalls bezahlen.
Faire Standards setzen
Hier sind ein paar Tipps für Organisationen, die faire Standards anlegen wollen:
- Definieren Sie Standards und Regelungen unabhängig von Einzelfällen. Welche Konsequenzen hat welches Handeln? Wie werden sie umgesetzt?
- Spielen Sie mögliche Szenarien durch, in denen Ihnen eine faire Entscheidung schwerfallen könnte. Welche Aspekte machen es schwierig? Was können und müssen Sie tun, um trotzdem an definierten Standards festzuhalten? Bei der Diskussion oft hilfreich: Was sind Konsequenzen, wenn Sie es nicht tun? Wie kommt das an? Welche Narrative entwickeln sich? Wie wirken die sich aus?
- Nutzen Sie Ombudsleute: Oft ist es wirksamer, wenn ein externes Gremium kritische Fälle untersucht, weil (und wenn) es nicht den internen Bedenken unterworfen ist. Das Urteil entspricht dann eher konsistenten Standards und nimmt weniger Rücksicht auf interne Befindlichkeiten.
- Machen Sie Mitarbeitende zu Mitstreitenden: Adressieren Sie das Thema möglicher Übergriffe offensiv. Vermitteln Sie, in welcher Art von Situationen Sie sich wünschen, dass Beschäftigte intervenieren. Die oft beliebten und häufig belächelten Onlinetrainings sind dabei nicht besonders wirksam.
- Diskutieren Sie, wie mögliche – auch niederschwellige – Interventionen aussehen können, aber auch, was Menschen davon abhalten könnte, Solidarität zu zeigen. Adressieren Sie diese Barrieren.
- Um Vertrauen aufzubauen, ist Transparenz entscheidend.
Quellen und Links
[1] https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/reichelt-springer-105.html
[2] https://twitter.com/SibylleBerg/status/1625567264719179789
Nächste Schritte:
Weitere praktische Tipps und Tricks bietet Fair führen. Das Buch wurde mit dem getAbstract International Book Award 2020 ausgezeichnet. Laut Jury liefert es „nicht weniger als das erforderliche Rüstzeug für zukunftsfähige Unternehmen – eloquent, sachkundig und inspirierend.“