„Führungskräfte müssen die Welt mit den Augen anderer sehen können.“
Frau Eberhardt, vor sieben Jahren schrieben Sie Ihr Buch Generationen zusammen führen. Was würden Sie heute aktuell in Bezug auf Diversität und Generationsmanagement einfügen oder auch weglassen?
Daniela Eberhardt: Die Generation Z ist angekommen in der Berufswelt, die Babyboomer werden bald aussteigen – bzw. sie tun eben das nicht. Der Fachkräftemangel ist mittlerweile so groß und betrifft alle Berufsgruppen, dass es jeden Arbeitnehmer braucht, um hier Lösungen zu finden. In der Erstauflage habe ich noch geschrieben, dass die ältere Generation in Sachen Digitalisierung der Arbeitsplätze im Nachteil sei. Doch das ist seit Corona anders. Durch die Pandemie konnten Mitarbeitende aller Generationen umfassende Erfahrungen mit Remote-Arbeit, Homeoffice, digitaler Zusammenarbeit und flexiblen Arbeitsmodellen sammeln.
Braucht es nicht vielleicht gerade jetzt die Erfahrung der Älteren, um der Planlosigkeit, der Unsicherheit die Stirn zu bieten?
Nach Corona kamen die Energiekrise und der Krieg. Auch die Nachwirkungen der pandemiebedingten Maßnahmen sind noch immer spürbar. Menschen wünschen sich mehr Flexibilität, aber zugleich Sicherheit. Die Art, wie wir heute arbeiten, hat sich strukturell enorm verändert – und das rasant.
Niemand, auch keine HR-Spezialisten, können wirklich einschätzen, wie sich die kommenden Jahre entwickeln – und das gilt besonders für bestimmte Berufsgruppen wie Pflegefachkräfte und Lehrpersonal.
Daher ist erfahrenes Personal gefragt wie nie – oder überhaupt Personal. Immerhin: Quereinsteiger haben heute mehr Chancen. Dennoch ist und bleibt es mit 55+ weiterhin herausfordernd, einen neuen Job zu finden. Das hat aber auch damit zu tun, dass die eigene Berufsbiografie lang ist. Da heißt es dann schnell auch „überqualifiziert“. Ebenso ist die Gehaltsklasse eine andere als die bei einem Berufsanfänger. Aber natürlich kann es auch für Berufseinsteiger schwierig sein, einen Job zu finden.
Take-aways:
- Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass auch die ältere Generation sich eingehend mit der Digitalisierung und modernen Arbeitsmodellen auseinandergesetzt hat. Das Fazit: Sie sind hier heute nicht mehr gegenüber jüngeren Arbeitnehmern benachteiligt.
- Weiterbildung ist das A und O, um in der heutigen Arbeitswelt „up to date“ zu bleiben. Gute Arbeitgeber bieten sie an, schlaue Arbeitnehmer nehmen sie an.
- Wer erfolgreich sein will, egal ob als Mitarbeiter oder Führungskraft, braucht ein klares Rollenverständnis – auch von den persönlichen Rollen.
Das überrascht. Sind es vielleicht auch Klassiker wie „Lebensumstände“ bzw. „Lebensplanung“, die Schwierigkeiten machen?
Ältere Menschen fragen sich auf jeden Fall: Was will ich in meiner dritten Lebensphase noch erleben, was tun, wie leben? Vor allem nach den letzten Jahren. Ist der Partner vielleicht schon in Pension? Sind die Kinder aus dem Haus? Wie sieht es mit der finanziellen Absicherung im Alter aus? Manche finden vielleicht, dass genau jetzt, mit Mitte, Ende 50, der richtige Zeitpunkt ist, um beruflich noch einmal Vollgas zu geben. Bei der Gruppe 35+ spielen andere Faktoren eine Rolle: Familienplanung, der Wunsch nach Work-Life-Balance, aber auch die Frage: Will ich das, was ich jetzt gerade mache, noch mein ganzes Leben lang tun? Also die klassische Sinnsuche.
Ach ja, der Purpose, was halten Sie persönlich von diesem Sinn-Ding?
Ich kann nur für mich selbst sprechen. Ich arbeite engagiert und bringe viel Zeit für die Themen und Menschen auf, die ich bei meiner Arbeit unterstützen und weiterbringen möchte. Ich bin nah an den Menschen und an gesellschaftlichen Herausforderungen dran. Das empfinde ich als sinnstiftend und erfüllend. Ganz aktuell sind wir beispielsweise dabei, den flexiblen Altersrücktritt auszubauen, damit Mitarbeitende in der letzten Berufsphase und über das Pensionierungsalter hinaus mehr Freiheiten haben. Künftig können ältere Mitarbeitende beispielweise ohne Abstriche bei den späteren Leistungen der Pensionskasse eine Bogenkarriere machen oder den Beschäftigungsgrad reduzieren oder über das offizielle Pensionsalter hinaus freiwillig weiterarbeiten. Solche Angebote zu entwickeln, das macht meine Arbeit für mich sinnvoll.
Sie sprechen von der „professionellen Personalarbeit“. Was macht sie in Ihren Augen professionell, neben dem Fakt, dass man auf die Menschen und ihre Bedürfnisse eingehen sollte?
Professionell bedeutet, beiden Seiten respektvoll gerecht zu werden. Zu wissen, was Arbeitnehmende wollen, aber auch zu erkennen und vielleicht auch in gewissen Dingen vorherzusehen, was der Arbeitsmarkt braucht. Nicht selten herrscht hier eine Diskrepanz. Als HR-Verantwortliche sind wir diejenigen, die die Brücke bauen müssen. Jobprofile verändern sich, die Digitalisierung fordert die Menschen heraus. KI macht einige Jobs überflüssig bzw. verändert sie. Parallel entstehen aufgrund der Digitalisierung viele neue Jobprofile. Das macht das Thema Weiterbildung seit Jahren immer wichtiger. Gerade weil die Komplexität immer weiter zunimmt.
Was können Arbeitnehmende konkret tun?
Arbeitnehmende brauchen zuerst einmal Rollenklarheit. Fragen Sie sich: Was sind Ihre Aufgaben, was erwartet man von Ihnen in Ihrer Rolle und was erwarten Sie von sich selbst? Heute hat jeder von uns die unterschiedlichsten Hüte im beruflichen Kontext auf. Daher ist es wichtig, dass Sie verstehen, wann Sie in welcher Rolle wie agieren müssen. Hier braucht es Transparenz und Austausch innerhalb des Unternehmens. Das muss auch von Mitarbeitenden eingefordert werden. Daneben müssen Führungskräfte entsprechende Strukturen, Abläufe und Mitarbeitende orchestrieren. Am Ende geht es nur gemeinsam.
Haben Sie ein Beispiel?
Gerne. Arbeiten Sie im Zuge eines Projekts mit anderen zusammen, sind Sie gefordert, Ihre Fachexpertise einzubringen. Gleichzeitig vertreten Sie die Anforderungen Ihrer Abteilung und sind als Mitglied des Projektteams aufgerufen, eine gemeinsam getragene Lösung zu entwickeln und anschließend – auch gegenüber Ihrer Abteilung und Fachkollegen sowie -kolleginnen – zu vertreten. Sie wechseln also ständig zwischen den drei Rollen Fachperson, Vertretung der Abteilung und Mitglied des Projektteams. Hier braucht es Transparenz – für Sie selbst, damit Sie wissen, in welcher Rolle Sie gerade agieren, aber auch für alle anderen, die verstehen müssen, welchen Hut Sie gerade aufhaben und damit auch, welche Interessen Sie vertreten.
Sie sind Direktorin Human Resources Management der Stadt Zürich. Wie gehen Sie mit der Komplexität um?
Es braucht eine hohe Akzeptanz gekoppelt mit hoher Qualität. Als Stadtverwaltung und Großorganisation ist unser Auftraggeber der Gemeinderat. Sprich: Wir arbeiten in einer demokratischen Organisation, sodass es immer verschiedene Vorstellungen gibt und alle gehört werden wollen. Gerade bezogen auf die Rahmenbedingungen. Dazu kommt noch der Diskurs mit Sozialpartnern und den jeweiligen Dienstabteilungen, die ihre Themen einbringen. Wir sind verantwortlich für rund 30 000 Mitarbeitende, denn auch Organisationen wie Polizei, Schulen etc. gehören in unseren Verantwortungsbereich. Hier ist es nicht immer einfach, allen Ansprüchen, allen Beteiligten gerecht zu werden.
Klingt nach „Eiertanz“.
Unsere Prämisse ist es, alle gleich zu behandeln, stabile Arbeitsverhältnisse sicherzustellen und Innovation sowie Entwicklung möglich zu machen. Wir reden viel mit den Stakeholdern, und darauf aufbauend priorisieren wir Themen. Dazu nimmt jeder das mit der Rollenklarheit ernst. Wir schauen, wie wir den unterschiedlichen Anforderungen durch strukturiert geführte Abstimmungsprozesse gerecht werden können.
Ziel ist stets die fachlich beste Lösung – mit gleichzeitig hoher Akzeptanz.
Es ist nicht immer einfach, politische Anforderungen in die Praxis zu übertragen und Menschen dafür zu begeistern. Wir haben beispielsweise letztes Jahr eine Weiterentwicklung des städtischen Lohnsystems eingeführt. In der Vergangenheit gab es eine direkte Kopplung von der Personalbeurteilung mit allfälligen jährlichen Lohnanpassungen. Das wollten wir verändern. Sie können sich vorstellen, dass es hier viele Gespräche gab. Denn es gab viele Ideen, wie das umgesetzt werden könnte. Bei alledem konnte es nur eine Lösung geben, die fachlich fundiert und ausgewogen war. Um diese zu finden, haben wir uns intensiv mit den diversen Stakeholdern und ihren Anliegen auseinandergesetzt und immer wieder – unter dem fachlichen Aspekt – geprüft, was machbar und umsetzbar ist.
Womit wir wieder bei den Themen Weiterbildung und persönliche Entwicklung sind. Wie bleiben Sie hier auf dem neuesten Stand?
Fachlich am Ball zu bleiben und das Feedback der Mitarbeitenden miteinzubeziehen ist enorm wichtig. Gerade erst Ende 2022 haben wir wieder eine umfassende Befragung durchgeführt. Diese hat erneut gezeigt, wie wichtig den Menschen Partizipation und Führung ist. Das hat uns darin bestätigt, dass zentrale Instrumente wie regelmäßige Mitarbeitergespräche und ein transparentes Lohnsystem, wie wir es flächendeckend für alle Menschen in unserem Zuständigkeitsbereich umsetzen, trotz des Aufwandes die richtigen Entscheidungen waren.
Menschen wollen in einem System arbeiten, in dem sie sich aufgehoben und gesehen fühlen.
Und ja, wir sind eine verfahrensgetriebene wie auch rechtlich geschützte Organisation – doch trotz alledem brauchen Menschen ihre Freiräume. Stichwort: flexible Arbeitswelt.
Wie also mit gefragten Mitarbeitenden umgehen oder verhandeln, wenn Fachkräftemangel herrscht? Gerade bezogen auf die Ansprüche an den Job?
Wenn Sie Bewerberin oder Bewerber sind, ist die Situation die Folgende: Je breiter oder spezifischer qualifiziert und erfahren Sie sind, desto besser sind Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch haben Sie manchmal zu hohe Erwartungen an den Arbeitgeber. Wir sind eine Stadtverwaltung und haben damit klare Anstellungsbedingungen. Verhandelt wird also nicht, denn für alle gelten die gleichen Rahmenbedingungen. Für uns sind Qualifikation und Berufserfahrung natürlich relevant. Der Arbeitgeber hat wiederum auch klare Anforderungen, etwa in Bezug auf Diversität im Team. Gerade unsere Belegschaft sollte möglichst ein Spiegel der Gesellschaft sein. Das beinhaltet Dinge wie Inklusion, ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis, Menschen jeden Alters … Bei gleicher Qualifikation der Bewerber spielen also weitere Faktoren eine Rolle. Final ist es unsere Aufgabe, den Rahmen zu liefern, indem diese Menschen gemeinsam als Team agieren und funktionieren können. Je gemischter oder diverser ein Team, desto mehr muss man sich den Menschen widmen. Hinsehen und zuhören. Und moderieren.
Wie sieht es in Sachen Talentförderung aus? Was tun Sie, um die Guten in Ihren Reihen zu halten?
Festbinden können wir niemanden, doch wir stecken Zeit und Geld in die Entwicklung unserer Mitarbeitenden. Wir haben einen Fokus auf Dialog und Mitarbeiterentwicklung bei unseren Jahresgesprächen. Das bedeutet, dass mit allen Mitarbeitenden regelmäßig geschaut wird, welches Lerninteresse und welcher Entwicklungsbedarf bestehen. Weiterhin gibt es ein städtisches Bildungsreglement, das die finanzielle und zeitliche Beteiligung regelt und Lernen über das gesamte Berufsleben hinweg unterstützt. Ganz stark sind wir auch bei der Ausbildung junger Menschen. Unsere Berufsbildung hat vorletztes Jahr den nationalen Bildungspreis erhalten. Die Anzahl unserer aktuellen Auszubildenden liegt bei rund 1400 Menschen, und wir haben ein Programm, das Berufserfahrungsjahr, das Berufseinsteigenden ermöglicht, im Anschluss an die Lehre ein erstes Jahr Berufserfahrung bei uns zu sammeln. Andere entscheiden sich, direkt nach dem Abschluss auf den freien Markt zu gehen – auch das unterstützen wir. Ich sprach die Mitarbeitergespräche an. Hier ist es wichtig, transparent miteinander darüber zu sprechen, was sich der Mitarbeiter aktuell, aber vor allem auch in Zukunft vorstellt. Anders als in der Privatwirtschaft geht es jedoch bei uns um konstante Weiterbildung und nicht um punktuelle Fortbildung.
Wie sind die Reaktionen der Mitarbeitenden? Gerade bezogen auf den Fakt, dass jemand bei Ihnen vielleicht nicht an der richtigen Stelle ist? Oder auch, dass überhaupt kein Interesse an einer Weiterbildung besteht?
Wir bieten den übergeordneten Rahmen. Wir bieten die Chance auf Weiterbildung. Ob und in welchem Umfang sie angenommen wird, liegt beim Mitarbeiter selbst.
Zwangsweiterbildung gibt es bei uns nicht.
Viele sehen die Möglichkeiten, die wir bieten, als echte Chance und nutzen sie. Andere sind zufrieden mit dem, was sie tun. Wichtig ist, dass es in der Gesamtheit stimmt, die Arbeitsfähigkeit im Beruf erhalten bleibt und die Menschen in ihren Rollen wirken können. Das sollten Sie als Führungskraft möglich machen.
Was würden Sie sagen, wie führen Sie?
Ich würde mich als offen und sehr transparent beschreiben. Und als Menschen, dem beides wichtig ist: die Organisation weiterbringen, aber auch die einzelnen Menschen. Mir ist es ein Anliegen, dass sich alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbringen und gemeinsam für die Sache einsetzen. Sicher gibt es Vorgaben und Ansprüche, denen ich gerecht werden sollte. Aber als Führungskraft im oberen Management können Sie die Dinge bewusst mitgestalten.
Zentraler Punkt meiner Führung ist das Miteinander. Jeder soll sich einbringen, gemeinsam am Erfolg arbeiten. Sicher: Nicht jeder kann das jederzeit. Wir alle haben unsere guten und schlechten Tage. Das gilt es auch zu respektieren.
Auf der anderen Seite bin ich eine große Unterstützerin von Weiterentwicklung. Menschen sollen sich aktiv integrieren, zeigen, dass sie Teil eines großen Ganzen sein wollen und sich auch als solchen verstehen.
Welche Skills braucht es heute als Führungskraft?
Sie müssen die Welt mit den Augen der anderen sehen können. Was bedeutet, dass Sie einen Schritt zurückgehen und Situationen mit Abstand betrachten, verschiedene Perspektiven einbeziehen und sich darüber austauschen können. Genauso müssen Sie lernen, andere Menschen zu verstehen. Dazu braucht es Schnauf. Es mangelt in der Praxis oft nicht an Ideen, doch es braucht einiges mehr, diese selbstverantwortlich in die Tat umzusetzen. Als Führungskraft müssen Sie die Entwicklungen erkennen, im Kontext bewerten und die vereinbarte Lösung umsetzen – und das in einer Vorbildfunktion.
Eine gute Führungskraft versteckt sich nicht.
Weder hinter irgendwelchen Regeln noch der Unternehmenskultur. Und erst recht nicht vor ihren Mitarbeitenden. Vermitteln Sie das große Ganze und vergessen Sie die Einzelnen nicht.
Denken Sie, dass Ihnen die KI irgendwann den Job wegnimmt? Schon heute übernehmen Chatbots Bewerbungsgespräche …
Ich habe meine Zweifel, dass KI der bessere Recruiter sein wird. Am Ende geht es um Menschen. Wir setzen uns in unseren Recruiting-Prozessen bewusst mit Individuen auseinander. Die digitale Entwicklung geht an uns nicht vorbei, auch wir nutzen Dinge, die unsere Arbeit effektiver machen. Final aber suchen wir nach Menschen, die unsere Kultur verstehen, ihre Rollen bewusst gestalten und ausfüllen wollen. Da sind Algorithmen als Ansprechpartner falsch. Auf der anderen Seite: Ich habe keine Ahnung, was in Zukunft alles möglich sein wird. Was das Thema Administration betrifft, wird die KI, der Algorithmus sicher sein Berechtigung finden.
Und bezogen auf die uns eigentlich unendlich verfügbaren Informationen? Spielt da KI bei Ihnen eine Rolle?
Menschen stehen – auch zunehmend unter Einsatz von KI – unendlich viele Informationen zur Verfügung. Das kann auch überfordern. Und dennoch gibt es immer noch den Moment, in dem ein Mitarbeiter Ihnen sagt: Mir fehlen die Informationen. Das Problem ist, dass Sie sich in der Führung auch bei einer Fülle an Informationen auf das betrieblich Relevante fokussieren müssen, um Mitarbeitende in ihrer Orientierung zu unterstützen. Hier braucht es auf jeden Fall noch bessere Lösungen. Denn es gibt einen Unterschied zwischen Wissen aufnehmen und die Dinge verstehen.
Über die Autorin
Daniela Eberhardt ist Direktorin Human-Resource-Management der Stadt Zürich. Zuvor leitete sie viele Jahre das Institut für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.