Als die Welt zum Stehen kam
Die Corona-Krise traf die meisten von uns völlig unvorbereitet. Sie war nicht gewählt und nicht gewollt. Eine jener kalten Duschen des Lebens, die unseren Planungsverstiegenheiten und unserem Machbarkeitsdenken hohnlachen. Sie hat uns also in mehrfacher Hinsicht die Grenzen unserer Freiheit aufgewiesen.
Aber innerhalb dieser Bedingung bleiben wir trotzdem frei. So können wir uns nicht dem Gedanken verschließen, dass wir verschiedene Wahlmöglichkeiten haben, auf dieses Ereignis zu reagieren. Dass Unvorhersehbares passiert, mag nicht unsere freie Wahl sein. Wie wir darauf reagieren, schon.
Mir fiel in der langen Weile des Lockdowns das „Carpe diem!“ des Horaz ein, das ehedem in Peter Weirs Film „Der Club der toten Dichter“ eine späte Wiedergeburt erfuhr. Es meint das Sich-Entschließen für den Augenblick, ob er uns gefällt oder nicht. Wir können uns entschließen, das zu bejahen, was uns widerfuhr, um uns dadurch zu er-schließen, was vorher verschlossen war. Zum Beispiel: Viel Zeit für weniger Bedürfnisse? Oder, mit Henri Bergson gesprochen, von der Leere Gebrauch machen, um die Fülle zu denken?
Für dieses „Ja!“ zu einer Situation, die keineswegs immer dem Wünschbaren entspricht, hat sich im deutschen Sprachraum das englische Wort „Commitment“ eingebürgert. Es meint „Selbst-Verpflichtung“, nicht Verantwortung anderen gegenüber. Es meint die Zustimmung zum Nicht-Perfekten, zur Vizelösung, zum Kompromiss, zum Anerkennen des Jetzt-nicht-ändern-Könnens. Und zur Möglichkeit des Immer-wieder-Aufstehens, des Neubeginns.
Wer seine berufliche Existenz bedroht sieht und zur Untätigkeit verdammt ist, dem wird dieser Gedanke schwer fallen. Aber am Grundsätzlichen ändert sich nichts.
Denken Sie an Howard Schultz, der sich beim Überprüfen seiner Verkaufslisten darüber wunderte, dass eine kleine, gerade mal vier Läden umfassende Firma große Mengen Kaffeemaschinen bei seinem Unternehmen bestellte und offenbar zusammen mit dem Kaffee verkaufte, nach Seattle flog, sich um ein Job bei der Firma bewarb, abgelehnt wurde, sich 14 Monate lang einmal wöchentlich telefonisch in Erinnerung brachte, endlich den Job bekam, sofort weitere Espresso-Bars in Kaufhäusern eröffnete, von den Inhabern deswegen gefeuert wurde, bei 242 Kapitalgebern vorsprach, von 217 abgewimmelt wurde, mit dem Geld der restlichen eine eigene Coffee-Shop-Kette eröffnete, den Wettbewerb gewann und schließlich das Unternehmen kaufte. Es heißt Starbucks.
Oder an Abraham Lincoln, der mit 31 Jahren sein Unternehmen in die Pleite fuhr, seinen ersten Wahlkampf mit 32 verlor, abermals bankrott ging mit 34, seine Jugendliebe mit 35 beerdigte, Wahlkämpfe mit 43, 46 und 48 Jahren verlor, die Senatorenwahl mit 55 und die Wahl zum Vizepräsidenten mit 56 – er wurde mit 60 Jahren einer der größten Präsidenten der USA.
Um gut durch diese Zeit zu kommen, mussten (und müssen) wir bereit sein, voll zu dem zu stehen, was jetzt ist. Nicht weil das „richtig“ wäre. Nicht weil alles so toll ist. Im Gegenteil: Commitment ignoriert keineswegs das, was fehlt. Commitment hat einen klaren Blick dafür, dass Situationen fairer, besser bezahlter, sonniger, reibungsloser, erfolgreicher, zukunftsfreudiger, freier sein könnten. Aber es sagt:
Wenn es so ist, wie es ist, dann geht es jetzt da lang!
Reinhard K. Sprenger
Ich habe die Zeit genutzt, um Songs und Texte zu schreiben. Einen habe ich aufgenommen – im Kleiderschrank, gesungen mit Handtuch über Kopf und Mikrofon. Nur so liess sich der Raumhall unterdrücken. Nachfolgend das Ergebnis.
Als die Welt zum Stehen kam
Songtext
Die große Leere, die wir alle plötzlich füllen sollten
Die große Stille, die wir alle gar nicht hören wollten
Das große Schulfrei, das wir alle nicht erträumen sollten
Die große Freiheit, die wir unfrei gar nicht feiern wollten
Da war der Leerlauf, der leer lief, um auf Trab zu bleiben
Die große Nähe, zu nah sich nicht an ihr zu reiben
Da war die Uhr, sie wollte nicht die Zeit vertreiben
Da war die Zeit, genug um diesen Song zu schreiben
Plötzlich war nichts mehr, wie es mal war
Am Tag als die Welt zum Stehen kam
Die große Enge, der wir alle nicht entrinnen konnten
Das große Heute, das wir alle nicht geniessen konnten
Das große Langsam, das wir alle uns nicht vorstellen konnten
Das große Jetzt, das wir nur leben konnten
Plötzlich war nichts mehr, wie es mal war
Am Tag als die Welt zum Stehen kam
Wir staunen rückwärts, wundern uns zurück:
Was ist Betrieb und worin besteht das Glück?
Was ist wichtig, was ist nur peripher?
Was dient dem Menschen, was ist sinnloser Verkehr?
Die Welt ist wieder jung und voller Tatendrang
Das war nicht das Ende, wir fangen gerade an
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