Humanocracy: die etwas andere Art, ein Unternehmen zu organisieren
Wir alle kennen den Frust, wenn unsere Arbeit durch administrative und regulative Auflagen ständig ins Stocken kommt. Wenn es nicht weitergeht, weil man für dieses oder jenes noch eine Bewilligung von oben benötigt – oder für den 2-Euro-Kaffee am Bahnhof die Quittung für die Spesen. Und doch ticken viele Unternehmen genau so: Die Selbstbestimmung fehlt, und hierarchische, bürokratisch organisierte Strukturen bestimmen die Tagesordnung.
Unsere Organisationen behindern sich selbst durch ihre Unmenschlichkeit.
Gary Hamel
In ihrem Buch Humanocracy zeigen die Wirtschaftswissenschaftler Gary Hamel und Michele Zanini, dass es auch anders geht. Wie zum Beispiel beim niederländischen Pflegedienst Buurtzorg. Hier agieren jeweils zehn Personen als autonomes Team ohne Teamleader und organisieren ihre Arbeit vollkommen eigenständig. Das Unternehmen selbst stellt „nur“ die notwendige Infrastruktur und IT zur Verfügung. Im Fokus steht hier immer der Kunde, der durch die Pflegerinnen und Pfleger nicht nur unter gesundheitlichen Aspekten betreut wird. Zu den Zielen gehören weiterhin die Einbeziehung von Familie und Nachbarschaft sowie die aktive Unterstützung und Förderung der Selbstständigkeit der Patienten.
Management anders denken
Laut Gary Hamel braucht es für die Umsetzung einer humanokratischen Organisation zunächst einmal ein neues Verständnis von „Leadership“. Führungspersönlichkeiten sind in seinen Augen Personen, die andere mobilisieren und dazu bringen können, an einem Strang zu ziehen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
Für ihn sagen Bezeichnungen wie Manager und Führungskraft nur darüber etwas aus, wo jemand in einem Unternehmen platziert ist. Über fachliche und auch soziale Kompetenz hingegen sagen sie uns nichts. Wie beim Konzept der Graswurzelinitiative kann wirklich jeder eine Führungskraft sein oder werden. Doch dazu braucht es Mut, Mitgefühl und vor allem Gemeinschaftssinn.
Die meisten Menschen und die meisten Teams sind heute in der Lage, sich selbst zu managen. Wir brauchen also Systeme und Prozesse für das gemeinsame Management, aber wir brauchen nicht eine Vielzahl von Managern, die ihre Hauptaufgabe in der Kontrolle und Überwachung sehen.
Gary Hamel
Hamel selbst hat unter anderem Adidas dabei unterstützt, einen Teil seiner Bürokratie und vor allem das hierarchische Denken loszuwerden. Parallel wurde zudem der Aufbau einer innovativeren Unternehmenskultur vorangetrieben. Was hat er getan?
- Hamel hat zunächst einmal Tausende Einzelhandelsmitarbeiter geschult, wie innovative Unternehmer zu denken.
- Er hat dargelegt, wie Innovationen möglich sind: etwa, indem ein „Netzwerk von Unternehmerfirmen“ innerhalb eines größeren Unternehmens gebildet wird. Dieser Rahmen erlaubt es den Mitarbeitern zu experimentieren, ohne Genehmigung von oben einzuholen, wenn wichtige Entscheidungen anstehen.
- Organisationen, in denen die Mitarbeiter auf diesem Weg ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, sind besser in der Lage, Probleme kreativ zu lösen.
- Die Mitarbeiter fühlen sich dort für wichtige Entscheidungen selbst verantwortlich und erhalten entsprechende Belohnungen für hervorragende Leistungen.
- Die tiefgreifendsten Veränderungen kamen dann von denjenigen Mitarbeitern, die sich am meisten für eine Veränderung ihrer Arbeit einsetzten.
Das Ergebnis waren bessere Prozesse und inspirierte Mitarbeiter.
Kann es in großen Unternehmen Unternehmergeist geben?
Global Peter Drucker ForumEinen Versuch ist es wert
Schaut man sich die erfolgreichen Unternehmer unserer Welt an, waren das nie Menschen, die einfach mal abgewartet haben. Ein Elon Musk, ein Jack Ma und ein Jeff Bezos haben einfach mal angefangen und probiert, wie weit sie mit ihrer Ideen kamen. Eine Erfolgsgarantie gibt es zwar nicht, aber wer nichts probiert und sich einfach in die herrschende Bürokratie einreiht, wird nie innovativ sein. In einer humanokratischen Organisation wird der Spieß deshalb umgedreht: Mitarbeiter müssen zu Aktivisten werden, die eigenständig Entscheidungen fällen und diese auch umsetzen dürfen. Die ihre Aufgaben selbstständig planen und mit den anderen Teammitgliedern abgleichen.
Es braucht niemanden mehr, der von oben herab Befehle gibt. Es braucht nur eine Struktur, die jeden einzelnen befähigt, sein Bestes geben zu können.
Denn wenn es nur darum geht, dass Arbeiten getan werden müssen – das Abarbeiten also zum zentralen Element einer Position wird –, werden zukünftig Roboter und künstliche Intelligenz diese Aufgaben besser übernehmen können als Menschen. Setzt man hingegen darauf, ein Unternehmen innovativ in die Zukunft zu führen, so braucht es immer nur kreativen menschlichen Input.
Nicht für jeden etwas
In Zukunft werden Dinge wie Flexibilität und Agilität weiter an Bedeutung gewinnen – und schwere bürokratische Mühlen werden immer öfter stecken und auf der Strecke bleiben. Entscheidend sind am Schluss die paar wenige Menschen, die bereit sind, sich einzusetzen: In einem Artikel im Harvard Business Manager erzählt Gary Hamel von dem US-Tomatenverarbeiter Morning Star. Auch hier managen sich die Angestellten selbst. Erstellen pro Jahr eigenständig eine Aufgabenbeschreibung, in der festgehalten wird, wie jede und jeder Einzelne zum Unternehmensziel beiträgt. Weiter entwickelt man bei Morning Star einen persönlichen operativen Plan inklusive Leistungskennzahlen.
Für das Unternehmen funktioniert das gut, die Umsatzzahlen stimmen. Es zeigt sich jedoch, dass trotz eines umfassenden Auswahlverfahrens und absoluter Transparenz viele mit dieser humanokratischen Arbeitsweise nicht zurechtkommen. Eine nicht geringe Anzahl an Mitarbeitern verlässt innerhalb der ersten zwei Jahre das Unternehmen wieder. Übertragen auf andere Organisationen lässt sich somit sagen: Humanokratie ist ein genialer Ansatz und kann sehr effektiv sein. Doch es braucht viel Mut dazu, Offenheit, Leistungswillen – und es braucht vor allem einen Anfang.
Das Drehen an kleinen, antibürokratischen Stellschrauben ist so einer: Wie wäre es mit folgender Idee? Ab sofort gibt es eine Tagespauschale für reisende Mitarbeiter, keine auf Kaffeebelegen basierende Spesenabrechnung mehr. Der Kollege hat weniger Ärger, die Finanzabteilung auch – und beide können teuer bezahlte Arbeitszeit mit Sinnvollerem verbringen. Generell gilt: Bewilligungsprozesse lassen sich oft am schnellsten verschlanken, mit enormen Freiheitsgewinnen für Ihr Unternehmen.
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