Erwachsenwerden
Obwohl die „Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“ zunächst bombastisch klingen mag, lässt sie sich letztlich doch recht einfach und übersichtlich zusammenfassen: Wer will, dass es besser wird, muss aufhören, es sich zu leicht zu machen, und unterscheiden lernen.
Im Wesentlichen geht es dabei um den Abschied von der Welt der Einheit und Masse – jedenfalls um den Ausstieg aus der Doktrin, dass man alle und alles über einen Kamm scheren kann. Die Wissensgesellschaft ist eine, in der, um eine im Grunde nicht so ernst gemeinte Phrase von Politikern zu zitieren, „der Mensch im Mittelpunkt steht“. Das muss man auf die Füße stellen: Wenn der Mensch im Mittelpunkt steht, dann geht es nicht mehr um die Frage, ob man allen gerecht werden kann, sondern darum, was der und dem Einzelnen gerecht wird.
Die Wissensgesellschaft baut auf die Person, auf ihre Fähigkeiten, Talente, auf ihre Neugier. Aber sie setzt auch auf ein sehr viel höheres Maß an Selbstverantwortung und Selbstbestimmung.
Stellen wir uns vor, dass mit der Aufklärung die Menschen ihre „selbstverschuldete Unmündigkeit“ – wie Immanuel Kant es nannte – allmählich verlassen und versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen. So eine Pubertät dauert lange, und ein Blick in die Gesellschaft, aber auch auf unser eigenes Verhalten genügt, um festzustellen, dass wir noch lange nicht überm Berg sind. Entwicklungstechnisch betrachtet sind wir bestenfalls 15 oder 16: launisch, selbstbezüglich, ohne selbstständig zu sein, selbstgerecht, ohne selbstverantwortlich zu werden. Auch das geht vorbei, und es dauert nicht mehr lange, da werden aus launischen Teenies Erwachsene, die sagen, was sie wollen, wo und mit wem.
Für ihre Zieheltern heißt das nichts Gutes: Die Angehörigen dieser speziellen ‚Pflegeberufe‘ – Manager, Politiker, Vorgesetzte und Moralapostel aller Art und Richtungen – gibt es ja nur, weil ihre Pubertierenden noch nicht so ganz klarkommen mit ihrem Leben.
Manche bleiben in der Pubertät sogar stecken. Sie fremdeln mit der Selbstbestimmung, sie finden es eigentlich besser, wenn ihnen ihr Chef oder ihre Chefin sagt, wo es langgeht.
Weg mit den Geistern der Vergangenheit!
Harvard Business ManagerOder wenn die Politik ihnen ein Taschengeld gibt – eine Förderung etwa, also einen Teil des Geldes, das sie dem Staat vorher in die Tasche schieben mussten. Nichts gegen Steuern – sie sind ein wichtiges und wirksames Instrument, sofern sie nicht nur dem Erhalt der eigenen Bürokratie dienen. Aber es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die man als Erwachsener besser selber regelt.
In Kommunen und Vereinen klappt das häufig ziemlich gut. Da gehen Leute, die in der Firma nur Befehlsempfänger sind, frisch ans Werk und schaukeln das Kind schon, lösen Probleme, machen kluge Vorschläge und organisieren das Ganze bestens. Aber kaum kommt der Montag, ist es damit vorbei. Der Punkt:
Wissensgesellschaft ist Zivilgesellschaft, in der das, was viele nur in ihrer sogenannten Freizeit sehr gut hinkriegen, die ganze Woche über läuft. Mehr Mitbestimmung heißt halt auch mehr Selbermachen, Entscheiden, Voranbringen.
Das bedeutet aber ebenso, dass sich klassische Kümmerer-Organisationen, die leider auch für viele Ver-Kümmerte verantwortlich sind, etwas Neues einfallen lassen müssen, um ihre Existenz weiterhin zu rechtfertigen.
Hört auf, eure Mitarbeiter zu verhätscheln!
Harvard Business ManagerWie wäre es denn damit, liebe Kümmerer und Pflegeeltern längst flügge gewordener Bürgerinnen und Bürger: Ihr sagt den Leuten nicht mehr, was gut und richtig für sie ist, sondern lasst sie selbst entscheiden. Natürlich braucht es im selben Sinne mehr direkte Demokratie in den Staaten, in denen das bis heute noch verpönt ist. Das Argument, dass damit „den Populisten Tür und Tor geöffnet“ wird, ist schlicht undemokratisch und auch ein Vorwand, um die eigenen Wurstbuden so lange wie möglich in die neue Welt hinüberzuretten.
Zivilgesellschaft, Wissensökonomie, das heißt: Der Mensch hat die Wahl, nicht die Organisation. Letzterer täte es gut, wenn sie sich von ihren nur mühsam zugekleisterten Hierarchien, die hinter guten Worten bis heute existieren, zum Veränderungsinstitut wandeln würde, in denen den Mitgliedern ermöglicht wird, so gut wie möglich das zu tun, was sie „wirklich, wirklich wollen“ und „wirklich, wirklich können“. Das ist ein Jahrhundertprojekt, wie jedes Erwachsenwerden. Und hier wie dort gilt immer schon: Die Welt ist bereit, wenn wir es sind.
Nächstes Mal: Abstandswarner – Wie nah wollen wir anderen kommen? Und wie viel Distanz brauchen wir?
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erschien der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede – Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Seinen Podcast Trafostation können Sie hier anhören. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.