Folge 16: Der Flow
Schon wieder! Frustriert kneift Nina ihre Augen zusammen und schafft es so, sich aus dem tranceähnlichen Zustand zurückzuholen, in dem sie gerade die Uhr vor ihr an der Wand fixiert hat. Sie hatte sich doch wirklich vorgenommen, sich von nun an besser zu konzentrieren. Ihr Handy steckt vorbildlich weit entfernt in ihrer Tasche – und die wiederum steht bei der Garderobe. Zudem hat sich Nina extra Zeit reserviert, um bei genau dieser Aufgabe voranzukommen. Lange hat sie sich davor gedrückt, die Survey für das neue Projekt zu erstellen. Damit es diesmal mit der Ausarbeitung auch wirklich klappen würde, hatte sie sich schon fast gezwungen, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen – trotzdem will die Konzentration sich einfach nicht einstellen. Umso bitterer ist es, dass Nina plötzlich an „Flow“ denken muss – einen Begriff, den sie schon oft in Gesprächen mit Kollegen gehört hat und der wohl für das Aufgehen in und konzentrierte Arbeiten an einer Aufgabe stehen soll. Das könnte sie jetzt echt gut gebrauchen. Aber lässt sich so ein Flow erzwingen? Und was ist das eigentlich für ein „Gefühl“?
Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat den Flow-Begriff eingeführt. Ist man im Flow, vergisst man die Zeit und ist voll bei der Sache. Man befindet sich in einer Art Harmonie mit sich selbst, seiner Aufgabe und seiner Umwelt. Csikszentmihalyi nennt es das „Gegenteil psychischer Entropie“; denn im Bewusstsein muss Ordnung herrschen, damit wir uns voll auf eine Aufgabe einlassen können. Dann haben wir die „optimale Erfahrung“:
Jeder hat schon erlebt, dass man (…) sich in Kontrolle der eigenen Handlungen, als Herr des eigenen Schicksals fühlt. Bei diesen seltenen Gelegenheiten spürt man ein Gefühl von Hochstimmung, von tiefer Freude, das lange anhält und zu einem Maßstab dafür wird, wie das Leben aussehen sollte.
Mihaly Csikszentmihalyi
Eine solche Erfahrung kann zwar zufällig entstehen – aber nicht nur. Denn zu einem Flow-Ergebnis gehört immer auch ein kreatives Gefühl der Entdeckung, das wir etwa erleben, wenn wir an einer Herausforderung arbeiten. Es ist jedoch die Art der Herausforderung, die beeinflusst, ob wir ein Flow-Erlebnis haben – oder die es verhindert. Nur wenn unsere Fähigkeiten und die Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben, zueinander passen, ist Flow möglich. Ist die Herausforderung zu niedrig, langweilen wir uns. Ist sie zu anspruchsvoll, empfinden wir Unsicherheit. In beiden Situationen bleibt uns Flow verwehrt. Aber Achtung:
Es zählen nicht nur die ‚echten‘ Herausforderungen, die die Situation stellt, sondern auch jene, derer sich die Person bewusst ist. Nicht die Fähigkeiten, über die man tatsächlich verfügt, bestimmen, wie man sich fühlt, sondern jene, die man vermeintlich hat.
Mihaly Csikszentmihalyi
Zudem meint Csikszentmihalyi, dass wir gerade unsere Arbeit oft automatisch als mühselig framen, als Verschwendung psychischer Energie betrachten. So erschweren wir uns Flow-Möglichkeiten zusätzlich, selbst wenn Herausforderung und Fähigkeiten übereinstimmen:
Wenn es um die Arbeit geht, achten die Menschen nicht darauf, was ihnen die Sinne vermitteln. Sie missachten die Qualität der unmittelbaren Erfahrung und bauen ihre Motivation eher auf stark verwurzelten, kulturellen Stereotypen auf, wie Arbeit eigentlich zu betrachten sei. Sie halten sie für eine Last, einen Zwang, eine Beeinträchtigung ihrer Freiheit und daher für etwas, das man weitgehend vermeiden sollte.
Mihaly Csikszentmihalyi
Nina merkt, dass sie nicht gelangweilt von der Aufgabe ist – sie ist vielmehr unsicher. Sie fühlt sich der Herausforderung nicht gewachsen. Wenn sie jetzt so darüber nachdenkt, könnte auch das der Grund sein, warum sie sich schon so lange vor ähnlichen Aufgaben drückt. Eine kurzfristige Lösung gibt es dafür wohl nicht. In diesem konkreten Fall kann sie sich wohl zunächst nur darauf besinnen, warum sie dieses Projekt vorgeschlagen hat. Schließlich fand sie es sinnvoll und nachdem sie ihre Gedanken nun ein wenig sortiert hat, fällt es ihr auch schon leichter, die Aufgabe etwas positiver wahrzunehmen.
Um sich aber künftige Flow-Erlebnisse nicht zu verbauen und einfach allgemein ein wenig selbstsicherer zu werden, beschließt Nina, aktiv zu werden. Noch am selben Abend sucht sie sich einen Weiterbildungskurs heraus, den sie gerne besuchen möchte. Zwar hat sie noch nie von Kollegen oder Vorgesetzten die Rückmeldung bekommen, unzureichende Fähigkeiten zu haben; aber allein die Tatsache, wie überzeugt Nina von ihrer eigenen Inkompetenz ist, hat ihr und ihrer Karriere schon genug Steine in den Weg gelegt. Und wenn die Weiterbildung Nina nur zeigt, dass sie ihre Arbeit eigentlich gut beherrscht und sich ruhig mehr zutrauen darf – dann hat sich das schon ausgezahlt.
Ninas Welt
Nina ist 29 und Angestellte im Bereich Marktforschung. In ihrem Büroalltag erlebt sie immer wieder Situationen, in denen sie sich denkt: „Ich kann nicht die einzige mit diesem Problem sein.“ Wie gut, dass sie jetzt Zugang zur getAbstract-Bibliothek hat und ihre Lösungsvorschläge Gegenstand unserer neuen monatlichen Arbeitsweltkolumne sind, finden Sie nicht?
Und vielleicht erleben Sie in Ihrem eigenen Arbeitsalltag ja ähnliche Situationen wie Nina. Lassen Sie uns gerne daran teilhaben. Senden Sie einfach eine E-Mail an journal@getAbstract.com.