„Ruhe!“
Die Gedanken vibrieren, die Gesellschaft fiebert. Nervosität, wohin man sieht. Dem großen deutschen Historiker Joachim Radkau verdanken wir die Erkenntnis, dass allen Zeiten grundlegender Veränderung, den guten wie den schlechten, solche „nervösen“ Zustände vorangehen. Was der Geschichtswissenschaftler vor dem Ersten Weltkrieg erkannte, lässt sich auch in der gegenwärtigen Transformation erkennen.
Wohin es nach der Pandemie geht, mit der Digitalisierung, der Wende in Arbeit, Energie, Mobilität, wohin die globale Entwicklung geht, scheint völlig unklar. Ist zu viel Komplexität dran schuld? Oder einfach schlechte Angewohnheiten? Ich tippe auf Letzteres.
Die Bewohner der Konsumgesellschaft sind geübt im „Alles-haben-Wollen“. Überall gibt es was, das man gern hätte. Ein bisschen hier, ein wenig da. Versuche und Versuchungen überall. Nur: All das braucht einen Anfang und ein Ende, eine persönliche, individuelle Entscheidung. Wer alles will, kriegt nämlich nix. Keine Angst – das hat mit Moral nichts zu tun, sondern mit Vernunft. Die Häppchen machen nicht satt, sie hinterlassen uns hungrig, wir, die wir ständig nach Glück oder Erkenntnis suchen, die das schnelle Konsumieren – auch von Informationen und vermeintlichem Wissen – nicht bieten kann.
Der Konsumkapitalismus, das Kind der Industrialisierung, hat uns zu geistigen Diabetikern gemacht. Das gilt für den Konsum an Waren, Dienstleistungen, Services, an Erlebnissen ebenso wie an intellektueller Erkenntnis. Wir wissen nichts mehr richtig, weil wir zu viel auf dem Teller haben. Schulen überfrachten Kinder mit immer mehr Lehrstoff. Universitäten sind Wissensfabriken geworden, an denen es den Studierenden an Raum zum Experiment und Versuch mangelt.
Verschult und zugemüllt sind wir.
Wissensarbeit, also das, was eigentlich zu tun wäre, braucht aber vor allen Dingen Entscheidungen, Geduld, Ausdauer, Konzentration und Ruhe. Klar: In der Zeit, in der wir ein Buch gründlich lesen (und uns eigene Gedanken dazu machen), schaffen wir mindestens 40 Abstracts. Für die Zeit, die ein Diskurs mit Andersdenkenden braucht, kann man locker 50-mal die eigene Meinung in seiner Bubble bestätigt kriegen. Aber: Solche Leben sind dünn, ständig unterzuckert. Nervöse Menschen kommen dabei heraus. Und die werden ganz sicher nicht die Welt retten oder die Transformation hinkriegen. Albert Einstein hat es auf den Punkt gebracht: „Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.“
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erscheint der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede. Wie Vielfalt mehr Gerechtigkeit schafft. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.
Wissen holt nicht alle ab. Es nützt nur dann der eigenen Entwicklung, erst recht der Exzellenz, wenn dahinter die Bemühung steckt, mehr als nur die Oberfläche zu begreifen. Abstracts können dabei Wegweiser sein, die uns helfen, sich für den nächsten Abschnitt der Lernreise zu entscheiden. Aber die Reise selbst, das Buch, das Wissen, die Auseinandersetzung damit, ersetzen sie nicht. Erst recht nicht, was dieses Wissen in uns auslöst, wenn es zu einem Teil von uns wird.
Wissensarbeit braucht jene Wissensarbeiter, von denen Peter Drucker redet: Leute, die mehr über ihre Arbeit wissen als ihr Chef. Leute, die Zusammenhänge verstehen, einen Kontext herstellen können, weil sie von einem Abstract oder einem Klappentext, der ihnen Lust auf mehr machte, zum ganzen Buch übergegangen sind. Das eine, das Kurze, ist nur die Kostprobe. Was dann kommt, ist nicht nur das Menü eines ausgesuchten Buches, sondern die eigene Erkenntnis daraus. Die Fähigkeit, nicht bloß essen zu gehen, sondern selbst kochen zu lernen, so, wie es niemand anderes kann.
Das ist Wissensarbeit: Lest auch ganze Bücher! Konzentriert euch! Sortiert das Unwichtige aus! Denn wer alles haben will, kriegt am Ende nichts.
Was brauchen wir dafür? Eine Art Ritalin für die Transformation. Dieses Ritalin heißt: Stehen bleiben und gucken. Konzentration aufs Wesentliche. Schreit doch alle mal ganz laut „Ruhe!!!“ und schmeißt die Aktionisten, die Aufmerksamkeitsdiebe, die Störer der eigenen Wissensarbeit, aus dem Zimmer. Raus hier!
Es gibt einen guten Grund, warum von der Antike übers Mittelalter bis zur Neuzeit Menschen, die mit Kopfarbeit ihr Einkommen sicherten, Ruhe und Abgeschiedenheit suchten. In der Pandemie lernten wir, dass unsere „Homeoffices“ sehr oft nicht besser sind als laute Großraumbüros. Wissensarbeit hat mehr mit der Arbeit von Mönchen als der lauten Muskelbude der Fabriken zu tun.
Der nächste Schritt liegt auf der Hand: Der Umbau der für die Welt der Industrie und der Massenarbeit geschaffenen Welt von gestern in neue, menschengerechtere und nicht zuletzt ökologisch verträglichere Städte und Dörfer steht bevor. Genug zu tun für viele. Wenn wir uns darauf konzentrieren, das Wesentliche zu erkennen – und diese Erkenntnisse auch mit anderen teilen –, wird alles gut.
Das Credo für 2022 sollte deshalb lauten: Leiser leben. Lauter denken.
Nächstes Mal: Rauchende Köpfe. Die Colts der Wissensgesellschaft.