„Jeder hat das Recht, sich Hilfe zu suchen. Reden kann enorm helfen.“
Frau Schiftan, wie definieren Sie „psychische Gesundheit“?
Ronia Schiftan: Wie die WHO sagt, ist Gesundheit ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. Wir müssen uns daher von Kategorien wie „gesund“ und „krank“ lösen. Wichtig ist, dass wir Gesundheit als Prozess verstehen, das heißt: Wir sind nicht einfach gesund oder krank, sondern bewegen uns auf einem Strahl, mal etwas mehr in Richtung hohen Wohlbefindens, ein anderes Mal geht es uns etwas weniger gut. Unser psychisches Wohlbefinden erlebt eine konstante Entwicklung. Es gibt Belastungen, die unser Wohlbefinden runterziehen und Faktoren, die uns helfen, dass wir uns sehr wohl fühlen. Diese Aspekte sind individuell. Aktuell gibt es zum Beispiel Menschen, denen hilft die Ruhe im Homeoffice, andere erleben das fehlende Team als Belastung.
Dureschnufe.ch war Ihre Idee – wie und warum kamen Sie auf den Gedanken, diese Plattform zu gründen?
Auf der ganzen Welt sind die Belastungen, denen die Menschen ausgesetzt sind, durch die Corona-Pandemie immens gestiegen. Die Menschen haben Angst, sind in Sorge und wissen nicht, wohin sie sich damit wenden sollen oder können. Als Psychologin habe ich das natürlich auch direkt erfahren, so dass Mitte März die Idee aufkam, ein kostenloses Angebot bereitzustellen, wo Betroffene auf der einen Seite Tipps und Tricks für den Alltag, auf der anderen aber auch hilfreiche sowie unterstützende Angebote für diese herausfordernde Zeit finden.
Was ist Ihr konkretes Ziel?
Bei uns in der Schweiz gibt es zahlreiche Angebote und Anlaufstellen, die unterstützen, wenn es einem in einem gewissen Lebensbereich nicht gutgeht. Mit der Plattform machen wir diese Angebote endlich sichtbar. Auf der anderen Seite soll sie den Menschen die Angst nehmen, sich Hilfe zu holen, um Unterstützung zu bitten. Denn:
Das, was eigentlich normal ist, nämlich um Rat und Hilfe zu bitten, fällt vielen Menschen schwer.
Ronia Schiftan
In welchen Lebensbereichen erleben die Menschen derzeit die meisten Einschnitte? Wo sind Ängste und Sorgen am größten?
Das ist schwer zu sagen. Jeder erlebt die derzeitige Situation anders. Es gibt Menschen, die für die Entschleunigung dankbar sind und es genießen, nicht mehr gehetzt von Termin zu Termin zu rennen. Doch es gibt natürlich auch sehr viele Menschen, die die Situation belastet. Gerade dort, wo es schon vor der Pandemie Probleme gab, verschärft sich nun die Lage. Beispiele: Finanzielle Schwierigkeiten oder auch eine schon vorher beengte Wohnsituation werden durch Verdienstausfälle und Home Office und Home Schooling nicht einfacher.
Abstracts zum kostenlosen Download
Gerne möchten auch wir als getAbstract Sie dabei unterstützen, durch diese herausfordernde Zeit zu kommen. Wir stellen Ihnen deshalb eine Auswahl unserer besten Abstracts zum Thema bis zum 17. Januar 2021 kostenlos zum Download zur Verfügung:
Gibt es gewisse Altersgruppen, die eventuell mehr leiden?
Zu Beginn ging man immer davon aus, dass gerade die ältere Bevölkerung unter den Maßnahmen leide. Es zeigt sich aber immer öfter, dass es gerade auch Jugendliche und Kinder sind, die die Situation belastet. Hier steht vor allem der fehlende soziale Austausch mit Freunden im Mittelpunkt. Dieser ist ja teilweise ganz weggefallen, und wo er möglich ist, müssen viele Regeln beachtet werden. An ein sorgloses Miteinander wie vor Corona ist aktuell nicht zu denken. Und zuhause? Dort hockt man beengt mit seinen Liebsten, zum Teil schon seit Monaten – auch das birgt enormen sozialen Zündstoff.
Wie kann Dureschnufe.ch hier helfen?
Auf unserer Webseite finden sich verschiedene Themen-Cluster, die nach bestimmten Lebensbereichen oder gewissen Lebenssituationen organisiert sind. Familie, Home Office, Isolation, Medienflut oder Finanzielles sind nur einige Beispiele. Für jedes Cluster haben wir alltagstaugliche Tipps und Tricks bereitgestellt. Wir verlinken zudem zahlreiche Angebote von Organisationen, Stiftungen und Beratungsdienstleistungen – wie eben auch von getAbstract. Uns geht es vor allem darum, die Menschen zu motivieren, Angst und Sorge nicht allein mit sich auszumachen, sondern sich wirklich Unterstützung zu suchen, wenn es irgendwo harkt. Lieber zu früh als zu spät.
Sie meinen Verschleppung nach dem Motto „Mir geht es nicht gut, aber noch nicht schlecht genug“ oder „Da sind andere doch sicher schlimmer dran…“?
Genau das!
Die Menschen denken immer, man müsse erst am Abgrund stehen, um Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen. Das ist absoluter Quatsch.
Ronia Schiftan
Je früher man sich Hilfe sucht, desto einfacher ist es. Über Ängste und Sorgen zu sprechen, ist gerade jetzt lebensnotwendig. Es braucht den Austausch mit anderen über das, was gerade mit uns passiert. Wir sind schließlich alle mit der gleichen Situation konfrontiert – doch jeder erlebt sie anders. Darüber müssen wir reden.
Was kann ich also konkret tun, wenn daheim der Lagerkoller ausgebrochen ist?
Darüber reden, miteinander reden – und auf externe Hilfe zugreifen. Für Kinder gibt es in der Schweiz beispielsweise das Sorgentelefon, und für Eltern die Elternberatung. Auch Pro Juventute hat für Familien sehr hilfreiche Angebote. Ich selbst finde zudem die deutsche Initiative Familien unter Druck sehr informativ. Wichtig ist, dass die Familie sich austauscht und jeder zu jeder Zeit sagen kann, wie es ihm geht. Auch sollte jeder in der Familie die Chance bekommen, sich auch mal zurückzuziehen. Das gelingt auch in kleinen Wohnungen, wenn man gemeinsam einen Plan erstellt und im wahrsten Sinne des Wortes Frei-Räume schafft. Für alleinlebende Paare gilt das übrigens auch: Auch hier kann es knallen, wenn beide den ganzen Tag zuhause sind. Stichwort: Home Office.
Stichwort Finanzen? Was raten Sie hier?
Ich weiß, dass gerade das Thema Geld für viele eine Privatsache ist. „Über Geld spricht man nicht“ – dieses ungeschriebene Gesetz befolgen viele Menschen ganz intuitiv. Doch auch beim Thema Finanzen gibt es Hilfe, die schnell in Anspruch genommen wirklich helfen kann. Ich meine damit nicht nur etwaige Entschädigungen durch den Staat, etwa bei Lockdowns mit wirtschaftlichen Folgen, wo sich die Situation immer wieder ändert und wir versuchen, die Übersicht zu behalten. Dureschnufe gibt vor allem Tipps mit Blick auf den Umgang mit der Situation. Denn Geldsorgen führen immer zu Existenzängsten. Diese können real sein, in manchem Fall entstehen sie aber auch durch falsche Annahmen. Wenn, dann… – Schreiben Sie in diesem Fall am besten Ihre Ängste auf und überlegen Sie, wie Sie diese Themen angehen können. Schaffen Sie Transparenz in Ihren Finanzen und nehmen Sie zum Beispiel das Angebot der Caritas Budgetberatung oder auch die Schuldenberatung an.
Was ist mit therapeutischen Angeboten? Vernetzen Sie auch zu Ärzten, Medizinern und psychologischem Fachpersonal?
Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir vernetzen zu den Verteilern, also Netzwerken wie dem FSP, ASP oder dem SBAP. Hier kann jeder gezielt nach Fachpersonen in seiner nahen Umgebung suchen.
Sie raten auf Ihrer Plattform auch zu einem kritischen Umgang mit den Medien. Wie sieht der konkret aus?
Bleiben Sie maßvoll und wählerisch. Entscheiden Sie sich am besten für zwei, drei vertrauenswürdige Medienkanäle, über die Sie sich informieren wollen. Und im besten Fall definieren Sie auch einen Zeitpunkt am Tag, wann Sie sich informieren wollen.
Stundenlang vor dem Liveticker zu sitzen oder die Medien komplett zu ignorieren – das ist beides keine gute Lösung.
Ronia Schiftan
Im ersten Fall werden Sie irgendwann kirre, im zweiten werden Sie wichtige Informationen zu beispielsweise neuen Maßnahmen nicht erreichen. Hinterfragen Sie zudem bei jeder News, wer diese publiziert hat und worum es sich handelt. So kann eine Nachricht zwar von einem ausgewiesenen Experten stammen, aber vielleicht ist es nur seine persönliche Meinung, und es handelt sich nicht um – durch Studien belegte! – Fakten. Nachrichten erzeugen auch immer Emotionen, daher ist es wichtig, dass Sie auch hier über das Gelesene, das Gesehene, Gehörte sprechen und so ein Ventil finden, Ihre Gefühle auch herauslassen zu können.
Was kann ich für meine psychische Gesundheit tun, wenn ich mich in Isolation befinde?
Dass man gefrustet ist, wenn man zehn oder 14 Tage allein sein Dasein fristen muss, ist klar. Wer jedoch über ein gutes soziales Netzwerk verfügt, übersteht diese Zeit in der Regel recht gut. Man kann mittels digitaler Kanäle zur Außenwelt Kontakt halten, Freunde oder Familie versorgen einen mit Lebensmitteln und eventuell Medikamenten – oder auch kleinen persönlichen Aufmerksamkeiten. Schwieriger ist es in der Regel für diejenigen, in deren Leben solche engen Sozialstrukturen fehlen. Die schon vorher „einsam“ waren. Schwierig wird die Isolation, wenn Sie zu einer verstärkten Einsamkeit führt. Wenn Sie sich besonders allein fühlen, hilft es manchmal, Projekte anzugehen, also Dinge zu tun, die daheim möglich sind, die man aber bislang immer vor sich hergeschoben hat: Ausmisten, Streichen, etwas Nähen, ein Buch schreiben… Jeder von uns hat doch irgendwo eine – vielleicht geheime – Bucket List. Wie wäre es, etwas Neues zu lernen? Oder: Gründen Sie eine Telefonkette, probieren Sie das Angebot von Binenand aus. Hier wird man anonym und kostenlos mit anderen Gesprächspartner verbunden.
Was passiert mit Dureschnufe.ch, wenn sich die Situation in irgendeiner Art und Weise wieder beruhigt hat?
Dann werden wir die Seite wohl schließen. Als wir damals im März angefangen haben, hatte ich die Annahme, dass wir das nach meinem Mutterschaftsurlaub im September bereits hätten tun können. Stattdessen haben wir zu diesem Zeitpunkt die Inhalte aktualisiert und neue Angebote ausgeschalten. Doch wir hoffen weiter, dass wir mit Dureschnufe.ch irgendwann wieder offline gehen können und es das Angebot nicht mehr benötigt. Bis dahin sind wir für die Menschen da.
Und wenn die Frage zum Schluss erlaubt ist: Welche Angebote von Ihrer Plattform nehmen Sie persönlich wahr?
Ganz viele. Wir sind alle nur Menschen, und auch für mich ist die Situation herausfordernd. Ich versuche etwa, die 10 Schritte für psychische Gesundheit vom Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz zu beherzigen. Zudem arbeite ich an meiner Medienkompetenz und schaue, dass ich mich gezielt und ausgewählt informiere. Das Wichtigste für mich ist aber meine Familie und mein soziales Umfeld. Dafür will ich mir ganz bewusst Zeit nehmen.
Info
Ronia Schiftan hat einen Master in Angewandter Psychologie mit Schwerpunkt Medien, Arbeits- und Organisationspsychologie. Ihre Fokusthemen sind: Medien- und Ernährungspsychologie. Ihre Tätigkeitsfelder finden Sie auf ihrer Webseite.
Alle Journal-Artikel zum Thema Coronavirus-Pandemie finden Sie unter diesem Link.