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Weg mit alten Zöpfen!

Als Gewerkschaften und Arbeitgeber noch Rosen zum Frauentag verteilten, hagelte es berechtigte Kritik: „Wir wollen keine Blumen, sondern faire Löhne und Gehälter.“ Gut! Aber warum gehen wir nicht genauso konsequent gegen andere alte Zöpfe vor?

Leider sehe ich aktuell etwas anderes, nämlich dass stattdessen „typisch weibliche Eigenschaften“ zelebriert werden. Gerade ist mir wieder so ein Text begegnet: Voller Euphorie darüber, dass die „Zeit der Frauen“ gekommen sei, dass die Welt die besonderen Stärken braucht, die sie – qua Natur – mitbringen.

Ich fühlte mich unangenehm an den Anfang der 2000er Jahre zurückversetzt. Bei meinem damaligen Arbeitgeber wurde damals ein internationales Frauennetzwerk gegründet, und zum Startschuss des Projekts habe ich exakt dasselbe lesen und hören müssen. Über 20 Jahre sind seither vergangen, richtig viel getan hat sich aber nicht. Bei denjenigen, die tendenziell über Karrieren entscheiden, ist die Botschaft schlicht nicht angekommen. Heute wissen wir warum. Aber obwohl rund um die Themen „Unconscious bias“ und „unbewusste Denkmuster“ eine Milliardenindustrie entstanden ist, werden mit ungebrochenem Elan die gleichen alten Kamellen und Stereotype präsentiert. Das, was als „Female Empowerment“ – als Emanzipationsbewegung – positioniert werden soll, ist weiterhin genau das Gegenteil: Es bremst gesellschaftliche Entwicklung aus und zementiert Stereotype und Vorurteile.

Beliebt, aber Unsinn

Die Vorstellung von „typischen“ Eigenschaften von Männern und Frauen basiert nämlich auf der Überzeugung, dass diese sich seit der Steinzeit aufgrund einer geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung unterschiedlich entwickelt haben. Manifestieren soll sich das in der jeweils spezifischen Gehirnstruktur, aus der Unterschiede in Wahrnehmung, Denken und Verhalten resultieren.

Richtig populär wurde die Vorstellung dank Büchern wie Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus oder Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken. Die internationalen Bestseller überzeugten nicht nur ihre Leserschaft: Wenn Männer und Frauen erst einmal akzeptieren, wie verschieden sie sind, können sie trotz Gegensätzen miteinander glücklich werden. Allerdings:

Es ist nicht die Frühzeit, die aktuelle Geschlechterrollen prägt. Stattdessen prägt unser Weltbild die Sicht auf die Frühzeit.

„Wer sich eine Welt, in der Frauen den Männern gleichgestellt sind, nicht vorstellen kann, kann sie auch in den archäologischen Funden nicht erkennen“, erläutert Archäologin Martina Nothnagl.[1] Es ist deshalb wichtig, sich die Forschungsgeschichte und ihre neusten Erkenntnisse zu vergegenwärtigen.

Wissenschaftliche Updates für Familie Feuerstein

Als sich die Ur- und Frühgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts an den Universitäten etablierte, war es für die Forschung vermeintlich einfach: Ein Fund mit Waffen war ein Mann, einer mit Schmuck eine Frau. Nicht das Geschlecht definierte die Klassifizierung, sondern das Geschlechterbild – oder besser: Stereotype. Die zeitgenössische Vorstellung davon also, wie das Leben von Männern und Frauen aussah bzw. auszusehen hat. Aber:

Obwohl die alte Klassifizierung unser Bild von Männer- und Frauenrollen noch immer beeinflusst, hat sie mit der Realität nichts zu tun.

Einige Beispiele?

  • Als Forscher 1878 ein Wikingergrab entdeckten, war für sie völlig klar: Der offensichtlich hochangesehene Krieger war ein Mann. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert, bis man auf die Idee kam, diese Überzeugung zu hinterfragen. Die nachfolgende DNA-Analyse bewies: Das Skelett im Grab von Birka ist weiblich.[2]
  • Umdenken mussten Archäologen auch 2018 bei einem rund 9000 Jahre alten Grab in den peruanischen Anden. Neben den Knochen lagen umfangreiche Steinwerkzeuge. Alles, was benötigt wurde, um Großwild zu erlegen und zu verarbeiten. Aber auch hier: Der Jäger war eine Jägerin. Mehr noch: Sie war keine Ausnahmeerscheinung. Eine Überprüfung von Grabungen ähnlichen Alters in ganz Amerika zeigte, dass zwischen 30 und 50 Prozent der vermeintlichen Großwildjäger Frauen gewesen sein könnten.[3]
  • Dem Bild von klassischen „Männer- und Frauenrollen“ widersprechen auch Funde wie das Gräberfeld von Hallstatt. Hier zeigten Muskelmarker bei der Untersuchung der Knochen von Bergleuten aus der Eisenzeit, dass Frauen unter Tage ebenso harte Arbeit leisteten wie Männer. Letztere haben dagegen auch getöpfert, belegen frühzeitliche Tongefäße aus Franzhausen. Entgegen der verbreiteten Vorstellung, das sei ein typisches „Haushandwerk“, das Frauen nebenher erledigen, stammten 80 Prozent der Fingerabdrücke auf den Töpferwaren von Männern.[4]

Unser Geschlechterbild ist von gestern (nicht aus der Steinzeit)

Brigitte Röder, Professorin für Ur- und Frühgeschichte, geht davon aus, dass sich die Vorstellung von fest umrissenen steinzeitlichen Tätigkeitsbereichen vor etwa 300 Jahren entwickelt hat. Ihre These: Damals hat die bürgerliche Gesellschaft das Geschlechtermodell und das damit verknüpfte Familienmodell neu definiert. Der Mann als Ernährer und Familienoberhaupt, die Frau als Mutter, Ehefrau und Hausfrau. Mit diesem neuen Geschlechtermodell waren auch neue Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden, die möglicherweise legitimiert wurden, indem gesagt wurde, es sei „schon immer so“ gewesen.[5]

Auch die Neurowissenschaftlerin Gina Rippon stellt fest, dass seit dem 18. Jahrhundert die Vorstellung von „typisch Mann“, „typisch Frau“ rasant an Fahrt gewonnen hat, weil „man sich gerne darüber ausließ, wie die Gehirne von Männern und Frauen beschaffen sind – bevor man sie überhaupt ansehen konnte“.[6] Dabei seien die Unterschiede vernachlässigbar.

Auf Basis ihrer Forschung beschreibt sie die Vorstellung vom „weiblichen“ bzw. „männlichen“ Gehirn als „Neurodummheit“. So verschwänden beispielsweise die oft zitierten geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Schlüsselstrukturen, sobald der Unterschied in der Gehirngröße berücksichtigt werde. Das Stichwort zum Verständnis ist stattdessen „Neuronale Plastizität“. Dass sich neuronale Strukturen in Abhängigkeit von ihrer Verwendung verändern, ist inzwischen wissenschaftliche breit akzeptiert. Statt also auf einem „weiblichen“ oder „männlichen“ Gehirn, basieren unterschiedliche Verhaltensweisen auf der Welt, die uns umgibt – und auf Geschlechterstereotypen.

Die Debatte, ob geschlechtsspezifische Unterschiede auf „Natur“ oder „Erziehung“ basieren – auf „nature“ oder „nurture“ – hält Gina Rippon entsprechend für überholt. Stattdessen gelte es anzuerkennen, dass die Beziehung zwischen Gehirn und Welt keine Einbahnstraße ist, sondern ein ständiger Austausch in beide Richtungen.

Das Gehirn ist ein Regelfresser und es holt sich seine Regeln aus der Außenwelt. Die Regeln verändern die Funktionsweise des Gehirns und das Verhalten des Menschen.

Gina Rippon

Wenn also ein stereotypes Geschlechterbild alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, wird, so Gina Rippon weiter, „die ‚Geschlechterkluft‘ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.“

#BreakTheBias

Zurück also zum Anfang: Obwohl sie neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen längst nicht mehr Stand hält, verbreitet sich die veraltete Vorstellung von „typisch Mann“ und „typisch Frau“ ungebremst weiter – und mit tatkräftiger Hilfe vieler wohlmeinender Aktivistinnen. Der Grund? Sie sprechen viele Mitbürgerinnen und Mitbürger weiterhin an, und bedienen beliebte Stereotype und (unbewusste) Vorurteile. So tragisch es klingt: Denkfehler zu kultivieren ist bequemer, als sie herauszufordern und die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen.

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Zusammenfassung (Buch)

Schublade auf, Schublade zu

Warum es dringend an der Zeit ist, die Schubladen im Kopf zu lüften.

Jens Förster Droemer
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Wenn allerdings Menschen angeblich „weibliche“ oder „männliche“ Eigenschaften definieren oder zelebrieren, zementieren sie damit die existierenden Unterschiede. Nicht etwa, weil es naturgegeben oder gottgewollt wäre, sondern weil sie einem Narrativ folgen, das vor wenigen hundert Jahren entstanden ist, als sich „klassische“ Geschlechterrollen etablierten. Dem gilt es entgegenzuwirken, indem nicht mehr auf kurzfristige Konjunkturen der Aufmerksamkeit fokussiert wird, sondern auf mittel- und langfristigen gesellschaftlichen Wandel. Das Motto der UN für den Weltfrauentag 2022 – „Break the Bias“ – ist deshalb so wichtig: Es ist ein Wegweiser in die richtige Richtung für eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.

In meinen nächsten zwei Kolumnen werde ich mich mit Ihnen gemeinsam auf diesen Weg machen, und die hier dargelegte, aktuelle Faktenlage mit praktischem Wissen füllen, das Männer wie Frauen anwenden können, um einen Unterschied zu machen.


[1] https://www.nothnagel.blog/archiv/vikings-nordlndische-emanzipation-mythos-fiktion-oder-fakten/27/4?rq=wikinger

[2] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/schweden-wikinger-krieger-von-birka-war-eine-frau-a-1166985.html

[3] https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2020/11/praehistorische-jaegerinnen-widerlegen-alte-geschlechterrollen

[4] https://science.orf.at/v2/stories/2986031/

[5] https://www.swr.de/swr2/wissen/geschlechterbilder-steinzeit-sammler-jaegerin-100.html

[6] https://www.theguardian.com/science/2019/feb/24/meet-the-neuroscientist-shattering-the-myth-of-the-gendered-brain-gina-rippon

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Nächste Schritte:
Weitere praktische Tipps und Tricks bietet Fair führen. Das Buch wurde mit dem getAbstract International Book Award 2020 ausgezeichnet. Laut Jury liefert es „nicht weniger als das erforderliche Rüstzeug für zukunftsfähige Unternehmen – eloquent, sachkundig und inspirierend.“

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