Vor sich selbst lässt sich nicht wegrennen!
Die deutschen Arbeitnehmer sind wechselwillig. Das belegt eine aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young. Rund 50 Prozent der Befragten stehen einem neuen Job offen gegenüber. Viele sind aktiv auf der Suche und andere lassen den Headhunter recherchieren. Der Grund dafür ist in der Regel Unzufriedenheit: Job und Leidenschaft sind für viele Menschen zwei Paar Schuhe. Job ist eben Job und der Leidenschaft geht man in seiner Freizeit nach. Dort nennt sich das dann „Hobby“ oder „Ehrenamt“.
Der Wunsch, einfach wegrennen zu wollen
Als Führungskräftecoach und Sparringspartner bekomme ich seit vielen Jahren hautnah mit, was vor allem Geschäftsführer, C-Level und Führungskräfte bewegt. Und wer glaubt, dass hier die Zufriedenheit höher ist, der irrt. Ich würde sogar sagen, Unzufriedenheit ist hier besonders weit verbreitet.
Die Frage nach dem Sinn gewinnt seit einigen Jahren immer mehr an Bedeutung.
Gudrun Happich
Die Menschen stellen sich die Frage: Warum mache ich das eigentlich? Oder besser: Warum tu ich mir das an!? Man ist es leid, sich tagtäglich einer Aufgabe zu widmen, die einen persönlich nicht weiterbringt. Dazu kommt dann noch das oft eintönige und stressende operative Tagesgeschäft. Dieses macht selbst in den Top-Etagen noch 90 Prozent der Arbeit aus. Und ganz schnell lautet die Antwort auf die Frage „Will ich so arbeiten?“ dann „Nein“. Der Wunsch, zu gehen, wächst. Oder wie ich es gerne sage: die „Hauptsache weg hier“-Einstellung wird zur Lebenseinstellung.
Viele denken, dass Selbstverwirklichung ab einem gewissen Karrierelevel aufhört. Dass es mit wachsender Verantwortung schwierig wird, durch die eigene Arbeit Erfüllung zu erleben. Doch das ist nicht wahr. Es gibt genügend Beispiele von erfolgreichen Managern, die ihren Job mit Leidenschaft machen. Die genau deshalb so erfolgreich sind, weil sie in ihrer Rolle die eigenen Stärken und Werte leben können.
Wer unzufrieden ist, der kann das in der Regel nicht. Im Coaching ist es deshalb erstes und zentrales Element, dass sich mein Klient mit der Frage beschäftigt, was ihn antreibt. Welche Werte sind ihm wichtig? Wo liegen seine Stärken? Denn ohne diese innere Klarheit wird er auch in einem an sich tollen Job wahrscheinlich nicht glücklicher sein.
Mit Leidenschaft mehr erreichen
Für mich gehören Erfolg und Erfüllung fest zusammen und ich bin überzeugt, dass Karriere und Selbstverwirklichung einander sogar befeuern. Wenn Sie wissen, was Sie antreibt, Sie sich Ihrer Stärken, Werte und Ihrer Vision bewusst sind, werden Sie den idealen Job finden können. Oder Sie kreieren ihn einfach selbst. Dazu ein Beispiel aus meinem Arbeitsalltag:
Edmund ist Senior Manager in einem internationalen Konzern. Edmund ist unzufrieden und hat die Leidenschaft für seinen Job verloren. Corona und das damit verbundene Homeoffice haben ihn emotional noch weiter vom Unternehmen entfernt. Er sieht keinen Sinn mehr in seiner Arbeit. Und den oft an ihn herangetragenen Rat, dass es doch Zeit für einen weiteren Schritt nach oben sei, lehnt er ebenfalls dankend ab:
Noch mehr Stress und noch weniger Selbstverwirklichung? Nein, danke!
Edmunds Unzufriedenheit macht ihn anfällig für Anfragen von Headhuntern und für attraktive Stellenangebote. Edmund geht es also wie Tausenden anderen Arbeitnehmern: Sie suchen die Lösung für ihr „inneres“ Problem im Außen. Jemand soll kommen und es richten bzw.: Am neuen Arbeitsplatz wird’s schon besser werden. Doch ein Wechsel mit dieser Einstellung ist nicht die Lösung. Denn: Vor sich selbst lässt sich nicht wegrennen.
In unserem Gespräch ließ ich aus diesem Grund irgendwann den folgenden Satz fallen: „Wissen Sie, Studien haben gezeigt, dass sich die Produktivität um mehr als 30 Prozent steigern lässt, wenn Sie in Ihrer Leidenschaft tätig sind.“ Edmund war irritiert, sogar leicht schockiert. Nach einigen Minuten des Überlegens sagte er: „Wenn das stimmt, dann stelle ich mir die Frage, wie es überhaupt ein Arbeitgeber zulassen kann, dass ein Mensch einen Job macht, der nicht seine Leidenschaft ist.“ Eine richtige und wichtige Frage – und für Edmund der Startschuss zu einer Karriere, die er sich so bislang nicht hatte vorstellen können.
Eine Chipkarte für Ihre Karriere
Geholfen hat Edmund die Chipkartenmethode: Wir alle kennen Krankenkassen- und Bankkarten. Jede davon enthält einen Chip. Auf diesem sind unsere persönlichen Daten gespeichert. Kein Chip verfügt über das gleiche Profil, jeder für sich ist individuell. Und genau darum geht es bei dieser Methode: Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine solche Karte mit Ihrem persönlichen Profil zur Hand, wenn Sie nach dem passenden Job suchen. Sie könnten innerhalb weniger Sekunden für sich herausfinden, ob der Job und Sie auf einer Wellenlänge liegen! Sie ersparen sich so viele Fehlentscheidungen. Statt einen Wechsel am Gehalt, Titel oder anderen Dingen festzumachen, schauen Sie lieber, dass dieser Job mit Ihren Werten, Stärken, Erfahrungen zusammenpasst.
Es gibt so viele Menschen, die einen Job annehmen und sich täglich schmerzhaft verbiegen, um das gewünschte Jobprofil zu erfüllen.
Gudrun Happich
Das muss nicht sein. Ich rate ihnen dazu, erst einmal ein klares Profil der eigenen Person zu erstellen. Das dauert seine Zeit, lohnt sich aber. Was Sie dazu tun müssen:
- Finden Sie Ihre Vision. Die wichtigste Frage, die Sie sich selbst beantworten müssen, ist die, wohin Ihre Reise gehen soll. Wo wollen Sie in 5, 10 oder 15 Jahren stehen? Ihre Vision können Sie auf unterschiedlichen Wegen definieren. Da es hier um Leidenschaft, auch Träume und Werte geht, rate ich zu Methoden wie einer Traumreise, Wishstorming oder auch die Beschreibung des idealen Tages. Sie können es aber auch rational angehen, wichtig ist, dass Sie sich für diesen Schritt Zeit lassen.
- Ziel festlegen. Wenn Sie Ihre Vision gefunden haben, legen Sie ein berufliches Ziel fest. Was müssen Sie beruflich erreichen, um dieser Vision näher zu kommen? Wichtig: Das Ziel muss konkret, terminiert und realistisch sein.
- Rollendefinition. Im nächsten Schritt fragen Sie sich, in welcher Rolle Sie am meisten bewirken können. Dazu gehört auch, sich zu überlegen, ob Sie lieber Führungskraft oder Fachkraft sein möchten? Sind Sie eher Chef oder fühlen Sie sich wohler im Team? Arbeiten Sie gerne mit anderen oder forschen Sie lieber allein? Ebenfalls wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage, welcher Leistungstyp Sie sind. Grob lässt sich hier in Dauerläufer und Sprinter unterscheiden. Liegt es Ihnen mehr, konstant über einen langen Zeitraum zu arbeiten, oder arbeiten Sie eher fokussiert und in Etappen?
- Idealprofil erstellen. Nachdem Sie all diese Fragen für sich beantwortet haben, können Sie nun Ihr Profil bzw. Ihre Chipkarte erstellen. Dieses besteht zusammengefasst aus diesen Inhalten: Ihr idealer Platz, in der richtigen Umgebung, in der richtigen Rolle, mit der richtigen Aufgabe und in der besten Position.
Dass sich diese Arbeit lohnt, fand übrigens auch Edmund für sich heraus. In seinem Fall war es die Rolle des „People-Managers“, die ideal zu seinem Profil passte: „Ich möchte mich um die Belange der Mitarbeitenden kümmern und dafür sorgen, dass die Besten vom Markt bei uns anheuern. Ich möchte sie fördern und dafür sorgen, dass die besten Mitarbeitenden in die wichtigsten Projekte kommen.“
Dass es diese Position im Unternehmen bislang nicht gab, sorgte während unserer Zusammenarbeit für einen kurzen, mutlosen Moment. Doch gemeinsam entwickelten wir nicht nur das Profil des People-Managers, sondern auch eine entsprechende Argumentationskette. Und mit der überzeugte er auf ganzer Linie, zumal er in seiner neuen Rolle die Produktivität des gesamten Unternehmens steigern konnte. Und das nur, weil er die Menschen dort einsetzt, wo sie mit Leidenschaft ihrer Arbeit nachgehen können.
Auf Dauer glücklich im Job – starten Sie jetzt
Edmund wurde übrigens später noch zum Direktor ernannt. Er ist mit seiner Geschichte für mich das ideale Beispiel dafür, dass Karriere und Selbstverwirklichung hervorragend harmonieren können, mitunter ein- und dasselbe sind – und das auf (fast) allen Hierarchieebenen. Und wo sich das Umkrempeln als partout aussichtslos erweist, ist die Chipkartenmethode des Selbstprofilings die beste Methode, um für einen Jobwechsel vorzusorgen und soweit möglich sicherzustellen, dass man seine Stärken am neuen Ort ausspielen kann.
Jetzt stellt sich nur die Frage: Haben Sie den Mut, die Chipkarte für Ihre eigene Karriere einzusetzen, oder überlassen Sie Ihr Schicksal lieber den „üblichen“ Gerüchten im Markt, was alles nicht geht? Hier können Sie sich zur Unterstützung eine Blankovorlage sowie Beispiele für Ihre eigene Chipkarte herunterladen. Prägen Sie diese mit Ihrem Profil und finden Sie Ihre Traumrolle. Suchen Sie die Antworten und Lösungen für Ihre eigene Unzufriedenheit nicht mehr im Außen, gleich in einem anderen Unternehmen oder im Ausland. Die Antwort finden Sie bei sich selbst.
Über die Autorin:
Gudrun Happich unterstützt als Executive Business Coach Führungskräfte verschiedener Hierarchiestufen in Wirtschaftsunternehmen. Sie ist zudem Autorin der Bücher Herausforderungen im Führungsalltag, Was wirklich zählt! Mit Überzeugung führen und Ärmel hoch!. Sie ist zudem Gewinnerin des getAbstract Readers’ Choice Award im Jahr 2021.