Folge 19: Die depressive Mitarbeiterin
„Sieben Mal in einer Woche?“, fragt Nina. „Nein, sieben Mal an einem Tag.“ Zola wirkt geknickt. „Dabei kennt sie ja die Abläufe. Sie weiß, dass sie alle Protokolle direkt an Ben weiterleiten kann – ohne mein Okay. Und dass die Wochenberichte immer um 16:30 Uhr fertig sein müssen.“ Zola seufzt. „Aber du hattest ihr doch Hilfe angeboten, oder? Nach dem Zusammenbruch auf der Toilette?“, erkundigt sich Nina. Ihre Stiefschwester nickt eifrig: „Das habe ich! Sie meinte, sie hätte einfach einen schlechten Tag gehabt, wenig gegessen. Aber seitdem wird es immer schlimmer: Sie vergisst andauernd Dinge, fragt ständig nach meiner Erlaubnis – auch bei völlig unwichtigen Dingen – und bringt sich nicht mehr ein. Manchmal denke ich, sie kriegt’s wieder hin, scheint irgendwie voranzukommen. Aber an anderen Tagen sehe ich, wie sie abends immer noch dieselbe Excel-Liste vor sich hat wie am Morgen …“
Schlechte Konzentration, vermehrtes Kontrollbedürfnis, Angst, Verantwortung zu übernehmen, und eine stark schwankende Arbeitsleistung. All das können Anzeichen einer Depression sein. Zusammen mit Angststörungen und weiteren psychischen Erkrankungen sorgt sie immer häufiger für monatelange Ausfälle und massive Produktivitätseinbußen. Das haben Hans-Peter Unger und Carola Kleinschmidt bereits 2006 in ihrem Buch geschrieben.
Heute ist das Wohlbefinden von Mitarbeitenden weltweit auf dem Tiefpunkt: Laut dem State of the Global Workplace Report 2022 bringen sich nur 21 Prozent bei der Arbeit wirklich ein, und viele finden ihre Arbeit nicht wirklich bedeutungsvoll. Die Umstände, die die Entwicklung psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz begünstigen, haben sich also weiter verschlechtert. Denn laut Unger und Kleinschmidt ist einer der Hauptgründe etwa für Depressionen die mangelnde Erfüllung im Job. Zum Beispiel weil man sich nicht einbringen kann oder nicht unterstützt wird. Oder ganz wichtig: zu wenig Wertschätzung erhält.
Beschäftigte, die sich nicht ausreichend entlohnt und wertgeschätzt fühlen, haben im Vergleich zu anderen Beschäftigten ein doppelt so hohes Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden oder an einer Depression zu erkranken.
Hans-Peter Unger, Carola Kleinschmidt
Viele Führungskräfte haben Angst davor, offen über dieses Thema zu sprechen. Oder noch schwieriger: direkt mit der Person darüber zu sprechen. Doch dabei ignorieren sie, dass die Verhältnisse am Arbeitsplatz entscheidend dazu beitragen, wie Mitarbeitende mit dem sensiblen Thema umgehen – sowohl betroffene als auch potenziell gefährdete. Denn Führungskräfte haben in zweierlei Hinsicht entscheidende Auswirkung auf den Verlauf der Krankheit. Erstens:
Der Chef sitzt sozusagen an einem wichtigen Schalthebel für den Motor der Erschöpfungsspirale.
Hans-Peter Unger, Carola Kleinschmidt
Und zweitens: Wenn sie nicht über psychische Erkrankungen sprechen, tut es niemand. Oder nur hinter vorgehaltener Hand. Beides trübt das Klima am Arbeitsplatz. Führungskräfte sollten Mitarbeitende, die ein entsprechendes Verhalten zeigen, direkt darauf ansprechen – vertraulich, versteht sich. Viele Mitarbeitende fürchten Konsequenzen, weil Arbeit liegen bleibt. Sie verfallen in Panik und versuchen, so schnell es geht, alles wieder aufzuholen. Was natürlich nicht gelingt. Dadurch entsteht noch mehr Druck. Druck, den nur die Führungskraft zu nehmen vermag. Und zwar indem sie deutlich macht, dass sie um die Konsequenzen einer Depression weiß, das Verhalten also nicht einfach als Schwäche abtut. Es gilt, Verständnis zu zeigen, Druck zu nehmen, aber auch: nicht überfürsorglich zu werden. Arbeit kann eine Ablenkung sein und vielleicht auch (wieder) Spaß machen. Dafür aber muss über die Punkte gesprochen werden, die den Stress ausgelöst haben. Werden Mitarbeitende schließlich krankgeschrieben, sollte im Anschluss eine Reintegration stattfinden. Und das auf eine Weise, die die jeweiligen Bedürfnisse und Möglichkeiten berücksichtigt.
Gemeinsames Ziel ist es festzustellen, inwieweit der Arbeitsplatz und die mit ihm verbundenen Anforderungen mit dem gegenwärtigen Leistungsvermögen in einem ausbalancierten Verhältnis stehen.
Hans-Peter Unger, Carola Kleinschmidt
„Unger und Kleinschmidt raten, dass du ein Vieraugengespräch mit ihr führst. Ziel des Gesprächs sollte es sein, einen gemeinsamen Überblick zu gewinnen, wie die Anforderungen schrittweise wieder erhöht werden können und wo ihr Belastungen dauerhaft abbauen könnt.“ Als Nina den Blick ihrer Stiefschwester sieht, fügt sie an: „Und sprich das Wort ‚Depression‘ ruhig offen aus. Sie hat offenbar schon damit angefangen, die Dinge kleinzureden und auszuweichen. Zeig ihr, dass du mit dem Thema umgehen kannst.“ Zola lacht bitter. „Kann ich das denn? Was ist, wenn sie gar keine Depression hat und ich dann wie ein Vollidiot dastehe?“ Nina überlegt kurz und erzählt Zola vom Automobilhersteller Volvo. „Bei Volvo nimmt jeder Mitarbeiter zur Prävention an Seminaren zum Thema Burn-out teil. Die Führungskräfte werden speziell trainiert, auf typische Anzeichen zu achten – und natürlich auch für den Umgang mit solchen Situationen und Mitarbeitenden geschult. Vielleicht solltest du so was mal bei euch vorschlagen.“ Zola nickt langsam. „Vielleicht wirklich keine schlechte Idee. Das Thema scheint ja immer wichtiger zu werden.“ Sie legt den Arm um ihre Stiefschwester und drückt sie: „Und schließlich hat nicht jeder eine Nina.“ Die lacht laut: „Oder Zugang zu getAbstract!“