„Wer den Knall jetzt nicht hört, will ihn nicht hören.“
Frau Kemfert, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Schockwellen“. Steht es so schlimm um uns, dass wir die nötig haben?
Claudia Kemfert: Leider ja. Es reiht sich Schockwelle an Schockwelle, und zwar immer wieder aufs Neue. Wie extrem die Auswirkungen des Klimawandels sind, erleben wir bereits jetzt sehr deutlich. Hitze, Dürre, die Welt brennt. Arten sterben aus. Regionen werden unbewohnbar. Dabei beginnt die Klimakrise gerade erst.
Sehr bald werden wir Kipppunkte überschreiten, die die Klimakrise irreversibel und unkontrollierbar verschärfen.
Und diese Schockwelle steht uns erst noch bevor. Jetzt schon stecken wir – eine für alle schmerzhafte Schockwelle – in einer verheerenden fossilen Energiekrise. Folge: steigende Preise und eine fossile Inflation. Wer den Knall jetzt nicht hört, will ihn nicht hören. Deswegen schockiert mich besonders, dass wir trotz all der offenkundigen Krisen die x-te Wiederholungsschleife einer Debatte drehen, bei der uns Lobbykräfte einreden, dass es ohne fossile Energien nicht ginge. Solche Kampagnen widersprechen jeglicher Wissenschaft und schädigen unsere Demokratie. In meinem Buch beschreibe ich als Zeitzeugin diese Endlosschleifen der Desinformation, aber auch, welche wiederkehrenden Fehlentscheidungen in den letzten 20 Jahren uns in die heutigen Krisen geführt haben. Daraus können und sollten wir lernen! Denn noch haben wir die Möglichkeit umzusteuern. Noch ist es nicht zu spät. Noch haben wir eine Chance auf sichere Energie und Frieden.
Take-aways:
- Warum wir stehen, wo wir stehen: Wiederkehrende Fehlentscheidungen haben uns besonders in den letzten 20 Jahren in eine Energiekrise gestürzt.
- Die Antwort ist: Jeder muss etwas tun – und zwar das, was er kann, auf unterschiedlichste Weise. Politisch, technisch, kommunikativ, finanziell oder durch Vernetzung.
- Warum es so schwierig ist: Vor Jahren noch war die Stimmung im Land positiv und optimistisch, wenn es um den Klimaschutz ging, sie war nicht von Wut und Hass geprägt wie heute.
Nicht erst seit gestern sagen Sie, dass wir klimabewusstere Verbraucher, aber auch langfristig gültigere Vorgaben der Klimapolitik brauchen. Aktuell scheint Letzteres in Deutschland nicht zu funktionieren. Jüngst warf Frankreichs Energieministerin Agnès Pannier-Runacher Deutschland sogar Doppelmoral im Umgang mit diesem Thema vor …
Da trifft die Ministerin durchaus einen wunden Punkt – obwohl an Frankreichs Energiepolitik auch einiges zu kritisieren wäre. Aber zumindest bereiten sie sich realistisch auf die Auswirkungen des Klimawandels vor, nämlich auf ein 4-Grad-Szenario. Zu Recht! Denn in Frankreich wird wie in Deutschland Wasser immer knapper. Aber zurück zur Kritik: Deutschland ist schon lange kein Klimaschutzvorreiter mehr. Wir haben dreifach versagt, nämlich erstens viel zu lange an fossilen Geschäftsmodellen festgehalten, zweitens eine ungesunde Abhängigkeit zu Russland aufgebaut und drittens unsere frühe einstige Pionierstärke bei erneuerbaren Energien, Speichern und nachhaltiger Mobilität in Grund und Boden gestampft. Ohne diese Fehler könnten wir heute so viel weiter sein. Und jetzt wiederholen wir sie noch: Wir bauen überdimensionierte Flüssiggaskapazitäten auf. Wir beharren auf einer völlig veralteten Verkehrspolitik. Und laufen in puncto Wärmewende anderen Ländern weit hinterher. Wir reißen in allen Sektoren die Klimaziele. Doch statt uns endlich ins Zeug zu legen, ändern wir einfach das Klimagesetz. Das ist peinlich. Und fatal.
Sie gehen im Buch unter anderem hart mit dem amtierenden deutschen Bundeskanzler ins Gericht und sagen klar, dass Deutschland sich schon lange von Putins Gas und Öl hätte verabschieden müssen. Was meinen Sie konkret damit? Wäre das machbar gewesen?
Natürlich wäre das machbar gewesen! Das haben sowohl unser Institut als auch andere sofort nach Kriegsausbruch in detaillierten Modellrechnungen und Szenarien dargelegt: Es geht ohne Putin, und zwar sofort! Am Ende ist es genauso passiert und wir sind – trotz der vielen Panikrufe – gut durch den Winter gekommen. Wie von uns modelliert, konnten wir nämlich tatsächlich ohne Probleme mehr Gas aus Norwegen und den Niederlanden sowie mehr Flüssiggas aus Katar, den USA und Nordafrika beziehen, so die Gasspeicher füllen und vor allem Gas einsparen. Wir beziehen mehr Öl aus den USA und Kasachstan und künftig mehr aus Nordafrika und dem arabischen Raum.
Leider haben wir jedoch trotzdem weiter russisches Gas teuer bezahlt und so Putins Krieg sowie Macht weiterfinanziert.
Die von Putins Schergen prophezeite Wirtschaftskrise ist dagegen ausgeblieben. Und wenn sie kommt, dann aufgrund der jetzt erneut verschleppten Energiewende. Das alles ist zum Haareraufen: Denn erneuerbare Energien sind nicht nur billiger als fossile, sondern sie stärken Demokratie und Freiheit.
Wo gäbe es in Ihren Augen wirklich hilfreiche und umsetzbare Ansatzpunkte bezogen auf den bewussteren Umgang mit unseren Energieressourcen? Wie kann die Politik hier sinnvoll handeln?
Das Allerwichtigste: der deutlich schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien! Hier passiert endlich einiges, doch es ginge noch so viel mehr: Genehmigungsverfahren für den Ausbau der Windenergie sollen beschleunigt werden. Wir bräuchten das viel beschworene „neue Deutschlandtempo“, das wir beim – leider überdimensionierten – Ausbau der LNG-Terminals an den Tag legen. Auch dringend beschleunigen sollte die Politik in puncto Digitalisierung. Das würde auch die Energie-, die Wärme-, die Industrie- und die Verkehrswende vorantreiben; etwa durch ein verändertes (digital gesteuertes) Strommarktdesign, durch energiesparende kombinierte Wärme- und Klimaanlagen, durch flexible Großspeichersysteme und durch Mobilitätspakete, die Bahn-, Bus-, Rad- und Fußverkehr intelligent kombinieren.
Wie ließe sich dieser Systemwechsel, der ja vor allem politisch organisiert werden muss, vorantreiben?
Jeder und jede kann aktiv werden, auf unterschiedlichste Weise. Politisch, technisch, kommunikativ, finanziell oder durch Vernetzung. Es gibt unzählige Möglichkeiten und bereits viele lokale Initiativen. Das habe ich in meinem letzten Buch, Mondays for Future, beschrieben.
Aktuell benötigen wir vor allem viel mehr echte „MacGyvers der Energiewende“, die mit Mut und Tatendrang und innovativen Lösungen die Energiewende von unten umsetzen.
Nehmen Sie zum Beispiel die Gemeinde Feldheim in Brandenburg. Sie produzieren dort schon seit vielen Jahren 100 Prozent der benötigten Energie ausschließlich erneuerbar. Dort gibt es weder hohe Gas- noch hohe Strompreise. Alle helfen und alle verdienen mit. So ginge das überall!
Braucht es eigentlich grundsätzlich mehr „Hemdsärmeligkeit“ in Sachen Klimaschutz und weniger Gerede? Von allen Seiten: Bürger, Politiker usw. Was kann jeder von uns selbst tun?
So ist es: Wir brauchen Taten statt Worte! Hemdsärmel hochkrempeln und dann los. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die sicherstellen, dass statt weiter in fossile jetzt sofort in erneuerbare und emissionsfreie Lösungen investiert wird. Und zwar in Firmen wie auch in Privatpersonen und deren Energiequellen. Jedes (auch energieintensive) Unternehmen kann Energie sparen, jedes kann erneuerbare Energien einsetzen. Wer ein Haus baut oder besitzt, sollte nicht mehr in fossile Heizsysteme, sondern lieber in konsequentes Energiesparen und in Solarenergie investieren. Auch emissionsfreie Mobilität macht Spaß und ist für jeden umsetzbar: Schienenverkehr, Elektrofahrzeuge und Fahrräder müssen nicht erst erfunden werden. Es ist alles schon da. Wir müssen es nur anwenden!
Aktuell wissen viele „Normalsterbliche“ nicht mehr, wie sie die steigenden Energiekosten bezahlen – gibt es eine Antwort auf dieses Dilemma?
Die steigenden Energiekosten sind Resultat der verschleppten Energiewende und der fossilen Abhängigkeit. Wir zahlen heute den Preis der Entscheidungen von gestern. Es steigen die Kosten für fossile Energien, nicht für erneuerbare. Je länger wir zögern, desto teurer wird’s. Menschen ohne Vermögen und mit niedrigen Einkommen brauchen beim Umstieg finanzielle Hilfe. Genug Geld wäre da. Die Lösung heißt Übergewinnsteuer: Die fossilen Energiekonzerne fahren nämlich gerade satte Krisen- und Übergewinne ein.
Bereits im Jahr 2008 erschien Ihr Buch Die andere Klima-Zukunft. Ihr Tenor war, dass Klimaschutz zu emotional behandelt werden würde. Wie haben Sie dies zum damaligen Zeitpunkt erlebt?
Damals war die Stimmung im Land positiv und optimistisch, nicht von Wut und Hass geprägt wie heute. Zwar lagen besorgniserregende wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel vor, aber die Politik zeigte sich willens zu handeln. Angela Merkel ließ sich als „Klima-Kanzlerin“ im roten Anorak vor Grönlands schmelzenden Gletschern fotografieren. Und tatsächlich tat sich ja auch einiges: Europa einigte sich auf die 20-20-20-Regel, um bis 2020 Treibhausgase zu reduzieren, den Anteil erneuerbarer Energien zu steigern und die Energieeffizienz zu verbessern. Ich wollte die positive Stimmung durch ökonomische Fakten untermauern. Deswegen mahnte ich damals nicht nur mehr Klimaschutz an, sondern verwies vor allem auf die vielen wirtschaftlichen Chancen im Klimaschutz. Die Risiken durch den Klimawandel sind ungleich höher, so zeigte ich es in zahlreichen Studien und auch im Buch. Ergänzend zur damals diskutierten Energiewende verwies ich auf die notwendige Wärmewende, vor allem durch energetische Sanierungen und Energiesparen, aber auch eine Verkehrswende. Auf Industriemessen wurden Ein- oder Dreiliter-Autos präsentiert, aber ich erinnerte auch an den stetigen Ausbau des Schienenverkehrs. Ich war zuversichtlich, dass wir das hinbekommen würden. Wir hatten ja noch Zeit.
Und wie würden Sie die Lage heute beurteilen, 15 Jahre später?
Leider wurde nichts von dem, was ich im Buch anmahnte, umgesetzt. Heute, 15 Jahre später, fühle ich mich wie Bill Murray in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Wir sind gefangen in den immergleichen Debatten und bremsen so den Fortschritt.
Die Kosten des Klimawandels sind genau so eingetreten, wie ich sie damals beziffert habe. Leider ist uns auch die fossile Abhängigkeit zu Russland, vor der ich damals warnte, zum Verhängnis geworden. Und leider lernen wir noch nur langsam aus unseren Fehlern.
Immerhin bewegen wir uns beim Thema Klimaschutz in Trippelschritten vorwärts. Besser als nichts. Es ist aber zu wenig, um die Klimakrise einzudämmen. Viele Menschen reagieren leider mit dumpfer Empörung und blinder Wut auf die Krise statt durch kluge Lösungen und tatkräftiges Handeln. Das bereitet mir große Sorge. Echte große Sorge.
Beim Stichwort „emotional“ kommt man derzeit an den „Klimaklebern“ nicht vorbei – die wecken gerade sehr viele Emotionen bei Millionen Menschen. Wie schätzen Sie diese Aktionen ein? Bringt es dem Klima wirklich nachhaltig etwas, wenn eine Handvoll Menschen Tausende andere in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt?
Grundsätzlich gilt: Protest muss „nerven“, um gehört zu werden. Das war nie anders. Emotional kann ich die Ungeduld der Protestierenden nachvollziehen. Trotzdem kritisiere ich so manche Art des Protestes. Denn nicht immer ist erkennbar, dass es wirklich um Klimaschutz geht. Und außerdem verstärken viele Aktionen lediglich die Polarisierung und statt positiv zum Handeln zu motivieren, bröckelt so die Zustimmung zum Klimaschutz.
Die gesellschaftliche Debatte mag intensiver werden, aber ich bezweifle, dass wir das Richtige diskutieren.
Jahrzehntelang wurde den Menschen Wohlstand durch billige fossile Energien versprochen, jetzt zahlen wir die Kosten für fossile Kriege, Umwelt- und Gesundheitsschäden. Die daraus resultierende gesellschaftliche Verunsicherung nutzen leider vor allem populistische – und oft fossil finanzierte – Parteien. Als Heilsrufer mit simplen Antworten präsentieren sie scheinbar bequeme Lösungen. Wir erleben eine bewusste Polarisierung der Debatte. Dagegen müssen wir Geschlossenheit zeigen. Wir müssen das Klima, aber auch die Demokratie und den sozialen Frieden schützen.
Sie schrieben auch, dass beim Verfolgen der Klimaziele die Politik von modernen Managementansätzen aus der Privatwirtschaft profitieren könnte. Welche wären das konkret?
In der Wirtschaft steht derzeit überall „agiles Management“ an. Heißt: Man reagiert schnell auf komplexe Problemlagen und bringt ohne Bürokratie und hierarchische Umwege in innovativen Verfahren effektive Lösungen hervor. So wurde in der aktuellen Gaskrise der Bau von Flüssiggasterminals ermöglicht. In kürzester Zeit wurden Baugenehmigungen erteilt und damit mehr Flexibilität im Gasmarkt geschaffen. Stichwort „neues Deutschlandtempo“. In der Klimakrise ist davon aber wenig sichtbar: Für den Bau einer Windanlage werden nicht sieben Wochen wie für den Bau eines LNG-Terminals benötigt, sondern sieben Jahre. Absurd! Wir rasen weiter mit Volldampf Richtung Vergangenheit. Deutschlands Zukunft dagegen krankt an zu viel Bürokratie und zu wenig Digitalisierung. Hier kann die Politik noch eine Menge von der Wirtschaft lernen. Und sie muss endlich den Klimanotstand erkennen.
Bleiben wir noch bei den Managenden. Es wird ja gerne gesagt, dass sie dann gut sind, wenn sie als Vorbilder oder Multiplikatoren agieren. Im Bereich Klima denken dann viele gleich an eine Greta oder eine Luisa Neubauer. Wie authentisch sind solche Lichtfiguren noch?
Greta Thunberg und Luisa Neubauer sind sehr authentisch. Zwei junge Frauen, schlau, mutig wie viele andere. Engagiert in der Klimabewegung. Sie haben verstanden, wie ernst die Lage beim Klimawandel ist, und motivieren rund um den Globus Millionen Menschen zum Mitmachen. Ihre Sorge vor der Zukunft, die durch Klimawandel und Naturzerstörung massiv beeinträchtigt wird, ist mehr als berechtigt. Sie lassen sich nicht provozieren, geben nicht auf, verstummen nicht. Im Gegenteil. Und damit sind sie im Recht. Das bestätigen Tausende von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen weltweit. Selbst UN-Generalsekretär António Guterres warnt immer lauter vor der tickenden Klima-Zeitbombe. Sie alle sagen dasselbe: Uns läuft die Zeit davon. Wir müssen endlich das Ruder herumreißen.
Abschließend und ganz hypothetisch: Was denken Sie, was wären die beiden wichtigsten Thesen eines Buches zum Thema Energiepolitik, das im Jahr 2030 erscheinen würde?
Ein Energiepolitik-Buch, das 2030 erscheint, hat vermutlich entweder diesen Titel: „Die Ewigkeitskosten der Sünden-Energien. Warum wir noch Jahrzehnte Entschädigungen an fossile Unternehmen zahlen müssen“. Oder diesen: „Von der Entwicklung überholt. Warum keiner mehr in Fusionsenergie oder Smart-Modular-Atom-Reaktoren investieren will. Erneuerbare Energien unschlagbar billig in allen Bereichen.“
Über die Autorin:
Claudia Kemfert leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen.