Gendern ohne Sonderzeichen
In einem entrüsteten Kommentar machte sich kürzlich der Wirtschaftsphilosoph Michael Andrick in der Berliner Zeitung Luft. Im Wunsch, verschiedenen Menschen sprachlich Sichtbarkeit zu verschaffen, sah er den „moralischen Grundsatz gegenseitiger Rücksicht unter Gleichwürdigen“ verletzt. Aufs Schärfste verwahrte er sich gegen „Erwachsene [, die sich] gegenüber anderen Erwachsenen ungebeten als Sprecherzieher aufspielen“. Ich habe auch eine klare Meinung zu diesem Thema. Allerdings erweckt es bei mir – wie bei vielen anderen Menschen, denen eine geschlechtergerechte Sprache wichtig ist – nicht annähernd so starke Emotionen.
Es wäre mir ein Rätsel, wie das Thema zu solchen Gefühlswallungen führen kann, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, dass es eigentlich um etwas anderes geht. „Die Art und Weise, wie sich Geschlechter in dieser Gesellschaft begegnen, und dass auch dritte Geschlechter sich äußern und sagen, wir lassen uns nicht einzwängen in eine binäre Logik von Mann und Frau, hat natürlich ein riesiges Irritationspotenzial“, weiß Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität. Nur auf dieser Basis ließen sich die Affekte, die mobilisiert werden, erklären.[1]
Das unterstreicht auch das Eckpunktepapier für eine „Hessenkoalition der Verantwortung“,[2] das CDU und SPD nach der Landtagswahl in Hessen formulierten.
Eines der maßgeblichen Themen? Gendersensiblere Sprache soll nach Möglichkeit untersagt bzw. unterbunden werden.
Im Dokument ist der Wunsch bereits umgesetzt und es macht deutlich, dass die Verantwortlichen eher „klassischen“ Rollenmustern anhängen: Bei ihnen sind „Bürger“ mündig und tragen finanzielle Belastungen, „Lehrer“ unterrichten an Schulen, „Polizisten“ sorgen für Sicherheit. Interessant wird es, wenn – oder wann – das Papier vom generischen Maskulinum abweicht. Da zeigt sich, dass sich die beteiligten Parteien offensichtlich durchaus bewusst sind, dass Geschlechterstereotype unsere Wahrnehmung beeinflussen. Dass es nicht egal ist, was wir sagen. Dass wir konkret werden müssen, wenn wir Optionen aufzeigen und unterschiedliche Menschen sichtbar machen wollen. Entsprechend möchten CDU und SPD die bezahlte Ausbildung für „Erzieherinnen und Erzieher“ weiterentwickeln.
Der Kosmetiker: eine Frau?
Warum eine solche Formulierung wichtig ist, wird besonders deutlich, wenn man Deutsch und Englisch vergleicht. In Ermangelung eines grammatischen Geschlechts prägen im Englischen bei Berufen stereotype Vorstellung die Erwartungen. Experimente belegen, dass wer von einem „doctor“, „lawyer“ oder „expert“ hört, an einen Mann denkt; bei „nurses“, „medical assistant“ oder „receptionist“ erscheint eine Frau vor dem geistigen Auge.
Spannend: Obwohl es auch im deutschsprachigen Raum klare Vorstellungen von „Männer- bzw. Frauenberufen“ gibt, radiert das grammatikalische Geschlecht stereotype Assoziationen aus[3].
Wer beispielsweise von Kosmetikern oder Grundschullehrern hört, denkt – trotz stereotypisch ‚weiblicher‘ Tätigkeit – an einen Mann, und kommt bestenfalls nach einigem Nachdenken darauf, dass auch Frauen gemeint sein könnten.
Die Formulierung im Papier ist daher wichtig und richtig. Wäre ja nicht opportun, den Eindruck zu erwecken, nur Männer sollten die Ausbildung bezahlt bekommen. Nur würde ich mir diese Genauigkeit auch an anderen Stellen wünschen.
Wo Frauen in den Eckpunkten des CDU/SPD-Papiers sonst dediziert vorkommen? Als Opfer männlicher Gewalt, die durch ein „Frauensicherheitspaket“ mit „Fußfesseln für Frauenschläger“ und die „Förderung von Frauenhäusern“ geschützt werden sollen.
Worum wird hier eigentlich gestritten?
Während ich höhere Finanzhilfen für Frauenhäuser aus vollem Herzen begrüße, ist es ein ziemlich trauriges Gesellschaftsbild, das durch das Papier entsteht. Gleichzeitig unterstreicht es, worum es bei der Debatte eigentlich geht: Nicht um ein paar Satz- oder Sonderzeichen.
Mit der grundsätzlichen Veränderung der Geschlechterverhältnisse geht ein neues Austarieren von Machtverhältnissen einher. Mit dieser Entwicklung tun sich unterschiedliche Menschen verschieden schwer.
„Gegenwärtig hat sich in so vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen so viel verschoben“, so Lessenich weiter, „dass wir gehalten sind, tiefer zu schauen und zumindest die Möglichkeit zu geben, zu verstehen, worum hier eigentlich gestritten wird. Und das ist in der Regel nicht das, was behauptet wird.“
Was tun?
Wenn Sie sich an Sonderzeichen stören, probieren Sie folgende Alternativen aus:
- Das geht mit geschlechtsneutralen Formen (Mensch, Person, Mitglied, Elternteil)
- Durch die Nutzung von Institutions-, Funktions- bzw. Kollektivbezeichnungen (Sekretariat, Leitung, Vertretung).
- Alternativ formulieren Sie Texte um, nutzen unpersönliche Pronomen (diejenigen, alle, wer usw.) oder verwenden die Mehrzahl (zum Beispiel „Alle, die …“, „Personen, die …“).
- Eine weitere Möglichkeit ist die Nutzung von Adjektiven statt Nomen – also zum Beispiel „beratende Tätigkeit“ – oder von Passivformen: „Nach dem Absolvieren des Seminars sind alle berechtigt, …“ „Sie sind engagiert und erfahren …“.
Selbst der gern zitierte Rat für deutsche Rechtschreibung erkennt übrigens die Notwendigkeit an, Lösungen für eine geschlechtergerechte Sprache zu finden, auch wenn er die Nutzung von Sonderzeichen aktuell nicht empfiehlt. Warum also nicht mit dem, was wir haben, arbeiten? Es gibt zahlreiche Alternativen, die mit ein bisschen Übung leicht über Lippen oder Tasten gehen.
Diversity & Inclusion in Strategie und Kommunikation
Springer GablerUnd wenn es Ihnen um mehr geht? Nun: Die Welt hat sich verändert. Gewöhnen Sie sich dran.
Quellen:
[1] 100 Jahre Institut für Sozialforschung / Interview mit Prof. Lessenich | Aktuelles aus der Goethe-Universität Frankfurt (uni-frankfurt.de)
[2] https://www.cduhessen.de/data/documents/2023/11/10/2835-654e288a21fe2.pdf
[3] (PDF) Gender Representation in Different Languages and Grammatical Marking on Pronouns: When Beauticians, Musicians, and Mechanics Remain Men (researchgate.net)
Nächste Schritte:
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