„Diskriminierung findet bereits bei Nichtbeachtung statt“
Herr Förster, Sie unterscheiden zwischen Stereotyp und Vorurteil. Können Sie den Unterschied erklären?
Jens Förster: Ich orientiere mich hier an der wissenschaftlichen Unterscheidung. Dabei ist das Stereotyp eine Assoziationen von Menschen zu Menschen, die wir im Gedächtnis gespeichert haben. Solche Assoziationen können wir auch zu sozialen Gruppen haben, also Frauen, Männer, Babys, Schwarze, Weiße, Alte und Junge. Diese Assoziationen haben wir in einer kognitiven und eher kalten Art und Weise abgespeichert. Anders ist es bei Vorurteilen. Hier spielen viele Emotionen mit hinein. Ein Vorurteil ist eine Meinung, die wir über einen anderen Menschen oder eine soziale Gruppe haben. Ein Beispiel: Ich weiß, dass Sie Journalistin sind, eine Frau, Mutter – dazu habe ich dann Assoziationen im Kopf. Das wäre das kalte Stereotyp. Ich kann Gruppen mit den Vorurteilen, also mit den emotionalen Bewertungen der Stereotype aber auch abwerten, indem ich etwa sage, alte Menschen sind vergesslich und können daher nicht mehr auf hohem Niveau arbeiten. Und in diese Sparte fallen dann Dinge wie Rassismus, Sexismus, Homophobie – also eine klare Abneigung einer bestimmten Gruppe.
Im Grunde kommen wir jedoch erst einmal ohne Vorurteile und Stereotype auf die Welt. Ab wann würden Sie sagen beginnen wir, diese auszubilden?
Hier sollten wir beim Unterschied zwischen Stereotyp und Vorurteil bleiben. Denn Stereotype entwickeln sich recht schnell. Wenn die Mama erzählt: „Schau, das ist ein Insekt und das ist gefährlich.“ Dann speichert das Kind das ab. Gleiches gilt für Aussagen wie „Ameisen und Honigbienen sind nützlich“. Beim Kind entsteht so ein Stereotyp über Ameise, Insekt und Honigbiene. Doch da ist keine große emotionale Komponente dabei. Kinder kommen neugierig auf die Welt. Sie machen ihre eigenen Erfahrungen, lernen aber auch durch die Erfahrungen der Eltern. Auf der anderen Seite hinterfragen sie die Erfahrungen und Meinungen der Eltern. Sie machen eigene Erfahrungen, spielen also vielleicht gerne mit dem schwarzen Jungen, obwohl die Eltern bei der AfD sind. Und so machen sie eigene, positive Erfahrungen.
Grundsätzlich aber lässt sich sagen: Bewertungen und Assoziationen werden durch die Gesellschaft gelernt und das Schubladendenken fängt früh an.
Jens Förster
Nehmen wir einen alten, weißhaarigen Mann. In asiatischen Gesellschaften zum Beispiel wird er durch sein Alter eher mit Erfahrung, Weisheit und einem großen Wissensschatz assoziiert. In den westlichen Ländern eher mit Langsamkeit, Unattraktivität und Vergesslichkeit. Wir lernen das, was uns die Gesellschaft, in der wir uns bewegen, anbietet.
Von wem lernen wir – neben den Eltern oder der Gesellschaft, in der wir leben – noch Bewertungen, Stereotype und eben auch Vorurteile?
Unsere Eltern haben sicher einen großen Einfluss. Aber es sind heute auch die Medien, die uns stark beeinflussen. Comics, Cartoons, Zeichentrickfilme – auch hier werden den Kindern Stereotype gezeigt. Da wird zum Beispiel das kleine dicke Kind gemobbt. Das kann dazu führen, dass das Kind eben den kleinen dicken Jungen im Kindergarten, in der Schule auch mobbt, weil der Zeichentrickfilm eine Wertigkeit zu dieser Gruppe Menschen vermittelt hat. Gleiches gilt auch für die Dinge, wie wir in der Schule lernen. Und natürlich die persönlichen Erfahrungen der Kinder selbst. Wenn sie in Kontakt mit einer neuen sozialen Gruppe kommen, machen sie vielleicht ein positives oder negatives Erlebnis, und das bleibt hängen.
Take-aways:
- Vorurteile und Stereotype unterstellen sozialen Gruppen bestimmte Eigenschaften und führen zur Bevorzugung oder Benachteiligung dieser Gruppen.
- Kommunikation und Austausch können Stereotype und Vorurteile positiv verändern und das Miteinander sozialer machen.
- Es ist wichtig, den eigenen Toleranzbereich zu erweitern und dafür zu sorgen, dass Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen.
Nehmen wir dazu ein aktuelles Beispiel. Mein siebenjähriger Sohn kommt aus der Schule zurück und sagt: „Russland ist ein böses Land.“ Ich habe dann lange mit ihm gesprochen und das revidiert. Was würden Sie in solchen Situationen grundsätzlich raten?
Ich glaube, wir müssen lernen, dass es Generalisierungen nicht gibt. Bleiben wir bei Ihrem Beispiel. Gewisse Stereotype und Bewertungen dienen auch der Orientierungshilfe. Wenn Sie aktuell hören, dass die ukrainische Bevölkerung gerade Unterstützung braucht, Kleidung, Schutz, Geld, Wohnungen, dann ist das zunächst einmal nützliches Wissen. Dass Russland einen verheerenden Krieg gegen die Ukraine führt, ist ebenfalls nützliches Wissen. Aber zu generalisieren und nun zu sagen, dass pauschal jeder Russe böse ist, ist hingegen nicht richtig.
Das Problem ist, dass wir nicht mehr auf das Individuum eingehen. Dass wir nicht mehr auf den einzelnen Menschen schauen, sondern auf die Gruppenzugehörigkeit.
Jens Förster
Hier in Berlin zum Beispiel sind alle russischen Restaurants leer. Dabei könnte man ja von Erwachsenen erwarten, dass sie hier differenzieren können.
Viele Stereotype sind uns ja nicht einmal bewusst. Wie kann ich das ändern, um eben auch bewusster im Umgang mit anderen Menschen zu agieren?
Der Vorteil vom Vorurteil ist ja, dass Sie in aller Regel die Emotionen bemerken, die während der Begegnung mit einer entsprechenden Person bei Ihnen aufkommen. Wenn Sie ein Geschäft betreten und vor Ihnen ein Mensch steht, der vielleicht etwas schmutziger ist und auch strenger riecht, dann ekelt Sie das vielleicht an. Sie gehen auf Abstand. Sie können sich dann selbst zurückpfeifen und sich Ihr VORURTEIL bewusst machen. Und in diesem Fall vielleicht darüber nachdenken, dass es diesem Menschen womöglich auch unangenehm ist, dass man seine aktuelle Lebenssituation so deutlich wahrnehmen kann. Im Gegensatz zu den Emotionen, die mit einem Vorurteil einhergehen, sind uns Stereotype nicht immer bewusst. Das kann dazu führen, dass Sie im Gespräch mit einem Ausländer automatisch langsamer reden. Was sogar bedeuten würde, dass Sie ihn schon diskriminieren. Dabei handelt es sich um unbewusste Effekte, für die unser Gedächtnis verantwortlich ist. Es sorgt dafür, dass wir in einer Millisekunde wahrnehmen, wer vor uns steht: Frau, Mann, alt oder jung, gut angezogen oder nicht. Evolutionär ist das ein super System. Wir nehmen etwa Gefahr schnell wahr und können flüchten. Dieses System kann aber auch den negativen Effekt haben, dass wir im Bus eben stehen bleiben, weil wir uns nicht neben die verschleierte Frau setzen möchten. Einfach weil wir unbewusst die Gruppe der Muslime mit Terror, aggressiv, konservativ, schwierig in Verbindung bringen. Gleiches passiert übrigens auch bei Personalentscheidungen. Auch wenn es dem Personaler nicht bewusst ist, sortiert er vielleicht die Frauen bei der Besetzung von Spitzenpositionen aus.
Lassen sich Vorurteile und Stereotype eigentlich auflösen? Oder werden sie besser ersetzt?
Ich würde sagen, dass jeder von uns seinen Toleranzbereich größer machen kann. Je mehr Kontakt wir zu anderen Menschen haben, desto mehr Perspektiven lernen wir kennen. Und das kann jeder für sich selbst aktiv angehen. Man kann reisen, ein Fest mit den türkischen Nachbarn planen, sich ehrenamtlich für Randgruppen einsetzen …
Vorurteile und Stereotype haben oft immer etwas Negatives und werden eher als schlecht angesehen. Dabei können sie ja auch positiv sein. Alle blonden, schönen Frauen sind nett. Alle großen, hübschen Männer sind stark … Was meinen Sie, warum haftet den beiden Dingen dieser negative Touch an?
Ein Grund ist, dass Vorurteile und Stereotype oft zu Diskriminierung führen. Nicht groß genug, die Nase sitzt schief, zu dünn, zu dick – und schon wird man von einer Gruppe gemieden. Und unser Gedächtnis ist so aufgebaut, dass wir uns an Negatives eher als an Positives erinnern. Der positive Effekt, dass Vorurteile eben auch gruppenbildend sein können, nehmen wir somit weniger wahr.
Sie haben in einem Vortrag einmal Vorurteile als Werkzeug beschrieben, das uns dabei unterstützt, schnelle Entscheidungen zu treffen.
Vorurteile und Stereotype sind eine Orientierungshilfe. Wenn Sie sehr liberal sind, werden Sie sich eher weniger mit Faschisten umgeben. Sobald Sie wahrnehmen, dass jemand in diese Richtung tendiert, werden Sie sich abwenden. Oder auch in einem Café: Wenn Sie sich umschauen und alle Tische besetzt sind, werden Sie denjenigen Menschen fragen, ob Sie sich zu ihm setzen dürfen, der Ihnen sympathisch erscheint. Dabei werden Ihre Vorurteile und Stereotype bewusst oder unbewusst Ihre Entscheidung beeinflussen. Denken Sie an den Supermarkt und das Nudelregal. Wenn Sie die Auswahl haben, greifen Sie ganz automatisch zu Nudeln aus Italien. Weil „die können Pasta“. Vorurteile und Stereotype erleichtern uns daher auch unser Leben.
Sie sprachen die Diskriminierung schon an. Ab wann oder wie werden Vorurteile und Stereotype Diskriminierung?
Bedienen wir uns der Sicht der Opfer. Diskriminierung fängt nämlich bereits bei Nichtbeachtung an. Das Kind, das in der Schule merkt, dass die Klassenlehrerin es nie drannimmt. Das tut weh. Genauso, wenn Sie an anderen Stellen exkludiert werden, wenn Sie etwa nicht im Chor aufgenommen werden oder keiner Sie in seiner Mannschaft in seinem Team haben will. Forscher haben nachgewiesen, dass das wirklich Schmerzen in unserem Nervensystem auslösen kann. Und so geht es immer weiter bis zum Mobbing und schlussendlich Völkermord. Während des Holocaust zum Beispiel wurden Menschen einfach umgebracht, weil sie einer gewissen sozialen Gruppe angehörten.
Und dennoch würde wahrscheinlich jeder von uns sagen, dass er niemanden diskriminiert.
Das sind die schwierigen Menschen in meinen Trainings, die harten Nüsse. Sie haben ja eingangs gefragt, was Sie selbst dagegen tun können, nicht einfach aufgrund von Vorurteilen und Stereotypen zu agieren. Darum geht es: sich zuerst einmal klarzumachen, ob und, wenn ja, welche Vorurteile und Stereotype man hat. Ich finde es wichtig, sich bewusst zu machen, mit wem man Zeit verbringen will und mit wem nicht. Und sich dann zu fragen, warum das so ist. Sind da nicht doch irgendwelche Stereotype oder Vorurteile? Sobald man diese kennt, nutzen Sie den Austausch mit anderen und diskutieren Sie über diese.
Ich gehörte zur Gruppe der Psychologen. Ich habe daher sehr viele Vorurteile.
Jens Förster
Und als Psychologen haben wir viel darüber gelernt, was normal, krank oder problematisch ist. Da besteht die Gefahr, den individuellen Menschen mit seinen Stärken und Ressourcen nicht mehr zu sehen, sondern vor allem die Störung. Als Lehrtherapeut bringe ich meinen Auszubildenden bei, Diagnosen zu hinterfragen und sie als Schubladen zu betrachten. Also noch einmal zusammengefasst: In dem Moment, wo ich glaube, dass ich vorurteilsfrei bin, kann ich nicht mehr gleich gut daran arbeiten. Und das ist schade, vor allem für die eigene Weiterentwicklung.
Diversity und Political Correctness, LGBTQ … Wie erleben Sie diese Zeit, wo einfach viele Dinge, über die man früher vielleicht gelacht hat, heute hochpolitisch sind?
Ich sehe da ein Problem, denn genau das führt ja wieder zu einer Exklusion. Nehmen wir das Beispiel des Genderns. Ich kann das ja gerne tun, wenn ich etwas schreibe – und ich tue das auch persönlich, weil ich es für wichtig erachte. Aber Menschen zu diskriminieren und auszuschließen, wenn sie das nicht tun, das geht in meinen Augen nicht. Gerade ältere Teilnehmer sagen an diesem Punkt oft, dass sie das einfach nicht können, weil es so viele Jahrzehnte einfach anders in Ordnung war. Bei kognitiv beeinträchtigten Menschen oder Lernschwachen ist es ähnlich. Es geht bei ihnen nicht darum, dass sie sexistisch sind oder jemanden diskriminieren wollen. Es fällt ihnen einfach schwer, mit Gelerntem zu brechen. Und dennoch werden sie von anderen für das Verhalten in eine gewisse Ecke gedrängt. Ich bemerke aktuell eine Bewegung in Deutschland, in der immer mehr Stereotype entstehen, wenn nicht sogar Feindbilder. Aber eigentlich sollte es ja andersherum laufen.
Sie würden also sagen, dass Bewegungen wie unter anderem auch #metoo zu mehr Vorurteilen und Stereotypen führen?
Die Absicht, auf Themen oder auch Minderheiten aufmerksam zu machen, die wirklich diskriminiert werden, ist gut. Es gab ja schon einmal vor rund 30 Jahren eine ähnliche Bewegung. Doch nun ist da eine neue Generation, so mein Gefühl, die daran anschließt. Ich glaube, es ist eine Chance, Themen nach vorn zu holen und in diesem Fall das Leben von Frauen zu verbessern. Das Problem ist, dass der Fokus auf wenigen Gruppen liegt: Frauen, Schwarzen und sexuellen Identitäten. Bei vielen anderen sozialen Gruppen wie zum Beispiel übergewichtigen oder armen Menschen – wird gerade in den Medien noch viel Beleidigendes und Diskriminierendes publiziert. Und das ist die Gefahr, dass bestimmte Gruppen einfach im Fokus stehen und andere nicht (mehr) beachtet werden.
Würden Sie sagen, dass die Digitalisierung dazu beigetragen hat, dass die Gräben größer werden?
Sicher ist es einfacher, über die Social-Media-Kanäle anonym Dinge über jemanden zu posten, als wenn Sie ihm gegenüberstehen und sagen: „Du bist dick, doof, blöd, arm, hässlich.“ Ich würde daher sagen, die Digitalisierung hat die sprachliche Gewalt auf jeden Fall ansteigen lassen. Früher haben wir die ganze Zeitung gelesen, heute konsumieren wir Nachrichten in Form von Filterblasen. Sie können einstellen, welche Nachrichten Sie erhalten wollen und welche nicht. Oder aber der Algorithmus übernimmt die Auswahl für Sie. Sie werden nicht mehr mit unterschiedlichen Perspektiven konfrontiert, sondern lesen das, was Sie lesen wollen. Und das spaltet die Gesellschaft. Die Leute konfrontieren sich gar nicht mehr mit den Meinungen, den Kommentaren der anderen Gruppe.
Und das sorgt dafür, dass man in seinen Vorurteilen und Stereotypen bestätigt wird …
Ich bleibe in meiner Filterblase. Das fängt bei den Klamotten an. Auch hier wird Ihnen in der virtuellen Welt ja nur gezeigt, was Sie sehen wollen. Es geht dann weiter über politische Meinungen bis hin zu Netflix-Serien im Stil „Auswahl für …“. Damit findet eine geistige Vereinzelung statt. Und Stereotype können Sie ja nur angehen, wenn Sie Ihren Horizont erweitern.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Political Correctness zu sprechen kommen. In vielen Unternehmen ist es wie auch digitale Transformation, Agilität und Nachhaltigkeit oft nicht mehr als ein Buzzword. Was meinen Sie als Psychologe dazu?
Es gibt Forschungen dazu, dass Dinge immer dann interessant werden, wenn man sie verbietet. In meinen Augen macht es am meisten Sinn, wenn sich die Menschen innerhalb der Organisation zusammensetzen und gemeinsam diskutieren, wie man damit intern umgehen mag.
Wenn ich erfahre, warum gewisse Menschen sich von gewissen Dingen diskriminiert fühlen, kann ich damit auch ganz anders umgehen. Und zwar besser und individueller, als wenn von oben eine allgemeine Ansage kommt, was jetzt nicht mehr geht oder wie es nun zu laufen hat.
Jens Förster
Was ich sehe, ist, dass in einigen Unternehmen diese Dinge ziemlich brachial und sehr schnell angegangen werden. Plötzlich wird jeder als rassistisch bezeichnet, dem das Wort „Mohrenkopf“ herausrutscht … Es ist schwer zu entscheiden, wann das Wort bewusst als Diskriminierung genutzt wird und wann einfach als Wort ohne böse Absicht, weil man es so gelernt hat und man das nur schwer vergessen kann. Klar, idealerweise sollte es nicht verwendet werden. Denken Sie aber einmal an die älteren Menschen und das Gendern. Wenn viele Jahre und Jahrzehnte nur das männliche Geschlecht verwendet wurde, ändern Sie das nicht von jetzt auf gleich. Die Veränderungen brauchen Zeit, weil sich unsere Gedächtnisse nicht von heute auf morgen überschreiben lassen. Und Ausrutscher sind auch oftmals Gedächtnisfehler und nicht diskriminierend gemeint.
Darf ich als Kollegin einen anderen Kollegen eigentlich darauf hinweisen, dass er sich nicht politisch korrekt benimmt?
Ich fände es sogar gut, wenn es so passieren würde. So entstehen Dialoge oder auch ein Diskurs. Zu sagen, was einen stört, unterstützt alle im Umgang mit Ihnen. Und die anderen dabei, bewusst mit Ihnen umzugehen. Wenn etwas auf dem Tisch liegt oder ausgesprochen wurde, können Sie darüber reden. Und dann ist es auch lösbar. Sie sollten natürlich etwas subtiler agieren und nicht einfach sagen: Du benimmst dich politisch nicht korrekt. Ein wenig Verpackung braucht es schon. Dann aber kann Klarheit geschaffen werden.
In dem schon angesprochenen Vortrag fragte eine Frau, was Sie davon halten, dass gerade zahlreiche Kinderbücher umgeschrieben werden, damit sie politisch korrekt sind. Würden Sie noch einmal Ihre Meinung dazu wiederholen?
Wir selbst sind ja auch mit diesen Büchern sozialisiert worden. Und viele von uns sind trotzdem als Erwachsene in der Lage zu differenzieren. Die andere Frage ist die nach dem Jugendschutz. Wie kann man verhindern, dass Kinder beleidigende Begriffe erlernen, wenn sie in Kontakt mit diesen Büchern kommen, die bestimmte Menschen in heute beleidigender Weise benennen. Im Fall von Pippi Langstrumpf ist der Vater nun ein Südseekönig und kein Negerkönig mehr. In diesem Fall finde ich die Anpassung okay und ich kann mir vorstellen, dass Astrid Lindgren da auch nichts dagegen hätte. Aber nehmen wir Jim Knopf & Lukas der Lokomotivführer. Kritiker meinen, man solle das Buch ganz abschaffen, weil Jim Knopf schwarz ist, dem weißen Mann unterlegen und als „Neger“ bezeichnet wird. Wenn man das Buch liest, wird das auch immer wieder thematisiert. Dass er anders aussieht, aber auch, dass das keinen Unterschied macht. Er ist Teil des Teams. Im ganzen Buch herrscht ein Ton der Toleranz. In einem solchen Fall finde ich Verbote schwierig. Klar ist es sinnvoll, ihn nicht mehr Neger, sondern Schwarzer zu nennen, aber ein Verbot des Buchs wäre kontraproduktiv. Weil diese Bücher ja im Prinzip einen positiven pädagogischen Einfluss haben und uns schon damals halfen, die Welt auch mal mit anderen Augen zu betrachten. Gleiches gilt für Dokumentationen oder historische Filme. Warum hier eingreifen, wenn sie doch einen pädagogischen Hintergrund haben. Zudem wäre jeder Eingriff ja auch ein Eingriff in die Historie, eine Verfälschung sogar. Im Jugendschutz für das deutsche Fernsehen diskutieren wir derzeit Warnhinweise vor dem Film, sogenannte Trigger-Warnungen.
Wie kann ich mein Kind noch unterstützen, nicht bereits in jungen Jahren viele Vorurteile und Stereotype auszubilden?
Kinder kommen mit einem riesigen Toleranzbereich auf die Welt. Die fassen auch tote Vögel an, spielen mit Kindern, deren Sprache sie nicht einmal verstehen. Daher mein Rat: Lassen Sie Ihre Kinder eigene Erfahrungen machen und die Sachen ausprobieren. Und geben Sie nicht so viele Dinge vor. Setzen Sie sie zudem immer mal wieder einem multikulturellen Kontext aus.
Und letzte Frage: Hat Corona zu noch mehr Schubladendenken bei den Menschen geführt?
Die Pandemie hat die Gesellschaft auf jeden Fall ziemlich gespalten. Wenn ich zurückdenke an die Supervisionen, die ich in den zwei Jahren gemacht habe, gab es immer verschiedene Lager. Impfgegner und -befürworter. Maskenträger und Maskenverweigerer. Menschen, die auch nach der Auflösung weiter im Homeoffice belieben, wurden plötzlich Faulheit und andere Dinge vorgeworfen. Corona hat zu mehr Vorurteilen und Stereotypen geführt, auf jeden Fall. Das hängt auch damit zusammen, dass wir diese in Zeiten der Not als Orientierungshilfe nutzen.
Ich kann wirklich sagen, dass wir als Psychologen noch nie so viel verdient haben wie in Zeiten der Coronapandemie.
Jens Förster
Da fand vor allem in Familien viel Spaltung statt. Und viele Menschen sind in die Armut gerutscht und damit in eine Gruppe, zu der es auch viele Stereotype und Vorurteile gibt. Es ist wirklich wichtig, dass wir mit Menschen im Gespräch bleiben. Als Individuen haben wir alle unterschiedliche Meinungen. Es ist wichtig, zu akzeptieren, dass man selbst nicht weiß, was richtig ist, und der andere auch nicht.
Über den Autor
Jens Förster ist Sozialpsychologie, hatte mehrere Professuren inne und tritt als Buchautor und Talkshowgast in der Öffentlichkeit auf.