Schule ist mehr als Lernfabrik
In den vergangenen vier Monaten wurden über 10 Millionen Schüler in Deutschland – gemeinsam mit Ihren Eltern – ins Home Office geschickt, und dort mit Behelfsmaterial „unterrichtet“. Was bisher als sogenanntes „Homeschooling“ nur von einer religiös-radikalen oder pädagogisch-engagierten Minderheit von Eltern an der Grenze zur Illegalität gegen staatliche Zugriffe verteidigt werden musste, ist also auf einmal staatlich verordnete Normalität geworden. So zumindest scheint es.
Bei Licht betrachtet hat allerdings das, was Schülern und Eltern zugemutet wurde, wenig mit dem zu tun, wofür Homeschooling eigentlich steht. In der Erziehungswissenschaft bezeichnet man damit eine pädagogische Bewegung, die es besonders sensiblen Kindern oder besonders schulkritischen Eltern ermöglichen will, individuelle Bildungswege einzuschlagen. Nicht das „Angebot von der Stange“ also, sondern liebevoll maßgeschneiderte Lernchancen für das einzelne Individuum sollen dabei im Vordergrund stehen.
Der Faktor Zeit
Diese Form von freiwillig praktiziertem Heim-Unterricht durch Eltern setzt allerdings die Verfügbarkeit von großen zeitlichen Ressourcen auf Seiten der Eltern voraus. In der Regel also auch gute finanzielle Verhältnisse. Und ebenso setzt es den Willen, das Geschick und die Kenntnisse voraus, die Lerninhalte der verschiedensten Fächer selbst zu erarbeiten, um sie den Kindern dann erfolgreich zu vermitteln. Das ist natürlich etwas ganz Anderes als das, was wir in Zeiten der flächendeckend geschlossenen Schulen erleben. Elektronisch verschickte Lückentexte und Arbeitsblätter, mit denen Eltern, Schülerinnen und Schüler allein gelassen werden – das ist kein Homeschooling, das ist noch nicht einmal Fernunterricht.
Das ist nicht mehr als eine pädagogische Zumutung!
Heiner Barz
Selbst, wenn die Mütter oder Väter nichts anderes zu tun hätten, als ihre Kinder in den eigenen vier Wänden zu unterrichten, wäre es eine Überforderung – denn dafür sind sie weder fachlich noch didaktisch ausgebildet. Sicher gibt es Naturtalente und sicher können manche Eltern manches besser erklären als manche Lehrer. Aber bisher ging man eigentlich davon aus, dass das Lehramtsstudium zwar keine pädagogischen Superhelden – aber doch einigermaßen brauchbare Wissensvermittler hervorbringt. Und wenn dann in den höheren Klassen auch noch erwartet wird, dass die Schülerinnen und Schüler sich die Inhalte im Selbststudium erarbeiten, sie übend anwenden und dann das Problemlösen und den Lerntransfer selbständig hinbekommen, um anschließend über entsprechende fachliche und überfachliche Kompetenzen zu verfügen … dann fragt man sich, ob eigentlich die gesamte Bildungsforschung der letzten Jahrzehnte und sämtliche Lehrerbildungskurse nur Selbstzweck gewesen waren – denn offenbar geht Schule auch ganz ohne all das.
Der Schalter wurde einfach von heute auf morgen von schulischem Unterricht auf digital übermittelte „Haus“-Aufgaben umgestellt. Unter der Maxime „Whatever it takes“ konnte man im Kampf gegen das Coronavirus auf Empfindlichkeiten von Kindern, Eltern oder Lehrern offenbar keine Rücksicht nehmen. Was dabei herausgekommen ist, wird unterschiedlich bewertet.
Kollektive Überforderung
Während viele mediale Berichte sich zunächst in idyllischen Schilderungen der „neuen Nähe“ und der vorbildlichen familiären Solidarität ergingen, witterten die Propheten der Digitalisierung nun den langersehnten Schub in Richtung „digitaler Bildungsrevolution“. Die Realität in den Wohnungen, in denen die Menschen unter dem freundlichen Slogan „Wir bleiben zuhause“ eingesperrt wurden, sah dagegen meist anders aus.
Vom 2.-14. April 2020 hat die Vodafone Stiftung eine Befragung von 310 Lehrkräften durchführen lassen. Das ernüchternde Ergebnis: „Die Mehrheit aller Eltern fühlt sich dem Homeschooling auf Dauer nicht gewachsen. Fast drei Viertel (73 Prozent) sehen es kritisch, ihre Kinder über einen längeren Zeitraum zu Hause beim Lernen zu unterstützen. Schulen und Lehrkräfte versenden zwar Unterrichtsmaterialien, bieten aber kaum interaktive Formate an. Bei der Bearbeitung sind die Schülerinnen und Schüler mit ihren Eltern somit weitgehend auf sich allein gestellt.“
Zerrissen zwischen Corona-Panik, Kurzarbeit, Existenzängsten und Home Office wussten die Erwachsenen auch schon ohne die zusätzlich von ihnen geforderten Hilfslehrertätigkeiten nicht, wo ihnen der Kopf steht.
Heiner Barz
Und dann auch noch die Kinder bei Laune halten, sie nicht den ganzen Tag nur vor einem Bildschirm „parken“, sie davon abhalten, dass sie sich mit Freunden verabreden, ihnen mit Zuckerbrot und Peitsche hinterherlaufen, damit sie wenigstens ein Minimum an schulischen Aufgaben abarbeiten?
Wenn es dann doch einmal eine Zoom-Unterrichtsstunde gab, sich um die Technik kümmern – von der sie selbst (und viele involvierte Lehrer) vorgestern noch keine Ahnung hatten, und die auch jetzt noch nicht wirklich funktioniert? All das führte in vielen Familien zu einem so hohen Stresspegel, dass sich bald auch mediale Niederschläge nicht mehr vermeiden ließen.*
Ein sozialer Organismus
Schule ist also mehr als bloße Wissensvermittlung, von der man glaubt, sie könne einfach durch digitale Endgeräte übernommen werden. Aus Sicht der Bildungssoziologie ist sonnenklar, dass die Schule eben nicht nur ein Ort des Kenntniserwerbs ist, sondern ein sozialer Organismus, der in der Gesellschaft aber auch für die einzelnen Heranwachsenden ganz bestimmte Funktionen erfüllt, die weit über darüber hinaus gehen. Heinrich Böll hatte das einst in den schönen Satz gepackt:
Vielleicht lernen wir nicht in der Schule, aber auf dem Schulweg fürs Leben?
Heinrich Böll
Wie wichtig sind für Kinder die vielfältigen Erfahrungen von Selbständigkeit auf dem Weg in die Schule, das Meistern von Schwierigkeiten, wenn der Weg vereist oder auf einmal versperrt ist? Wenn ein Tier, ein seltsamer oder interessanter Mensch den Schulweg kreuzt? Wenn man sich mit Mitschülern unterwegs unterhält, neckt und streitet?
Wobei das Wort „Schulweg“ eigentlich für das gesamte Repertoire des Kollateralnutzens der Schule steht. In einem berühmten Aufsatz von 1959 hat Talcott Parsons, ein Klassiker der amerikanischen Soziologie, die „Schulklasse als soziales System“ beschrieben. Die von Parsons darin beschriebenen Funktionen sind in der internationalen Bildungssoziologie weiter verfeinert worden – für die deutschsprachige Forschung etwa von Helmut Fend, einem Klassiker der Schulforschung. Auch heute wird in der Bildungsforschung neben der Qualifikationsfunktion – also dem Erwerb von Kenntnissen und Kompetenzen – immer auch die Sozialisationsfunktion betont. Also das Erleben von sozialen Interaktionen, das sich Zurechtfinden in sozialen Strukturen, das Erlernen von sozialen Codes der Kommunikation und Interaktion, der Einordnung, der Unterordnung, der Rollenfindung, des Aushandelns von Handlungsspielräumen etc. Neben der Bildungsfunktion etwa auch im Hinblick auf die Soft Skills, die man als Elemente der Persönlichkeitsentwicklung beschreiben könnte, tritt die Integrationsfunktion.
Damit sind die kognitiven und affektiven Mechanismen gemeint, die dazu führen, dass ein größerer Teil der Schüler nicht zu Anarchisten, Revolutionären oder Systemfeinden wird – sondern mehr oder weniger bereitwillig die Normen und Werte unserer Gesellschaftsordnung übernimmt.
Die Schule stellt insofern ein Übungsfeld dar, in dem Schüler z.B. lernen, dass Leistung sich lohnt.
Heiner Barz
Dass also, zumindest im Idealfall, nicht Herkunft oder Geldbeutel der Eltern, sondern die schulische Performance über Zensuren, Zeugnisse und Abschlüsse und damit über Lebenschancen entscheidet. Sie lernen – wiederum im Idealfall, der natürlich in der Praxis immer nur in mehr oder weniger guten Annäherungen erreicht wird –, dass alle Schüler gleichbehandelt werden, dass Regeln für alle gleichermaßen gelten. Sie erfahren Nähe und Distanz zu Mitschülern und zu ihren Lehrern, sie schließen Freundschaften, sie organisieren sich in lockeren oder festeren Peergroups.
Online-Tutorials werden die Schule nicht ersetzen
Auch diese Peergroups, so haben es Soziologen immer wieder beschrieben, haben eine wichtige Funktion beim Heranwachsen. In ihnen werden neue Rollen ausprobiert, Handlungsspielräume erprobt, der Umgang mit guten und weniger guten Gefühlen erlernt, Interessenskonflikte ausgetragen, Sympathien entwickelt und vielleicht auch wieder verloren – kurz: die Schule und die Peergroup sind in soziologischer Perspektive die intermediären Institutionen, in denen der Heranwachsende sich aus den Verhaltensmustern der Familie löst und sich in größeren Sozialverbünden zu orientieren lernt.
Insofern könnte man sagen, dass Schule und Peergroup teilweise noch gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit der Familie haben – etwa eine begrenzte, überschaubare Zahl von Personen, emotionale Nähe, Vertrautheit –, aber auch schon darüber hinaus weisen, insofern diese Personen wechseln, der Einzelne in den jeweiligen Gruppen seinen Platz erst finden, seine Rolle gestalten muss. Das Selbstverständliche und Unhinterfragte, das der individuellen Position in der Herkunftsfamilie im Idealfall zukommt, wird ersetzt durch die erst zu erwerbende und vielleicht auch zu verteidigende oder zu verändernde Rolle im Freundeskreis und in der Klassengemeinschaft.
Insofern stellen Schule und die Gemeinschaft der Gleichaltrigen äußerst wichtige Sozialisationsinstanzen dar – die kein noch so gut gemachtes Online-Tutorial je ersetzen könnte.
Den viel gehörten Verheißungen, dass Deutschlands Schulen dank der Pandemie einen digitalen Quantensprung gemacht hätten, ist jedenfalls entschieden zu widersprechen.
Heiner Barz
Die Erfahrungen, die Kinder und Eltern mit digitalen Lern- und Kommunikationsmitteln gemacht haben, sind sehr gemischt. Nichts deutet daraufhin, dass „Remote Schooling“ ähnlich sinnvoll, erfolgreich oder populär werden könnte wie das flexiblere Arbeiten von daheim. Schon rein empirisch stellt sich der „Quantensprung“ als Wunschdenken heraus: Selbst in Corona-Zeiten, die alternativlos die Beschulung zuhause erzwungen haben, bekamen nur 7% der deutschen Schüler täglich digitalen Unterricht.
* So titelte beispielsweise der Focus am 11.05.2020: „Haben Homeschooling aufgegeben, bevor wir zerbrechen“. Am 20.05.2020 berichtet NewsForTeacher mit Blick auf den inzwischen stundenweise ermöglichten Unterricht für wenige Kinder an einzelnen Tagen der Woche: „Eltern machen gegen Schichtunterricht mobil: ‚Von Tag zu Tag unerträglicher‘.“ Ärztliche Fachverbände forderten dringend die sofortige Wiedereröffnung ohne Auflagen von Kitas und Schulen. Die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ), der Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP) und des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland wurde auch z.B. vom Deutschen Ärzteblatt am 22.05.2020 aufgegriffen.