Nachher ist man nie schlauer
Nach der coronabedingten Lähmung platzten die gesellschaftlichen Haarrisse zu veritablen Konfliktspalten auf. Im Fußball spräche man von Nachtreten. So mehrten sich die Stimmen, die politische Führung habe „falsch“ entschieden, unangemessen eingeschränkt, Güter schlecht oder gar nicht abgewogen. Gekontert wird das mit „Nachher ist man immer schlauer“. Schon früh munitionierte sich der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Das erinnert an den dubiosen Bestseller einer australischen Hospizschwester, die ihren Patienten retrospektive Zerknirschung entlockte: „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“.
All diese Aussagen illustrieren eine Sehnsucht, die sich auf paradoxe Weise mit Kontingenz paart: Alles könnte anders sein. Oder praktischer: „Ich wünschte, ich hätte damals …“ Das sind jedoch Gedankenfallen, die den Kern von Führung und Lebensführung verkennen. Warum?
Entscheidungen sind keine Wahl
Zunächst ist zu unterscheiden zwischen Entscheidung und Wahl. Eine Wahl basiert auf Fakten, Tatsachen, Daten. Man hat genug Zeit, Ratgeber zu lesen, Experten zu befragen und unterschiedliche Perspektiven einzuholen. Insofern ist eine Wahl begründungsfähig und entsprechend zu rechtfertigen. Für sie gilt, dass man hinterher durchaus wissen kann, was man vorher hätte wissen müssen.
Man kann auch angeschnallt vom Himmel fallen.
Anders die Entscheidung. Ihre Konsequenzen sind nicht oder kaum vorhersehbar. Die Faktenlage ist zu dünn, um ein Risiko zu kalkulieren. Vergangene Erfahrungen helfen nicht für eine ungewisse Zukunft. Und es bleibt keine Zeit, Expertenrat einzuholen. Die Entscheidung ist also eine Wette in Situationen der Ungewissheit (nicht des Risikos, das wäre eine Wahl).
Entscheidungen sind (fast) nie falsch
Wir haben es bei Entscheidungen also nicht mit einer Mono-Rationalität zu tun, die auf einer allgemein nachvollziehbaren Vernunft sattelt (im Sinne von Habermas), auch nicht mit Multi-Rationalität (die im Sinne Luhmanns verschiedene gesellschaftliche Subsysteme repräsentiert), sondern mit gar keiner Rationalität. Da ist der Vorwurf der Willkür nicht weit. Und da der Selbstberuhigungsbedarf sozialer Systeme – erzeugt von Öffentlichkeit, Mitarbeitern oder Investoren – gross ist, versucht man zunächst, die Entscheidung mit Beraterhilfe zur Wahl zu verschieben.
Wenn das nicht gelingt, bewältigt man diese schwer erträgliche Situation mit Abwehrmechanismen: Bauchgefühl, Würfeln, Münzewerfen, Streichholzziehen, Kaffeesatzlesen, Glücksrad, Astrologie. Genau das ist das Einfallstor für Verschwörungstheorien aller Art. Da der Mensch ohne ein „Warum“ nicht leben kann, dies aber von der Entscheidungssituation verweigert wird, steuern dunkle Mächte im Hintergrund.
Entscheidungen sind unbeliebt
Sprachbildlich steht man hier also zwischen Pest und Cholera, Skylla und Charybdis, gleicht Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen zu verhungern droht. Auch Antigone winkt von Ferne. Deshalb kauft man so unsinnige Bücher wie Richtig entscheiden.
Dabei könnte man sich trösten: Außer in Extremfällen kann eine Entscheidung nicht falsch sein. Aber auch nicht richtig. Deshalb, mit dem Bauern Michael Billen, der nach 24 Jahren für die CDU aus dem rheinland-pfälzischen Landtag ausscheidet: „Reue gehört nicht in die Politik.“
Es gab und gibt keine Möglichkeit, eine alternative Entscheidung probeweise durchzuspielen. Man muss durch den Feuerreif des Zweifels springen, ohne zu wissen, wo man landet.
Mithin gibt es auch keine „schwierigen“ Entscheidungen – Entscheidungen sind immer schwierig, sonst wären sie keine. Viele Menschen entscheiden nicht, schieben Entscheidungen auf, weil sie fürchten, „falsch“ zu entscheiden. Retrospektiv sprechen sie dann von verpassten Gelegenheiten. „Hätte ich doch damals die Manuela geheiratet!“ „Ja, aber vielleicht wärst du mit Manuela heute noch viel unglücklicher!“
Insofern ist der Satz „Nachher ist man immer schlauer“ im Unwesentlichen richtig, im Wesentlichen falsch. Richtig: Man weiß erst nach einer Entscheidung, was man entschieden hat. Falsch: Die Alternative kennt man nicht und wird sie nie kennenlernen. Das Gegenteil zu behaupten ist ähnlich intelligent, wie Sterbende zu befragen, was sie in ihrem Leben hätten anders machen sollen. Siehe oben. Gar nichts hätten sie geändert – sonst hätten sie es getan! Aber die Informationslage und ihre Bewertung legten unter den damaligen Bedingungen genau dieses Verhalten nahe. Es gibt keine Lizenz zur Nachträglichkeit.
Was passiert, wenn man versucht, die Lebensmelodie rückwärts zu spielen, habe ich mit einem Augenzwinkern in einen Song gepackt – den „Rückwärtsblues“.
Song
Songtext
Rückwärtsblues
Ich sah wohl nicht sonderlich glücklich aus
Hatte den Blues und kam da nicht raus
Ich saß an der Bar, als dieser Mann reinkam
Er setzte sich zu mir, schaute mich fragend an
Ich sagte, ja ich hab meine Chance verpasst
Kennst du das Gefühl, wenn du’s vermasselt hast?
Ich war ein Idiot – das würd ich heute so sehen
Ich würd ne Menge tun, könnt ich die Zeit rückwärts drehen
Hey Mann, du gehst durch harte Zeiten
Hast Pech und steckst in Schwierigkeiten
Doch willst du wissen, was passiert …
Willst du wissen, was geschieht …
Willst du wissen, was du kriegst …
Wenn du den Blues rückwärts spielst?
Du kriegst den Hund zurück
Du kriegst dein Haus zurück
Du kriegst die vierte, dritte, zweite, erste Frau zurück
Dein Autowrack zurück
Den falschen Pass zurück
Den miesen Job, die Nacht im Knast, den ganzen Bullshit zurück
Verlierst den Vorderzahn
Trinkst wieder Lebertran
Kommst nicht an Tina, Lisa, Nina, Annalena ran
Verschießt den Elfer noch mal
Kommst viel zu früh noch mal
Behältst dein Pickelgesicht
Die Mädels wollen dich nicht
Bist nur ne kleine Nummer
Stirbst vor Liebeskummer
Schon um zehn zu Hause sein
Und da kümmert sich kein Schwein
Willst du dir das wirklich noch mal antun?
Hey Mann, lass dir das eine sagen
Du kannst die Engel nicht ohne Teufel haben
Jetzt weißt du, was passiert …
Jetzt weißt du, was geschieht …
Jetzt weißt du, was du kriegst …
Wenn du den Blues rückwärts spielst.
Ich gab zu, so hatte ich das noch nie gesehen
Und brauchte eine Zeit, um alles zu verstehen
Aber mir war klar – dass ich das nicht noch mal wollte
Ich stand grad auf – als er die Worte wiederholte
Hey Mann, lass dir das eine sagen
Du kannst die Engel nicht ohne Teufel haben
Jetzt weißt du, was passiert …
Jetzt weißt du, was geschieht …
Jetzt weißt du, was du kriegst …
Wenn du den Blues rückwärts spielst.
Von Reinhard K. Sprenger zum Thema erschienen:
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