„Die Aufmerksamkeit ist da, sie muss nur richtig kanalisiert werden.“
Herr Pott, Ihr Buch Sichtbar! räumt mit einem immer noch weitverbreiteten Marketing-Missverständnis auf: Dass das Herstellen von Sichtbarkeit das Hauptziel von Marketingaktivitäten sein müsse – der Umsatz komme dann schon. Für wen haben Sie Ihr Buch geschrieben?
Oliver Pott: Das Buch richtet sich vor allem an Kleinunternehmer und Freiberufler. Denn die großen Konzerne haben ja seit jeher die Möglichkeit, immer lautere Werbung zu machen – seien das nun die groß angelegten Kampagnen in klassischen Medien, wie Mediamarkt mit „Geiz ist geil“ oder Saturn mit „Ich bin doch nicht blöd“ –, weil sie viel Geld in die Hand nehmen und damit große Aufmerksamkeit erzeugen können. Die Kleinen können das nicht, und der Glaube, dass sie das müssten, um erfolgreich zu sein, ist immer noch weitverbreitet. Aber das stimmt nicht mehr. Heute kann man mit viel weniger Geld viel mehr erreichen. Die neue Regel ist: Wenn alles um mich herum lauter wird, dann muss ich selbst leiser werden.
Was hat sich geändert?
Da muss ich ein wenig ausholen. Die klassische Messgröße für Reichweite war früher immer der TKP – der Tausenderkontaktpreis. Er gibt an, wie viel man bei einer Werbemaßnahme einsetzen muss, um 1000 Personen einer Zielgruppe über Sichtkontakt zu erreichen. Diese Messgröße ist aber obsolet, denn sie sagt nichts über die Relevanz zur Zielgruppe aus. Wenn ich Katzenfutter verkaufe, dann möchte ich mit meiner Werbebotschaft doch lieber 100 Katzenbesitzer wirklich erreichen, als von einer Million Hundebesitzer irgendwo gesehen zu werden. Letzteres bringt mir nichts, ich könnte genauso gut eine Million Mal in den nächsten Wald hineinrufen. Wichtiger als die Anzahl Kontakte ist die Relevanz des beworbenen Produkts für die Zielgruppe.
Gut, aber erreichen muss ich sie ja trotzdem. Wie gelingt mir das heute – und was meinen Sie mit „leise“?
Das Herstellen von Relevanz für spezifische Zielgruppen haben die großen Internetkonzerne zu ihrem Geschäftsmodell gemacht, und das geschieht so still wie erfolgreich.
Google und Meta verdienen Geld damit, Zielgruppen zu definieren und die richtigen Werbekunden an sie zu vermitteln – ganz ohne vordergründige Effekthascherei, Geschrei oder irgendeine Zuspitzung.
Die Aufmerksamkeit ist da, sie muss nur über Daten und Profile richtig kanalisiert werden. Meta macht 90 Milliarden Umsatz damit und Google sogar 250 – das ist der ganz überwiegende Teil der Geschäftsergebnisse dieser Firmen.
Und Sie sagen, damit ersetzen sie quasi die Researcher im Marketing, die sich große Firmen leisten – für die aber die kleinen und mittleren nicht genug Geld haben?
Genau. Diese Konzerne haben ein ureigenes Interesse daran, mir als kleinem und mittlerem Unternehmen eine riesige Researchabteilung zur Verfügung zu stellen, damit ich meine Zielgruppen passgenau finde. Und das gelingt ganz gut: Ich kann heute als Freiberufler oder Unternehmer exakt meine künftigen Kunden erreichen, indem ich Google und Meta damit beauftrage, eine Werbeanzeige genau an die ein Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung auszuspielen, die meiner bisher wertvollsten Zielgruppe, die ich zuvor definiert habe, stark ähneln. Ich nehme also den wichtigsten Kunden, den ich schon habe, lasse Meta oder Google über Ähnlichkeiten die Schablone eines digitalen Zwillings erzeugen – und die Wahrscheinlichkeit, dass die überwiegende Mehrheit dieser vergleichsweise wenigen, dann aber tatsächlich erreichten Menschen mein Produkt interessant finden, ist um Potenzen größer als bei klassischen Werbekampagnen.
Sie nennen das „smarte Sichtbarkeit“. Und sie ist eigentlich das, was alle wollen. Können Sie kurz anhand eines Beispiels erklären, was smarte Sichtbarkeit abseits von Social-Media-Targeting so smart macht?
Smarte Sichtbarkeit basiert auf drei Faktoren. Den ersten Faktor haben wir schon angesprochen: Relevanz. Wenn ich meiner Zielgruppe gegenüber nicht relevant bin, dann bin ich raus, dann hört mir niemand zu. Und diese Relevanz, die liefern mir Google oder Meta automatisch, ich kann sie für kleine Centbeträge kaufen. Der zweite Faktor ist Autorität.
Sie müssen eine gewisse Autorität entfalten in dem Bereich, in dem sie aktiv sind – das können Sie über die eigene Marke, ihre Qualitäten und Alleinstellungsmerkmale erreichen oder sich in Form von Botschaftern einkaufen.
Dabei, und drittens, gilt: Ihre Autorität sollten Sie in eine gute Geschichte kleiden, die für Ihre Zielgruppe eindeutig und klar verständlich ist, aber für andere Zielgruppen durchaus irrelevant oder sogar völlig nichtssagend sein kann.
Können Sie das mal anhand eines Beispiels erläutern?
Natürlich. Spielen Sie Golf?
Nein.
Gut. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie die Geschichte schon kennen, gering. Es ist die Geschichte der Firma Ping. Ping stellt Golfschläger her, und zwar vor allem das Schlägerset G425, das es schon seit den 1950er-Jahren gibt. Und nun kommt Ping, in Golferkreisen wohlbekannt, mit dem neuen G425 Driver heraus, und will ihn bewerben. Die Zielgruppe ist schon von vornherein überschaubar: Es sind Golfer, keine Hundebesitzer oder Mopedfahrer. Aber der Driver richtet sich eben auch nicht an Anfänger, sondern an Fortgeschrittene. Ping muss also die Zielgruppe weiter verkleinern. Zum Glück gibt es beim Golf eine Kenngröße für den Fortschritt: das Handicap. Ping sucht für das neue Modell also sogenannte Bogey oder Pro Golfer mit einem Handicap von unter 18.
Damit ist die kleine, relevante Zielgruppe gefunden. Was ist mit der Autorität, sie anzusprechen?
Die hatte Ping im Driver-Segment noch nicht. Deshalb suchte die Firma einen geeigneten Botschafter. Ein PGA-Profi sollte es sein, bestenfalls ein Long Hitter, also jemand, der mit einem Driver weit schlägt. Der richtige Mann hieß Rick Shiels. Außerhalb von Golferkreisen kennt ihn niemand, dort allerdings weiß man, dass er den weltweit erfolgreichsten Golf-YouTube-Kanal führt, mit fast 2,5 Millionen Abonnenten aus exakt der richtigen Zielgruppe. Die Idee von Ping: Wenn Shiels sagt, dass der neue G425 Driver das ist, was man jetzt zum Spielen braucht, dann besetzen wir genau die Nische, die wir haben wollen. Und das hat Ping dann gemacht.
Und die Story hat sich mit Shiels auch gleich von selbst erzählt?
Sagen wir es so: Er nannte den G425 den „STRAIGHTEST driver I’ve ever tested“ und hat die Geschichte damit weitergeschrieben. Eigentlich erzählt sie sich aber ohnehin jedes Mal, wenn Sie den Firmennamen sagen: Seit 1953, als die Firma gegründet wurde, machen die Schläger nämlich ein und dasselbe Geräusch, wenn sie auf den Ball treffen: Ping! Und als dann auch noch Shiels für den neuen Schläger „Ping!“ sagte, passierte Magisches: Die Kampagne erreichte nicht nur genau die Zielgruppe, die anvisiert war. Sie sorgte auch dafür, dass ein Großteil dieser potenziellen Kunden plötzlich Stunden damit zubrachte, sich weitere Onlinewerbevideos anzusehen, die sich mit dem Schläger auseinandersetzen – um ihn dann zu kaufen. Das war eine Revolution. Denn normalerweise sehen Kunden Werbung gar nicht mehr oder schalten im Kopf schon nach Sekunden ab. Hier jedoch bekam Ping stundenlange Aufmerksamkeit sogar über die eigentliche Kampagne hinaus, und die schlug sich natürlich auch in mehr Käufen nieder. Das nenne ich smarte Sichtbarkeit!
Das Sicherstellen derselben klingt aber trotzdem nach einem deutlich wachsenden Aufwand für und in den Marketingabteilungen: Golfstars sagen nicht gratis „Ping!“ – und all die Videos und Kampagnen muss doch irgendjemand produzieren.
Stimmt. Gratis ist es nicht – und vor allem die Definition der Zielgruppe ist oft noch schwieriger als im Beispiel, wo das Handicap für weitere Social-Media-Kampagnen ja eine zentrale Rolle spielt. Aber:
Die Kosten sinken und die Schwelle, um in Eigenregie gute Ergebnisse zu realisieren, ist historisch niedrig. Wer einen TV-Spot drehen wollte, hat bis vor Kurzem dafür ganze Teams gebraucht. Heute lassen sich Social-Media-Spots mit normalen Handykameras filmen, in meinem Buch führe ich einige großartige Beispiele dafür an.
Der Qualitätsbegriff hat sich gewandelt: Denn was ist Qualität? Es ist das Spezifische, das den Kunden draußen interessiert.
Genauer?
Qualität ist, wenn er das bekommt, was er braucht – und das ist oft unabhängig von einem leicht verwackelten Bild oder mittelprächtigem Ton im Werbevideo. Es kann sogar umgekehrt sein: Dass verwackelte Bilder eher als authentisch wahrgenommen werden, weil die Testimonials darin von Leuten stammen, denen man „abnimmt“, was sie sagen. Einem Golfprofi etwa, der auf seinem Kanal viel testet, aber nicht jeden Schläger adelt und deshalb der Zielgruppe bekannt ist, nimmt man viel mehr ab als jemandem, der zwar allen bekannt ist, wie vielleicht Thomas Gottschalk, aber in diesem Fall keine Autorität – weil: keine Ahnung von Golf – hat.
Bestenfalls färbt der Glanz eingekaufter Autorität übrigens längerfristig aufs Unternehmen ab: Jemand, der an Ihrer Seite steht, mit dem Sie vielleicht eine langjährige Beziehung aufbauen, ‚vererbt‘ auf diese Weise seine Autorität an Sie und Ihr Produkt.
Sie schreiben, dass gutes Storytelling wichtig für die Verankerung von Relevanz und Autorität in den Köpfen der Kunden ist. Das Wissen, wie man eine gute Geschichte erzählt, ist aber in vielen Marketingabteilungen noch Mangelware. Was sind „gute Storys“?
Gute Storys sind authentisch und glaubwürdig. Sie brauchen Zeit, es gibt keine Abkürzungen zu ihnen wie für die Relevanz oder die Autorität, die Sie einkaufen können. Und wenn Sie keine glaubwürdige Geschichte zu erzählen haben, dann lassen Sie es besser. Autorität und Relevanz sind sine qua non im Marketing, ohne die geht es nicht – aber wenn Sie keine Geschichte haben, weil Ihre Firma ein Start-up ist oder fürchterlich langweilige Dinge herstellt, deren Story niemanden interessiert, dann verzichten Sie lieber darauf, als sich zu verbiegen oder zu erfinden. Im Zweifel ist das besser, als mit aufgesetzten Märchen am Ende noch „toxische Sichtbarkeit“ zu erzeugen.
Haben Sie hier ein Beispiel?
Toxische Sichtbarkeit ist die Sichtbarkeit, die Sie niemals haben wollen. Etwa wenn Sie versuchen, mehr zu sein, als Sie sind, oder sogar nachweislich die Unwahrheit sagen. Alles, was Firmen heute künstlich draufsetzen, entlarvt der Kunde draußen sowieso, und die Kampagne fliegt ihnen um die Ohren.
‚Toxische Sichtbarkeit‘ stellen Sie auch her, wenn Sie zwar überlegen, wer Ihr Produkt sehen soll, aber vergessen zu definieren, wer es garantiert nicht sehen soll.
Dann kann es passieren, dass die Kampagne zu Ihrer schmackhaften Teewurst zwar die definierte Zielgruppe erreicht – aber auch an Mitglieder von Tierschutzvereinen, an Vegetarier und Veganer ausgespielt wird. Die klicken nicht nur nicht, die geben Ihnen gleich eine katastrophale Bewertung. Oder verwickeln Sie im schlimmsten Fall in einen Shitstorm.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass man über Relevanz, Autorität und Storytelling eine gute Mischung aus kurzfristiger und langfristiger Sichtbarkeit kreieren sollte. Aber: Was ist denn heute eigentlich noch langfristig?
Langfristige Sichtbarkeit ist die, die Sie organisch aufbauen, indem Sie Ihr Image pflegen. Wenn es ums Digitale geht, ist es etwa unerlässlich, die Website aktuell zu halten und dafür zu sorgen, dass Ihre Social-Media-Kanäle wachsen. Und zwar nicht, indem Sie sich Follower kaufen, das bringt nichts, sondern indem Sie hochwertigen Content produzieren und Ihre Community anständig betreuen. Das führt langfristig dazu, dass Google und Meta Ihre Inhalte ausspielen, ohne dass Sie dafür bezahlen. Die meisten Unternehmen machen den Fehler, nur auf kurzfristige Inhalte zu setzen.
Sie kaufen nur kurzfristige Sichtbarkeit – eine Woche Sale-Kampagne hier, eine Woche Testimonial dort –, weil sie sofortige Resultate sehen wollen?
Genau. Aber diese kurzfristig gekaufte Sichtbarkeit ist wie Zucker: Sie haben Lust drauf, essen also ein Snickers – und sind sofort befriedigt. Aber die Wirkung hält nicht lang. Im Gegenteil: Schon bald ist sie verflogen. Langfristige Sichtbarkeit dagegen ist wie hochwertige Eiweißproteine: Kein Mensch hat Heißhunger auf Hülsenfrüchte, die viel Eiweiß enthalten. Aber sie machen langfristig satt, und sie sind auch viel gesünder. Deshalb empfiehlt es sich, einen längeren Investitionshorizont bei der Generierung smarter Sichtbarkeit zu haben, das ist einfach nachhaltiger und deshalb erfolgreicher.
Über den Autor
Oliver Pott ist Unternehmer, Redner und Autor. Er lehrt Unternehmensgründung und Start-up-Management an der Fachhochschule der Wirtschaft in Paderborn.