„Personalabteilungen müssen dafür sorgen, dass der Wurm den Fischen schmeckt.“
Herr Böhler, Sie sind gelernter Zimmerer und bauen seit einigen Jahren eine alte Scheune zum Wohnhaus und Handwerkerhof um. Was müssen Sie neu lernen – und wie gehen Sie dabei vor?
Chris Böhler: Lernen muss ich sehr viel, und zwar permanent, da wir einige Gewerke haben, die nichts oder nur am Rande mit der Zimmerei zu tun haben. Beispielsweise stellt sich die Frage der Baubiologie: Was muss und darf ich tun, damit die Gebäudehülle uns nicht unter unseren Füßen wegfault? Oder Mauern, Verputzen und Ähnliches: Alles schon mal gesehen, alles schon mal gehört, aber halt noch nie gemacht und deshalb nicht verinnerlicht.
Konkreter?
Wir wollten für die Innenräume Lehmputz verwenden, was ich noch nie gemacht hatte. Eine Option wäre gewesen, ein Seminar zu belegen – es gibt hier einige Handwerker, die so etwas anbieten. Am Ende fielen die aber wegen Corona aus, und abgesehen davon habe ich dann immer die Schwierigkeit, dass ich die Technik nicht unmittelbar bei mir zu Hause anwenden kann. Letztlich habe ich mit dem Hersteller Kontakt aufgenommen. Er hat mir einige Dinge erklärt, und am Ende habe ich selbst zur Kelle gegriffen und darüber meine eigene Arbeitsweise entwickelt. In anderen Fällen haben wir gesagt: Okay, wir engagieren Handwerker, die sagen uns, wie es geht, wir laufen eine Weile mit und danach machen wir es selbst. Das war natürlich toll, weil wir vor Ort direkt Fragen stellen konnten und Tipps und Tricks vermittelt bekamen, die wir uns ansonsten selbst hätten erarbeiten müssen.
Die fünf Momente des Lernens
managerSeminare VerlagSie werben dafür, dieses Handwerker-Mindset auch im Business anzuwenden. Worin unterscheiden sich die Herangehensweisen?
Ich glaube, ein erster Unterschied zwischen dem Mindset eines Handwerkers und dem eines großen Unternehmens ist die Nähe zum Produkt und zum Kunden. Als Handwerker erzeuge ich, was ich verkaufe, und bin unmittelbar dafür verantwortlich. Ich selbst habe vor meiner Selbstständigkeit in der Personalentwicklung eines Energiekonzerns gearbeitet – doch mit dem Kerngeschäft hatte ich dort nichts zu tun. Der zweite Unterschied ist Pragmatismus: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, heißt es, nicht dem Angler. Viele Personalabteilungen schauen oft erst auf die Stakeholder oder Angler, bevor sie fragen, was Lernende wirklich brauchen – also ob ihnen der Wurm überhaupt schmeckt. Und der dritte Unterschied ist das, was ich Gewährleistung nenne:
Als Handwerker bin ich 30 Jahre lang für versteckte Mängel haftbar. Bezogen auf die Personalentwicklung sollte man sich fragen: Wie kann ich gewährleisten, dass das Wissen oder die Weiterbildung möglichst lange nachwirkt und Blüten trägt? Denn dann entwickle ich Maßnahmen mit einem ganz anderen Zeithorizont und lege den Schwerpunkt darauf, die Menschen zu befähigen, sich selbst zu helfen.
Chris Böhler
Und wie funktioniert das genau?
Nehmen wir die Digitalisierung. Inzwischen ist allen klar, dass das Wissen hier exponentiell schnell wächst und wir ohnehin nicht wissen, was in wenigen Jahren noch Bestand haben wird. Hier kommt das agile Lernen ins Spiel. Es ist im Prinzip genau die Art von Lernen, die ein Kind an den Tag legt: Es macht sich eine Vorstellung von etwas, experimentiert damit, zieht eigene Schlüsse, um dann weiter zu experimentieren, zu reflektieren usw. usf. Genauso lernt ein Kind laufen – empirisch, iterativ und damit agil. Wir können es also längst und müssen im Grunde nur unsere Erinnerung auffrischen. Natürlich ändert sich dabei die Rolle des Personalentwicklers, denn agiles Lernen braucht erfahrene Begleiter und eine ganz andere Form von Wissensvermittlung, damit Lernende in Iterationen denken und handeln können. Personalentwickler müssen letztlich viel mehr und ggf. auch individuellere Lösungen anbieten.
Sie sagen, der Schlüssel für erfolgreiches Lernen sei Relevanz. Was heißt das – und wie lässt sich diese erzeugen?
Zunächst einmal glaube ich, dass wir von Natur aus auf Energiesparen eingerichtet sind. Warum sollte ich etwas tun, was mir gar nichts nützt? Deshalb ist der Purpose so wichtig: Erst wenn ich den Zweck hinter etwas erkenne, wird in meinem Hirn Relevanz erzeugt. Nehmen wir das Beispiel Compliance. Der Zweck von Compliance-Schulungen ist das Verhindern von Organisationsverschulden. Bei Verletzung der Rechtspflicht – Schaffung eines Compliance-Systems – haftet der Vorstand persönlich, was vielen Leuten nicht bewusst ist. Das sollte eigentlich als Relevanz-Trigger ausreichen. Stattdessen lernen Mitarbeitende einfach nur die Compliance-Regularien: Was darf ich und was nicht? Das kann nicht zielführend sein. Hier spielt auch das Recruiting eine entscheidende Rolle:
Wenn wir feststellen, dass das, was jemand tut, nicht relevant ist für sein Leben – dann sollten wir die Person erst gar nicht einstellen. Kompetenz ist für mich die Summe aus Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrung, Geisteshaltung, Werten und Motivation.
Chris Böhler
Und gerade die letzten drei – Geisteshaltung, Werte und Motivation – werden meistens ignoriert, während sich Unternehmen vor allem auf Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Erfahrung fokussieren.
Warum fällt es manchen Organisationen denn so schwer, diese Erkenntnisse umzusetzen?
Das größte Hindernis sind wohl die Strukturen bzw. Menschen, die entweder nicht in der Lage oder nicht motiviert genug sind, ihren Job so zu tun, wie sie es eigentlich müssten. Hier würde es helfen, ihnen Mentoren oder Coaches an die Seite zu stellen. Ich habe das Konzept der People Partner vorgeschlagen: Ihr Job ist es, sich um die Belange der Mitarbeitenden zu kümmern und Stolpersteine zu beseitigen, um so ihre Leistungsfähigkeit zu sichern. Die Widerstände gegen durchgreifende Veränderungen sind jedoch enorm. Ein guter Freund von mir hat mal gesagt: Je höher man aufsteigt, desto mehr gucken Führungskräfte bei ihren Nachwuchskräften danach, dass sie so sind wie sie selbst. Sie wünschen sich ausdrücklich niemanden, der anders denkt, etwas infrage stellt oder neu macht – sondern streben vor allem nach Selbstbestätigung.
Sie fordern deshalb, mehr Synergien zwischen Lernen und Arbeiten zu schaffen. Wie das beim Hausbau funktioniert, haben Sie oben beschrieben. Was aber bedeutet dieses Prinzip in einem großen, arbeitsteiligen Unternehmen?
Im Handwerk ist der Mentor meist der Altgeselle oder Meister, der dich auch fachlich unterstützt. Während meiner Ausbildung war das etwa der Fall, wenn man mich an neuen Maschinen anlernte. Es war immer jemand dabei, so lange, bis ich die Maschine bedienen konnte, ohne mich zu verletzen. In vielen Unternehmen haben Führungskräfte jedoch gar keine Ahnung vom Fach. Fachkompetenz gilt sogar ausdrücklich als unerwünscht! Umgekehrt gibt es auch Fachkräfte, die von heute auf morgen zur Führungskraft ernannt, dann aber mit der neuen Aufgabe alleine gelassen werden. Beides führt zu Ärger und Frust.
Besser ist es, Mitarbeitende auf den Weg zu bringen, zu begleiten und zu sagen: Du weißt nicht, wie es geht, komm, ich zeig’s dir und dann machst du es nach. Und zwar so häufig, bis es sitzt und du alleine gehen kannst. Das ist es, was ich einen Handwerker-Mindset nenne. Es ist die Voraussetzung dafür, Lernen und Arbeiten sinnvoll miteinander zu verbinden.
Chris Böhler
Können Sie mir an dieser Stelle drei konkrete Tipps zum effektiven Lernen geben – gerne inspiriert von Ihren Erfahrungen als agiler Zimmermann.
Erstens: Geh dahin, wo deine Energie ist. Nur wer selbst für etwas brennt, kann in anderen ein Feuer entfachen – dieser Leitspruch trifft es sehr gut, denn wenn etwas für mein Leben und meine Arbeit relevant ist, dann fällt mir das Lernen automatisch viel leichter. Zweitens: Such dir erfahrene Mentoren und experimentiere. Und drittens: Reflektiere die Ergebnisse und passe deine Verhaltensweisen an die gewonnenen Erkenntnisse an.
Sie haben selbst nicht nur mit Lehmputz und Fachwerkbau experimentiert, sondern sind zur Verwirklichung Ihres Traums aus Hamburg nach Mecklenburg-Vorpommern aufs platte Land gezogen. Was haben Sie dabei lernen müssen?
Ich denke, wir mussten erfahren, dass wir etwas naiv an die Sache herangegangen waren. Als wir die Entscheidung trafen, hierherzuziehen, waren die Kinder meiner Partnerin 10 und 13. Wir dachten: Okay, sie sind noch jung, wechseln die Schule und dann wohnen wir alle hier. Doch dann hat das Bauamt den Bau erst einmal stillgelegt. In der Zwischenzeit kamen die Kinder in die Pubertät, und die jüngere Tochter wollte am Ende nicht mehr die Schule wechseln. Sie bleibt nun unter der Woche bei ihrem Vater in Hamburg. Hinzu kommt: In einer großen Stadt scheint alles unbegrenzt verfügbar. In Hamburg kommt man beispielsweise von jeder Haltestelle innerhalb des Stadtgebietes zu jedem anderen Punkt, ohne länger als fünf Minuten warten zu müssen. Auf dem Land ist man davon natürlich weit entfernt. Aber ich sehe das auch als Chance. Wahrscheinlich wird es hier eher als in der Stadt autonome Taxis auf Abruf geben. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, möchte ich einen Co-Working-Space und Handwerkerhof für Bastler aus der Stadt einrichten. Momentan arbeite ich daran, spezielle Boxen zu zimmern, die Hunden in Stadtwohnungen eine Rückzugsmöglichkeit bieten. Im Januar soll der Onlineshop live gehen. Ich sehe hier sehr viel Raum für Kreativität und Veränderung. Und ich glaube tatsächlich, dass auf dem Land langfristig mehr Musik ist.
Über den Autor
Chris Böhler ist gelernter Zimmerer und studierter Medieninformatiker. Er arbeitet als Berater und Coach mit den Schwerpunkten Lernen, Führung und Agilität. 2017 erwarb er eine alte Scheune in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern und baut sie seither zu einer Wohn-, Arbeits- und Begegnungsstätte um.