„Unternehmen profitieren von Führungskräften, die sich gegenseitig ergänzen.“
Frau Kneip, wenn wir über geteilte Führung sprechen, verwechseln viele Menschen Co- mit Shared Leadership. Vielleicht beginnen wir also mit der einfachen Frage: Was ist Shared und was ist Co-Leadership?
Petra Kneip: Das sind tatsächlich zwei unterschiedliche Konzepte. Bei Shared-Leadership-Ansätzen geht es um eine gewisse Demokratisierung der Führung in meist überschaubaren Organisationen: Führungsrollen werden hier auf verschiedene Individuen verteilt, die einmal als Führende und einmal als Geführte agieren. Dabei handelt es sich um ein dynamisches, interaktives Führungsphänomen auf der Ebene einer Gruppe oder eines Teams. Co-Leadership, oder je nach Ausprägung auch Top-Sharing oder Top-Splitting genannt, ist hingegen die Idee, eine Führungsposition zu teilen. Wir sehen das aktuell hauptsächlich im unteren und mittleren Führungsbereich. Auf den höheren Ebenen ist das Teilen von einzelnen Rollen weiterhin äußerst selten, darunter aber tut sich gerade einiges: Unternehmen gestalten Co-Führungsmodelle hier ganz unterschiedlich.
Wie sieht die aktuelle Situation in Deutschland aus: Wie viele Führungspositionen sind klassische Einzelpositionen und wie viele werden geteilt?
Vorab: Belastbare aktuelle Zahlen sind nicht ganz einfach zu finden. Die Studie von Hipp et al. (2023), die die Verbreitung von Teilzeitführungskräften in Deutschland und Europa untersucht, kommt zu dem Schluss, dass im Jahr 2019 in Deutschland rund 14 Prozent der Beschäftigten mit Führungsaufgaben in Teilzeit arbeiteten. Damit nimmt Deutschland im europäischen Vergleich einen Platz im oberen Mittelfeld ein. In den Niederlanden und der Schweiz lagen die Werte mit 27 bzw. 25 Prozent deutlich höher. Diese Zahlen sind jedoch interpretationsbedürftig, da sie ganz verschiedene Branchen und Berufsfelder abdecken.
Im Dienstleistungssektor finden wir häufiger geteilte Führungspositionen, und sie kommen vor allem in Berufsgruppen vor, in denen überwiegend Frauen arbeiten. Und natürlich ist festzuhalten, dass diese Modelle immer noch nicht der Standard sind.
Aber der Eindruck, dass immer mehr Firmen solche Modelle ausprobieren, stimmt?
Ja. Zwischen 2006 und 2019 hat sich laut eben genannter Studie die Teilzeitquote in der Führung bei den Männern von 2 auf 4 Prozent erhöht, bei den Frauen war ein Zuwachs von 26 auf 32 Prozent nachzuweisen. Die zunehmende Popularität dieser Modelle ist mit den sich verändernden Arbeitsbedingungen verbunden: Unsere Arbeitswelt ist von hoher Komplexität und Wandel geprägt, was natürlich auch die Führung beeinflusst. Wir sehen schnell steigende Anforderungen an viele Führungspositionen einerseits und neue Ansprüche an das Arbeitsleben und dessen Vereinbarkeit mit dem Privatleben andererseits. Generationenfragen spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Beide Entwicklungen spiegeln sich auch in rechtlichen Anforderungen wider, etwa in Form von Teilzeit- und Befristungsgesetzen. Kurz und gut: Unternehmen reagieren und werden hier immer kreativer, indem sie neue, vielfältige Modelle anbieten.
Was springt für Führungskräfte, die eine Stelle teilen, dabei heraus?
Das Teilen einer Position erweist sich in vielen Fällen als sehr motivierend: Die Karriereentwicklung stoppt nicht, wenn private Verpflichtungen stark beanspruchen, und die Fälle von „einsamen Entscheidungen“, die viele Führungskräfte heute stark belasten, werden seltener.
Co-Leadership ermöglicht es, Stärken und Schwächen an einer Stelle auszugleichen, wenn beispielsweise eine Person kommunikativ weniger begabt ist und ihr Partner in diesem Bereich ‚einspringen‘ kann. Aufgrund der schnell steigenden Anforderungen an einzelne Führungspositionen verspricht eine Teilung oft eine bessere Abdeckung, was gefordertes Wissen und benötigte Fähigkeiten angeht.
Und die Unternehmen?
Die Unternehmen profitieren von Führungskräften, die sich gegenseitig ergänzen, unterschiedliches Wissen und mehr Perspektiven einbringen, um Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Für Arbeitgeber ist allein schon die Kommunikation des Angebots, Führungsjobs in Teilzeit zu ermöglichen, ein echtes Marketing- und Rekrutierungsinstrument, um qualifizierte Fachkräfte anzuziehen, die nach einer flexiblen Karriere streben. Die Möglichkeit, eine Führungskarriere in Teilzeit zu verfolgen, kann dabei eine starke Botschaft an junge Eltern sein, aber auch in anderen Lebensphasen helfen und entlasten. Etwa, wenn die Pflege älterer Angehöriger zum Thema wird oder eine Weiterbildung ansteht, die fordernd ist, aber berufsbegleitend sein soll. Unternehmen werden heute darüber hinaus von Investoren und anderen Stakeholdern verstärkt darauf geprüft, wie sie etwa die Förderung von Frauen in Führungspositionen angehen.
Und dabei spielt Co-Leadership eine große Rolle?
Ja. Co-Leadership-Modelle sind sehr geeignet für weibliche Führungskräfte, die etwa aus der Elternzeit zurückkehren. Viele Pflege- und Betreuungsaufgaben in unserer Gesellschaft sind ja traditionell weiter in weiblicher Hand, was sich auch auf die Teilzeitrate in Führungspositionen auswirkt. Klar gibt es auch eine neue Generation junger Väter, die mehr Zeit für ihre Familien wünschen, trotzdem wird dieses Gefälle nur schleichend flacher. Unternehmen, die hier mehr Vielfalt zulassen und die unbestritten vorhandene Nachfrage nach mehr Flexibilität bedienen, winkt dabei übrigens ein Bonus in Form von deutlich höherer Mitarbeiterbindung:
Wenn Ihre Leute wissen, dass sie ihre Arbeitszeit flexibler an verschiedene Lebensphasen anpassen können, sorgt das für mehr Identifikation – und weniger Fluktuation.
Wie sieht das nun in der Praxis aus bzw. wie „teilbar“ sind Führungsrollen?
Viele medial bekannte Beispiele – von Mercedes, Bosch über die Deutsche Bahn, die großen IT-Unternehmen wie SAP und Microsoft bis zu traditionsreichen Familienunternehmen wie Kärcher sind einige dabei – drehen sich um Führungsduos. Eine Teilung muss aber nicht unbedingt zu Tandems führen; es können auch drei oder mehr Führungskräfte sein, die sich eine Stelle teilen, abhängig von Zielen und Abgrenzungen. Dasselbe gilt für die Aufteilung der Aufgaben: Manche Organisationen entscheiden, dass zwei Führungskräfte die gleichen Aufgaben sowohl im Fach- als auch im Führungsbereich teilen. Das bedeutet dann volle Gleichberechtigung und gemeinsame Verantwortung. Sie könnten aber auch festlegen, dass einer sich mehr um Geschäftsthemen kümmert, während die anderen sich beispielsweise auf Personal- oder Organisationsentwicklung konzentrieren. Mitunter kann die Personalsuche hier neue Einsichten fördern und das initiale Jobprofil sogar grundsätzlich verändern.
Sie meinen, wenn man sich bei zwei sehr guten, aber fachlich unterschiedlich qualifizierten Bewerbern nicht mehr für eine oder einen entscheiden muss, sondern künftig darüber nachdenkt, beide in Teilzeit zu beschäftigen?
In der Tat hatte ich vor Kurzem einen Fall, bei dem ein Unternehmen vor dieser Entscheidung stand und sich für beide Bewerberinnen entschied. Es handelte sich um eine Position in der HR-Abteilung, bei der zwei sehr gute Kandidatinnen zur Auswahl standen, die jeweils unterschiedliche Qualifikationen und Schwerpunkte hatten. Die Position wurde dabei aber nicht genau 50:50 geteilt, da allein für die Übergabezeit schon mehr als 100 Prozent erforderlich waren.
Grundsätzlich ist es ratsam, eher mit 110 oder 120 Prozent zu kalkulieren, um sicherzustellen, dass die Belastung für die einzelnen Mitarbeiter nicht zu hoch ist.
Viele Firmen organisieren das, indem sie beispielsweise eine Person für Montag bis Mittwoch und die andere für Mittwoch bis Freitag einsetzen, um überlappende Zeiten für Austausch und Abstimmung zu schaffen.
Was ist denn beim Co-Leadership das verbreitetste Modell?
In der Praxis sehen wir oft Hybridmodelle, die verschiedene Ideen von Co-Leitung kombinieren – mal spielen fachliche Kompetenzen eine entscheidende Rolle, mal soziale, oft auch Erfahrung bzw. Wissenstransfer. Erfolgversprechend kann es auch sein, eine erfahrene Führungskraft und eine Nachwuchsführungskraft eine Position teilen zu lassen. Co-Leadership bietet aber auch eine großartige Möglichkeit für ältere Arbeitnehmende, ihr Wissen und ihre Erfahrung im Tandem an jüngere Kolleginnen oder Kollegen weiterzugeben oder zu mentorieren. In einigen Fällen kann dies dazu beitragen, erfahrene Fachkräfte länger im Beruf zu halten und gleichzeitig die nächste Generation zu entwickeln.
Eigentlich eine weitere Win-win-Situation in Zeiten des Fachkräftemangels.
Genau. Es ist aber wichtig sicherzustellen, dass die strukturellen Bedingungen in der Organisation Co-Leadership unterstützen und die Modelle flexibel genug sind, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Über Erfolg und Misserfolg von Co-Leadership-Modellen entscheiden nicht nur die Führungspersonen selbst, sondern vor allem die Kultur und das Arbeitsumfeld, in der sie agieren.
Egal also, für welches Modell man sich entscheidet: Die Hauptherausforderung besteht immer darin, die Verantwortung klar zu definieren, damit Mitarbeiter, nächsthöhere Führungskräfte und Kunden wissen, wen sie für welche Themen ansprechen sollen.
Worauf muss man dabei achten, um unnötigen Aufwand und Konflikte zu vermeiden?
Zunächst ist festzuhalten: Eine Führungsposition aufzuteilen, ist erst einmal eine große organisatorische Herausforderung. Schon bei einem Tandem muss zuerst sichergestellt werden, dass die beiden als Team funktionieren, nach außen und intern. Ihre Rollenteilung hat also Auswirkungen auf die Kommunikation, sowohl gegenüber Kunden als auch gegenüber den eigenen Mitarbeitern. Es muss Klarheit darüber herrschen, wer für welche Aufgaben zuständig ist, da viele weitere Entscheidungen davon abhängen. Dieser initiale Abstimmungs- und Kommunikationsaufwand muss in jedem Fall geleistet werden.
Vom neuen Führungsteam – oder von der Personalabteilung?
Das hängt von den Zuständigkeiten und den Zielen ab. Wenn Co-Leadership als Personalentwicklungsinstrument genutzt wird, werden spezielle Programme und Unterstützung seitens HR benötigt, da die Leitungsteams eine klare Struktur und klare Erwartungen brauchen, um zu „liefern“. Dies kann bedeuten, dass schon bei der Suche Stellenanzeigen angepasst werden, um die Möglichkeit des Teilens von Führungspositionen zu erwähnen, oder dass durch Matching-Prozesse interne Bewerbungsverfahren organisiert werden. Einige Unternehmen nutzen sogar algorithmische Ansätze, um zueinander passende Personen zu finden. Aber: Wenn das neue Leitungsteam sich schon kennt, vielleicht bereits zusammengearbeitet hat, wenn auch in anderem Kontext, erleichtert das den Start.
Das bedeutet, die HR-Abteilungen übernehmen vielleicht noch die Aufgabe, geeignete Kandidaten zusammenzubringen, halten sich dann aber weitgehend raus, wenn es um die Details der Teilung geht?
Neue Führungsteams ziehen sich durchaus oft zuerst einmal zurück, um festzulegen, wie ihre gemeinsame Führung aussehen soll und wie sie kommunizieren wollen. Je klarer sie das festlegen und mitteilen, desto einfacher die Umgewöhnungsphase. Einige Aufgaben müssen vielleicht gemeinsam gelöst werden, insbesondere strategische Entscheidungen. In anderen Fällen kann eine klare Aufgabenverteilung sinnvoll sein, wobei jedes Teammitglied seinen eigenen Bereich abdeckt. Einige Teams haben sogar gemeinsame E-Mail-Adressen eingerichtet, um sicherzustellen, dass künftige Anfragen immer an die richtige Person gerichtet werden können.
Es gibt für diese Prozesse keine festen Regeln, die für alle Organisationen anwendbar wären?
Nein. Die Ausgestaltung hängt zu stark von der jeweiligen Situation ab. Wichtig für alle Fälle ist jedoch, klare Kommunikationswege und eine gute Abstimmung sicherzustellen, um die Vorteile der Zusammenarbeit zu nutzen. Dieser Punkt ist essenziell, da die Co-Führung künftig als Einheit auftreten muss – und nicht als zwei Einzelkämpfer.
Das bedeutet: Konkurrenzsituationen sollten vermieden werden?
Ja. Es ist wichtig, dass die Co-Leitenden sich nicht als Konkurrenten sehen, sondern als Einheit, die sich gegenseitig ergänzt und dabei eine gewisse Dynamik entwickeln kann. Auch hier kann HR helfen, indem Personalverantwortliche bei der Förderung und Anerkennung der Leistungen jedes Teammitglieds eine Rolle spielen.
Oft ist eine der großen Herausforderungen von Führungsduos und -teams die unterschiedliche Sichtbarkeit in Bezug auf Erreichtes und ein damit einhergehendes Gefälle bei der Wertschätzung und Honorierung von Arbeit.
Können Sie nachvollziehen, warum in vielen eher hierarchischen Organisationen immer noch Vorbehalte gegen solche Aufteilungen existieren und man Co-Leadership für unattraktiver, weil komplizierter hält?
Es geht nicht darum, ein Modell gegen ein anderes auszuspielen. Verschiedene Führungsansätze passen einfach zu unterschiedlichen Kontexten. Das Ziel ist es zu lernen, Verantwortung auf verschiedene Arten wahrzunehmen, wobei sowohl vertikale als auch horizontale Führung nebeneinander existieren können – in ihrer Ausprägung abhängig von Branchen, Unternehmen, Abteilungen und Zielen. Einige Kollegen bevorzugen weiterhin das traditionelle Modell, da es gut zu ihnen und ihrem Verständnis von Führung passt, vermeintlich klarer ist. Gleichzeitig gibt es jedoch andere Führungsmodelle, die in Situationen erfolgreich sein können, wo ein einzelner Entscheider schlicht überfordert wäre. Grundsätzlich fährt innovativer, wer sich immer wieder folgende Frage stellt:
Wenn wir feststellen, dass sich unsere Wirtschaft, ihre Organisations- und Zusammenarbeitsmodelle rasant wandeln, warum sollten wir uns zur Bewältigung des Wandels ausgerechnet an einzelne, fixe Führungsvorstellungen klammern?
Über die Expertin
Petra Kneip ist Professorin an der ESB Business School der Universität Reutlingen. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Personal- und Organisationsentwicklung sowie Führung.