„Suchen Sie bewusst kritische Meinungen!“
Herr Meissner, was sind gute Entscheidungen und wie bewertet man sie?
Philip Meissner: Da gibt es verschiedene Sichtweisen. Wir tendieren oft dazu, Entscheidungen im Nachhinein zu bewerten. Oft ist es aber sinnvoller, Entscheidungen zum Zeitpunkt der Entscheidung zu bewerten und sich dabei fragen, welchen Prozess man gewählt hat, um diese eine zu treffen.
Welche Vorteile hat das?
Wenn man eine Entscheidung vom Ergebnis her betrachtet, analysiert man ganz viele Dinge, die man zum Zeitpunkt der Entscheidung noch gar nicht wissen konnte und auf die man keinen Einfluss hatte. Die Umwelt aber entwickelt sich dynamisch. Oder einfacher: Bewertet man Entscheidungen im Nachhinein, ist man sich selbst gegenüber unfair. Das muss nicht sein! Ich habe mich in der Forschung zehn Jahre mit dem Thema Entscheidungen beschäftigt und verhaltenswissenschaftliche Studien zu dem Thema gemacht. Dabei habe ich beobachtet, dass es ganz viele wissenschaftliche Erkenntnisse darüber gibt, wie man eigentlich Entscheidungen trifft und ganz viele Tools, die aber einer breiten Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Die Idee des Buches war deshalb, eine Brücke zu schlagen und diese wissenschaftlichen Erkenntnisse so aufzubereiten, dass sie leicht verständlich und anzuwenden sind.
In Entscheiden ist einfach empfehlen Sie, sich an methodischen Entscheidungsprozessen zu orientieren, die helfen, typische Denkfehler zu vermeiden. Dabei nennen sie eine ganze Reihe von Effekten. Sehr einprägsam ist Beispiel der Begriff des Ikea-Effekts. Was beschreibt dieser?
Der bezeichnet, dass man Dinge, die man selber macht, deutlich besser findet, als wenn man sie nicht selber macht. Das spielt auf das Möbelstück an, das man selber aufgebaut hat und das man dann viel toller findet, weil man es selbst aufgebaut hat. Da ist man in seiner Beurteilung dann nicht ganz objektiv. Das ist eine Verzerrung: Man bewertet Dinge anders, allein deshalb, weil man sie selber gemacht hat. Dabei dürfte das auf die Bewertung selbst eigentlich keinen Effekt haben.
Das klingt, als ob Emotionen den Entscheidungsprozess behindern?
Unsere Entscheidungen sind fast immer von Emotionen beeinflusst. Die Forschung zeigt, dass dies oft nicht zu unserem Vorteil ist.
Besonders unser Gefühl für Fairness verleitet uns oft zu nachteiligen Entscheidungen.
Philip Meissner
Zum Beispiel wenn wir im Gefühl, übervorteilt zu werden, ein unfaires Angebot ablehnen. Selbst wenn wir dabei eigentlich nichts zu verlieren gehabt hätten.
Sie raten deshalb, sich an Warum-Fragen zu orientieren. Was heißt das genau?
Am Anfang des Entscheidungsprozesses sollte man das Problem genau definieren, um das sich die Entscheidung dreht. Oft lösen wir mit unseren Entscheidungen gar nicht das Kern-Problem, sondern eher die Symptome, die offensichtlich sind. Die Warum-Fragen helfen, eine Ebene tiefer zu kommen – um die Symptome von den Problemen zu trennen. Und wenn man dreimal „Warum?“ fragt, ist man der Ursache schon sehr stark auf den Grund gekommen. Dann kann man über das tatsächliche Problem nachdenken und eine Entscheidung treffen, die das ursächliche Problem dann auch löst. Durch die Warum-Fragen vermeidet man psychologische Selbstsabotage. Am Anfang gilt es, herauszufinden, wozu genau man sich überhaupt entscheiden will.
Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren?
Nehmen wir die Situation im Arbeitsalltag: Hier kommt oft vor, dass man eine Kündigung erwägt, wenn man mit dem Job unzufrieden ist. Womöglich ist es aber gar nicht die Firma, die das Problem darstellt. Oft fühlt man sich im Unternehmen wohl, kann aber nicht mit dem Chef. Eine Versetzung innerhalb der Firma wäre also vielleicht viel besser geeignet, die eigene Situation zu verbessern. Mit Warum-Fragen kann man solche Probleme relativ leicht analysieren.
Was sind weitere typische Denkfehler?
Man kann grundsätzlich zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Denkfehlern unterscheiden. Denkfehler, die uns selbst betreffen und Denkfehler, die unsere Umwelt betreffen. Ein Beispiel ist, dass wir uns selbst überschätzen:
Wir überschätzen unsere eigenen Fähigkeiten, wir überschätzen die Art und Weise, wie wir die Zukunft voraussagen können und das führt dazu, dass wir sehr viel risikoreichere Entscheidungen treffen, als es vielleicht sinnvoll wäre.
Philip Meissner
Und: Wir unterschätzen gern, welchen Einfluss die Welt auf uns und unsere Entscheidungen hat. Wir leben in einer Zeit, die viel schneller und deutlich technologisch geprägter ist als noch vor fünfzig Jahren. Das offenkundigste Beispiel dafür sind die Sozialen Medien.
Deutsche Nutzer verbringen im Schnitt weit über zwei Stunden täglich auf Social Media. Was aber haben die Sozialen Medien mit Entscheidungen zu tun?
Hier sind zwei Dinge wichtig: Zum einen verringern ständiges Multitasking und suchterzeugender Medienkonsum nachweislich unsere Entscheidungsfähigkeit. Zum anderen leben wir durch Social Media teilweise in sogenannten Filter-Bubbles, in denen wir fast keine ausgewogenen Informationen mehr bekommen, letztere sind aber für eine gute Entscheidung notwendig.
Und meist ist einem nicht bewusst, dass die Suchergebnisse und Inhalte durch Algorithmen gefiltert werden.
Genau. Dadurch erleben wir fast gar keine unterschiedlichen Sichtweisen mehr, sondern erhalten immer wieder eine Art selbstreferentielles Meinungsbild. All das sind Faktoren, die es so vor 50 Jahren noch nicht gab und die Entscheidungen heute anders und möglicherweise auch schwieriger machen.
Ganz grundsätzlich: Warum ist entscheiden wichtig?
Da muss man verschiedene Ebenen unterscheiden. Im Unternehmenskontext gibt es unterschiedlichste Studien, die zeigen, dass Entscheidungen wichtig sind. Die Unternehmensberatung Bain hat gezeigt, dass Unternehmen, die gute Entscheidungsprozesse haben, fünfmal höheren Umsatz und fünfmal höheren Gewinn machen.
McKinsey hat eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass sich der Return on Investment durch gute Entscheidungen um bis zu sechs Prozentpunkte steigern lässt.
Philip Meissner
In Unternehmenskontexten wirken sich Entscheidungen also unmittelbar auf den Gewinn und den Umsatz aus. Am Ende ist ja jede Strategie, jede Weichenstellung innerhalb eines Unternehmens eine Entscheidung. Und wenn wir diese besser treffen und bessere Methoden anwenden, um sie zu treffen, dann kann man gut nachvollziehen, warum das so signifikant gute finanzielle Effekte hat.
Und wie sieht das im Privatleben aus? In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Mensch täglich bis zu 20.000 Entscheidungen trifft.
Hier ist das ganz ähnlich: Wir treffen viele weitreichende Entscheidungen, die unser Leben beeinflussen, wenn wir uns beispielsweise fragen, in welcher Stadt wir wohnen, welchen Lebenspartner wir wählen, für welchen Job wir uns entscheiden und wann wir ihn wechseln. Das sind Dinge, die großen Einfluss auf uns haben…
…und deswegen haben wir mitunter auch Angst vor ihnen?
Es sind die Konsequenzen, die uns Sorgen machen, nicht allein die Entscheidungen. Deshalb fürchten wir uns davor, etwas Falsches zu machen und mit diesen negativen Konsequenzen leben zu müssen. Oft hat man auch Angst, etwas zu verpassen, was sich noch in der Zukunft ergeben könnte. Man hofft immer darauf, dass man morgen oder in einer Woche neue Informationen bekommt, die dann alles ändern. Und damit schiebt man dann eine Entscheidung immer weiter heraus.
Ein alltäglicher Tipp lautet: Lass dich beraten! Kann man dabei etwas falsch machen?
Das Wichtige ist, dass man unterschiedliche Perspektiven mitbekommt, wenn man sich Ratschläge holt.
Um Rat zu fragen, ist keine Schwäche, ganz im Gegenteil. Aber man muss seinen Ratgeber gut auswählen.
Philip Meissner
Suchen Sie bewusst kritische Meinungen! Und fragen Sie auch Leute, die das Problem, vor dem Sie stehen steht, schon einmal gelöst haben. Oft tendieren wir aber dazu, unsere Freunde zu fragen, die in der Regel ihre eigenen Interessen haben und die dadurch vielleicht nicht ganz objektiv oder unvoreingenommen sind. Häufig ähneln sich zudem die Sichtweisen bei Freunden. Und unterschätzen Sie nicht den Hang zum Konformismus! Oft sprechen Freunde Kritik nicht aus, um sich nicht gegenseitig zu verletzen. Durch solche „Berater“ erweitern wir unser Sichtfeld kaum.
In der Forschung nennt man dieses Phänomen Bestätigungsfehler.
Genau: Dieser Begriff beschreibt unsere Neigung, an unserer eigenen Meinung festzuhalten. Andere Meinungen und widersprechende Informationen blenden wir dadurch oft aus. Unter Stress verstärkt sich diese Neigung zusätzlich: Wir nehmen dann Kritik nicht ernst und konzentrieren uns auf die Informationen, die unsere Meinung bestätigen. Das nennt man dann Informationsblase. Und durch die Sozialen Medien werden diese Blasen dann oft noch größer.
In besonders kniffligen Entscheidungs-Situationen raten Sie zu einem Stresstest: Wie funktioniert das?
Der Stresstest hilft der sogenannten Kontrollillusion aus dem Weg zu gehen. Diese lässt uns glauben, wir könnten Ereignisse oder Entwicklungen beeinflussen, die in Wahrheit außerhalb unserer Kontrolle liegen. Das macht uns blind für die Rolle des Zufalls. Der Stresstest setzt hier an: Man setzt sich dabei mit den Downsides auseinander. Man stellt sich also die Frage, was eigentlich schief gehen und wie man sich dagegen absichern kann. Man bewertet also die Risiken einer Entscheidung und analysiert für sich, ob es sich um Risiken handelt, die man managen kann und bereit ist zu akzeptieren.
Überraschenderweise schreiben Sie, dass Schlafen beim Entscheiden hilft: Warum?
Nicht das Schlafen selbst ist dabei wichtig, sondern das was dabei passiert. Im Wesentlichen geht es um unbewusste Denkprozesse. Da hilft Schlafen, weil dabei das Unterbewusstsein aktiviert wird. Aber genauso kann man zum Beispiel auch Joggen gehen oder eine Runde Tetris spielen. Es geht darum, etwas zu tun, das einen komplett vereinnahmt, damit die gesamte Aufmerksamkeit auf diese Aktivität gelenkt wird. Und dadurch eben nicht auf die Entscheidung, vor der man eigentlich steht. Erst dann laufen in unserem Gehirn unterbewusste Prozesse an und ab, die dann wiederum helfen, die Entscheidung zu treffen.
Können auch so klassische Ansätze wie Deadlines oder To-Do-Listen helfen, sich besser zu entscheiden?
Deadlines sind sehr hilfreich, weil sie einen zwingen, eine Entscheidung dann auch wirklich zu treffen. Allerdings helfen sie erst am Ende eines Entscheidungsprozesses. Man sollte sich auf den Prozess verlassen, nach dem man sich entscheiden will. Eine Deadline am Ende kann dann dazu beitragen, dass man, obwohl man alles unternommen hat, eine Entscheidung nicht noch weiter hinausschiebt. Das eben tun wir gerne, weil wir dann doch hoffen, dass noch eine neue Information kommt, die alles verändert. Deswegen ist es ganz wichtig, irgendwann einen Schlussstrich zu ziehen – mit den Informationen, die man zu diesem Zeitpunkt hat.
Kann man Entscheiden trainieren?
Man kann sich damit beschäftigen, wie Methoden funktionieren, die beim Entscheiden helfen. Das ist der erste Schritt. Man sollte sich damit auseinandersetzten und analysieren, was ein guter Prozess ist, um sich zu entscheiden und was die Probleme sind, die es dabei gibt. Und dann kann man diese Methoden an kleinen Entscheidungen trainieren. Sprich: Man entscheidet bewusst ganz banale Dinge, etwa wie man den Abend verbringt: Gehen wir ins Kino, Essen oder bleiben wir zu Hause? Wenn man das an kleinen Dingen übt, wird man routiniert und dann fällt es einem auch leichter, große Entscheidungen zu treffen.
Welche Entscheidung haben Sie in letzter Zeit bereut?
Bereut – das empfinde ich immer als sehr schwierigen Begriff in diesem Zusammenhang. Aber etwas von dem ich rückblickend sage, das hätte ich viel früher anfangen sollen, ist die Meditation. Das mache ich seit sieben Jahren und es hat für mich unglaublich viele positive Effekte. Auch beim Entscheiden. Hätte ich das mit zwanzig gewusst, hätte das sicherlich geholfen. Aber ich würde nicht sagen, dass ich das bereue. Denn bereuen heißt ja, dass man etwas retrospektiv und auf dem Ergebnis basierend bewertet – mit neuen Informationen, die man zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht hatte. Das ist dann genau das, was man, Sie erinnern sich, nicht machen sollte.
Warum hilft Meditieren beim Entscheiden?
Meditation ist ein sehr starkes Tool, weil es eine Art Workout für den Kopf ist.
Es ist doch erstaunlich, wie selbstverständlich es für uns ist, Sport zu treiben, um unseren Körper fitzuhalten, wir aber in der Regel für unseren Kopf kein wirkliches Training absolvieren.
Philip Meissner
Wir halten das Gehirn nicht in gleichem Maße fit wie unseren Körper. Und genau dabei kann die Meditation helfen.
Wie genau?
Es gibt neuro-wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass sich die Gehirnstrukturen beim Meditieren verändern. Und dabei der Teil des Gehirns wächst, der dafür zuständig ist, dass man seine Emotionen kontrollieren kann. Dadurch kann man sich besser fokussieren. All das sind Dinge, die man bei der Meditation trainieren kann und die dann auch beim Entscheiden helfen.
Politikerinnen und Politiker treffen derzeit in der Corona-Krise geradezu tagtäglich weitreichende Entscheidungen. Was könnten sie aus Ihrem Buch lernen?
Im Moment haben wir es mit einer sehr schwierigen Entscheidungssituation zu tun. In der Regel sind momentan alle Optionen, die man hat, negativ. Es gibt derzeit kaum eine wirklich gute Option. Da ist es dann auch schwer mit den Ratschlägen. Was ich aber empfehlen würde, ist, diversere Perspektiven in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen. Bei den Gipfeln im deutschen Kanzleramt sind wissenschaftliche Experten gefragt. Aus meiner Sicht aber sind da vor allem Virologen und zuletzt eine Psychologin dabei. Die wirtschaftliche Perspektive fehlt dabei beispielsweise komplett. Man könnte auch fragen, was die Perspektiven von Eltern in dieser Situation sind. Oder was für psychologische Folgen zu erwarten sind? All diese Fragen würden ein breiteres Bild geben als die rein virologische Betrachtung. Dazu würde ich raten: Stärker weitere Optionen in den Entscheidungsraum zu integrieren, die bisher noch nicht existieren.
Über den Autor
Philip Meissner ist Professor für strategisches Management und Entscheidungsfindung an der ESCP Europe Berlin.