Die Welt ist antiintuitiv und anstrengend
Stellen Sie sich ein würfelförmiges Becken mit einer Kantenlänge von einem Kilometer vor. Das Becken ist randvoll gefüllt mit Wasser. Im Boden befindet sich ein Loch, aus dem pro Sekunde 100 Liter auslaufen. Wie lange dauert es, bis das Becken leer ist? Ein paar Minuten? Ein paar Stunden? Ein paar Tage? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr?
Ich stelle diese Frage sehr oft in meinen Vorträgen und erlebe jedes Mal, wie irritiert die Zuhörer reagieren, wenn ich ihnen die korrekte Antwort präsentiere: 317 Jahre. Also fast so lange wie das Ausarbeiten einer bürgerfreundlichen Steuerreform.
Hinweis
Als Vortragsredner spricht unser Kolumnist Vince Ebert auf Kongressen, Tagungen und Firmenfeiern in deutscher und englischer Sprache zu den Themen Erfolg, Innovation und Digitalisierung. Hier können Sie Vince Ebert als Keynote-Speaker für Ihren Event engagieren.
Wir reagieren deshalb so irritiert, weil das Ergebnis unserer Intuition vollkommen zuwiderläuft. Und das ist ein Grund dafür, weshalb sich viele Menschen mit Wissenschaft so schwertun. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind sehr oft antiintuitiv. Sie passen nicht zu unseren natürlichen Erwartungen und widersprechen unserem Bauchgefühl.
Die Sache mit der Intuition
Große wissenschaftliche Erkenntnisse liegen fast immer jenseits unserer alltäglichen Erfahrungswelt. Sie passen oft nicht zu unseren natürlichen Erwartungen.
Das bedeutet nicht, dass die menschliche Intuition keine fantastische Gabe ist. Immerhin sind wir fähig, recht schnell zu erahnen, ob die Gruppe Jugendlicher, die uns in einer dunklen Gasse entgegenkommt, harmlos oder gefährlich ist. Wir spüren auch sofort, ob der neue Chef sympathisch ist oder ein Stinkstiefel.
Der Psychologe Gerd Gigerenzer berichtet in seinem Buch Bauchentscheidungen von einem Professorenkollegen, der seinen Studenten ein sehr kurzes Video von einem ihnen unbekannten Dozenten vorgespielt und sie danach gebeten hat, einzuschätzen, wie kompetent dieser Dozent denn wohl sei. Zu seiner Verblüffung deckten sich die Einschätzungen mit den Bewertungen anderer Studenten, die von diesem Dozenten ein ganzes Semester lang unterrichtet wurden.
Diese beeindruckenden Fähigkeiten haben wir im Laufe von Jahrmillionen der Evolutionsgeschichte perfektioniert. Wenn in der Steinzeit ein männlicher Homo sapiens an ein Wasserloch kam und dort auf einen fremden Artgenossen traf, so musste er blitzschnell ein paar fundamentale Fragen beantworten: Männlich oder weiblich? Wenn weiblich, paarungsbereit oder nicht? Wenn männlich, Freund oder Feind? Wenn Feind, stärker oder schwächer? Innerhalb von Sekundenbruchteilen musste er eine klare Entscheidung treffen. Denn: Sonst gab es nichts mehr zu entscheiden!
Kein Meeting, kein Coaching, keine Mediation, kein Telefonjoker. Im Grunde lief vor 300.000 Jahren alles auf eine entscheidende Frage hinaus: Sex oder Krieg? Und dann kam Starbucks. Dort treffen wir fünf, sechs fundamentale Entscheidungen in Sekundenbruchteilen nur schon, um einen blöden Kaffee zu bekommen. Soja, Frappuccino, Latte, Grande, Doubleshot?
Nichtsdestotrotz basieren in unserer modernen Zivilisation die meisten klugen strategischen Entscheidungen auf einem vollkommen anderen Denkmuster als dem unserer primitiven Vorfahren. Egal ob es um die Entwicklung eines neuen Betriebssystems, den Umgang mit einer Pandemie oder einfach nur um unsere Altersvorsorge geht: Im 21. Jahrhundert müssen wir die meisten unserer Entscheidungen lang und breit analysieren.
Kommt Zeit, kommt Rat
Wir müssen planen, konstruieren und dazu aufwändiges Datenmaterial sichten. Mithilfe von Statistiken müssen wir Risiken und Chancen berechnen und uns in wissenschaftliche Studien einarbeiten. Und oft genug ist unser mühsam errechnetes Ergebnis dann auch noch das genaue Gegenteil von dem, was uns unser Bauchgefühl sagt. Schrecklich, wie anstrengend unser modernes Leben ist!
Einen guten Freund aus 60 Metern von hinten zu erkennen, das fällt uns leicht. Selbst ein moderner Supercomputer tut sich damit aber immer noch schwer. Der hat nämlich keinen guten Freund. Dafür kann der blitzschnell 746 mit 85 multiplizieren. Ein Mensch, der das kann, hat meistens wiederum keinen guten Freund.
Der Psychologe Daniel Kahneman beschäftigt sich in seiner Forschung seit Jahrzehnten mit diesem menschlichen Dilemma. Kahneman geht davon aus, dass es zwei grundsätzliche Arten von Denken gibt: A) das intuitive und B) das rationale Denken. Das Problem dabei: Unser intuitives Denken zieht extrem schnell Schlussfolgerungen, lange bevor das rationale Denken überhaupt so richtig in Fahrt kommt. Das ist sinnvoll, wenn Sie in einer Höhle sitzen und plötzlich ein Säbelzahntiger hereinschneit. Heute jedoch geht von Säbelzahntigern keine große Gefahr mehr aus, unser Gehirn allerdings wirft noch immer die gleiche Panikmaschinerie beim Anblick von Versicherungsvertretern und Gebrauchtwagenhändlern in Gang.
Deswegen mein Tipp: Wenn Sie Zeit für eine Entscheidung haben, widerstehen Sie Ihrer Intuition und geben Sie stattdessen Ihrer Ratio eine Chance. Das dauert zwar länger und ist mitunter ziemlich anstrengend. Aber Ihr Gehirn wird Sie dafür positiv überraschen.
Vince Ebert ist Diplom-Physiker, Wissenschaftskabarettist und Bestsellerautor. Sein Anliegen ist die Vermittlung wissenschaftlicher Zusammenhänge mit den Gesetzen des Humors. Seit 2004 ist er erfolgreich auf deutschsprachigen Bühnen unterwegs, aktuell mit seinem neuen Programm „Make Science Great Again!“ (Tickets & mehr …). Seine Bücher verkauften sich über eine halbe Million Mal und standen monatelang auf den Bestsellerlisten. In der ARD moderiert er regelmäßig die Sendung „Wissen vor acht – Werkstatt“.
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Foto: Frank Eidel