Respekt!
Kürzlich rief mich nach einer Uber-Eats-Bestellung ein Geschäftsführer an und brüllte in den Hörer: „Sie haben immer noch nicht auf den Button ‚Essen ist da‘ gedrückt!?“ Ich erwiderte, dass dies keine Pflicht sei. Er wurde noch lauter, begann mich zu beschimpfen. Ich legte auf. Wenige Tage danach wurde ich im Zug als „Blöde Kuh“ und „Dreiste Schl…“ bezeichnet. Dabei hatte ich mich nur auf einen freien Platz gesetzt. Doch der Herr gegenüber – ca. 60 Jahre alt, gerade ebenfalls erst eingestiegen – meinte, da säße seine Frau. Ich fragte höflich nach der Reservierung. „Hab ich nicht, ist aber egal. Da sitzt meine Frau.“ Ich blieb, nun aus Prinzip, sitzen. Hätte er höflich gefragt, wäre das anders gelaufen. Aber sein Tonfall weckte in mir Trotz, seine dann folgende Wortwahl gar die Fassungslosigkeit. Dass alle Anwesenden still den Kopf schüttelten, half auch nicht wirklich.
Einige werden jetzt vielleicht sagen, dass die Welt schon immer ein Ort voller Egoistinnen und Egomanen war. Ich finde das nicht. Irgendwas ist passiert in den letzten Jahren. Und es ist nicht gut für unser Miteinander. Welche Gründe gibt es wohl für diese Verhaltensänderung so vieler Menschen? Wo ist sie hin, die Integrität der Bürgerinnen und Bürger?
Ein Grund für diesen – darf man das sagen? – Sittenverfall ist in meinen Augen der zunehmende Druck, der auf den Schultern der Menschen lastet oder von dem sie glauben, dass er auf ihnen laste. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen gehen auf dem Zahnfleisch, wissen nicht mehr, wie sie das Leben lebenswert bestreiten sollen. Viele hassen ihren Job, ein Großteil hat Geldsorgen, und das sogar trotz Arbeit. Dazu kommen die vielen privaten Herausforderungen. Das macht auf Dauer zuerst psychisch und dann auch physisch krank.
Integri… was?
Sicher gibt es immer noch so etwas wie kollegiales Miteinander – im Arbeits- und im privaten Alltag. Gott sei Dank. Aber grundsätzlich nehmen Dinge wie Rücksichtslosigkeit, Ellenbogenmentalität und Neid zu. Jährlich erhebt Ipsos Daten zur Gesundheit der Menschen, und das letzte Ergebnis sollte uns aufhorchen lassen:
In 31 Ländern betrachten die Menschen die allgemeine psychische Gesundheit als das größte Gesundheitsproblem ihres Landes. Die meisten sehen dabei Stress als Ursache.
Klar und verständlich: Unter Stress getroffene Entscheidungen sind wenig durchdacht und verstoßen in vielen Fällen gegen die eigene Moral. Es sind kurzfristig getroffene Entscheidungen und kurzsichtige Handlungen, die aber langfristig Schaden anrichten. Und je länger man unter Stress steht und solche Entscheidungen trifft – oder: treffen muss –, desto schlechter fühlt man sich deshalb. Und wissen Sie was? Der anderen Seite geht es nicht anders.
Seinem Ärger mal Luft zu machen, ist im ersten Moment ein gutes Gefühl. Es hat aber in aller Regel negative Nach- oder vielmehr Auswirkungen: Beziehungen werden zerstört, Vertrauen schwindet, andere fühlen sich unfair behandelt – oder man steht im Zug, obwohl man hätte sitzen können. Im privaten Umfeld schrumpft der Freundeskreis, Familien zerfallen. Im Job bedeutet das: Die Unternehmenskultur leidet, das Arbeitsklima wird verpestet und die Motivation verabschiedetet sich. Es lohnt sich nicht, das einfach hinzunehmen. Deshalb:
Lernen wir wieder, die Goldene Regel zu beherzigen: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Sehr banal, ich weiß. Doch es trifft die Sache in ihrem Kern. Wer es komplizierter mag: Hier ist die Rede von Respekt und Integrität. Denn Respekt vor anderen beginnt beim Respekt vor sich selbst, und dieser nennt sich Integrität. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass man sie nie an der Garderobe abgibt. Weder am Arbeitsplatz noch im Privaten. Und schon gar nicht im Eurocity.
Schon Aristoteles betrachtete die Integrität als eine Tugend. Er betonte, dass eine Person, die integer handelt, in Einklang mit ihren (moralischen) Überzeugungen und Werten lebt und handelt und dass die Integrität ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeit ist. Immanuel Kant ging einen Schritt weiter und betrachtete Integrität sogar als eine moralische Pflicht, die sich aus der Vernunft ergibt. Er betonte auch, dass eine Person, die integer handelt, ihre moralischen Prinzipien selbst dann nicht aufgeben sollte, wenn dies kurzfristig zu einem Nachteil führt.
Sartre betrachtete die Integrität später gar als Form der Freiheit, die eine Identitätsbildung nicht nur zulässt, sondern überhaupt erst möglich macht.
Denn die Tugend macht, dass das Ziel richtig wird, und die Klugheit, dass der Weg dazu richtig wird.
Aristoteles
Es liegt auf der Hand, dass das Prinzip deshalb auch in der Erziehungswissenschaft eine große Rolle spielt: Integrität wird hier ebenfalls als eine wichtige Komponente der Charakterbildung betrachtet, die dazu beitragen kann, dass Kinder zu verantwortungsbewussten und ethischen Menschen heranwachsen.
Auch große Kinder brauchen aber offenbar seit jeher Nachhilfe in dieser Sache: In der modernen Managementliteratur wird Integrität als eine der wichtigsten Eigenschaften von Führungskräften angesehen, wenn es darum geht, das Vertrauen der Mitarbeitenden zu gewinnen und eine positive Unternehmenskultur zu schaffen – und zu erhalten. Ein Beispiel für integres Handeln in der Praxis ist, wenn Führungskräfte sich an ethische Standards halten, auch wenn dies kurzfristig zu einem finanziellen Verlust führen kann.
Dass das oft nicht passiert und dann zu einem gesellschaftlichen Aufschrei führt – vom VW-„Dieselgate“ bis zum „Dinobabies“-Skandal des „Mehrgenerationen“-Unternehmens IBM –, zeigt, dass das Thema sehr wohl großen Teilen unserer Mitmenschen nicht egal ist, aber aktuell vor allem ein direkt zwischenmenschliches Schattendasein fristet.
Integer führen
Wer das, nicht nur in Vorweihnachtsreden, ändern will, ist als Führungskraft in der richtigen Position dazu. Denn:
Wahrscheinlich macht die Verfolgung ethischer Ideale unsere Gesellschaft erst zu einer wirklich menschlichen Gesellschaft.
Thomas Wilhelm
Deshalb:
- Seien Sie Vorbild: Integrität vermitteln Sie, indem Sie selbst integer sind. Handeln Sie im Einklang mit Ihren Werten und richten Sie Entscheidungen an ethischen Prinzipien aus. Wenn Sie Respekt zeigen, können Sie auch Respekt einfordern – und wenn Sie Sicherheit leben, fördern Sie damit die Sicherheit im Team.
- Kommunizieren Sie transparent: Vertrauen entsteht durch offene und ehrliche Kommunikation. Erklären Sie Entscheidungen, kommunizieren Sie Ihre Gedanken, wenn Sie Ja oder doch Nein sagen. Geben Sie der anderen Seite den Raum, Sie zu verstehen.
- Etablieren Sie Integrität als Teil der Unternehmenskultur: Leitbilder, Schulungen und Verhaltenskodizes sind Dinge, die viele Führungspersonen vor allem als lästige Angelegenheiten links und rechts der Stufen ihrer Karriereleiter wahrnehmen. Wer aber aktiv an ihrer Gestaltung teilnimmt, weil verstanden wurde, dass zum Beispiel eine Unternehmenskultur, die auf „Respekt“ setzt, erfolgreicher ist als eine, die auf „Incentives“ setzt, hilft nicht nur einer Organisation, sondern jeder und jedem ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
- Üben Sie Empathie: Wer das Gegenüber schätzt und fremde Meinungen als solche akzeptiert, arbeitet problemloser mit anderen zusammen – und hat deshalb auch weniger Stress. „Respektvolle Zusammenarbeit“ bedeutet aber auch, Kritik üben zu dürfen. Allerdings auf Augenhöhe und nicht unter der Gürtellinie.
- Fehler: Reflektieren Sie Ihr Verhalten, geben Sie Fehler zu und lernen Sie aus ihnen. Auch dabei wird sich mancher Kollege etwas bei Ihnen abschauen. Und wenn er es nicht tut, spricht sich das verdammt schnell rum!
Und denken Sie daran: In einer komplexen Welt voller Herausforderungen ist Integrität ein entscheidender Faktor für das Aufbauen von nachhaltigen Beziehungen. Gelebte Integrität schafft psychologische Sicherheit im Vorbeigehen, und in Zeiten, in denen sich offenbar immer weniger Menschen an die „Goldene Regel“ erinnern, sorgt sie auch für Zuspruch: Nachdem der Herr schnaubend abgezogen war, sich nun vermutlich irgendwo im Eurocity bei Tempo 180 an eine Haltestange klammern musste, lehnte sich eine (noch) ältere Dame vom Nachbar-Viersitzer zu mir herüber, schaute lächelnd über ihre Brillengläser und sagte mit einer Kopfbewegung in seine Richtung: „Hach, die Jugend von heute – einfach keinen Anstand mehr!“