Ein zweites Leben
Fast alle haben es sich anders gewünscht, und für die meisten kommt es zu früh: Dieses Nicht-Erhabene, dieses Durchschnittliche, die soziale Bedeutungslosigkeit – man hatte vergessen, dass es das gibt. Es war über die Jahre überformt worden von der Illusion der ewig aufsteigenden Linie.
Vor allem, wenn der Job über Jahrzehnte der einzige Identitätsanker war, wenn es keine Freundschaften außerhalb des Büros mehr gab, keine Hobbys mehr gepflegt wurden – dann betteln ehemalige Vorstände um den Erhalt ihres Senatorstatus. Oder lassen sich in irgendwelche Aufsichtsräte wählen, um, wie sie sagen, wertvolle Erfahrung weiterzureichen. Wie „wertvoll“ diese Erfahrung in disruptiv-volatilen Zeiten voller technischer und ökonomischer Umbrüche auch immer sein mag.
Es kommt aber in jedem Leben der Zeitpunkt, den Anspruch des je und immer Besonderen aufzugeben. Wer glaubt, er könne dem entgehen, hat einen dornenreichen Weg vor sich. Wann ist dieser Zeitpunkt? In der Regel zwischen dem 40. und 45. Lebensjahr. Selten später.
Reinhard K. Sprenger
Irgendeines hellsichtigen Tages kommt dann die Erkenntnis, dass sich das bisherige Berufsleben erschöpft und seinen Elan in einer Endlosschleife ausgehaucht hat. Dass da nichts mehr mit aufsteigender Linie ist und nichts mehr wirklich Neues und Herausforderndes wartet. Dass ein Weiter-so nicht mehr Leben ist, sondern Ab-Leben. Dann erhebt sich die Frage: Durchhalten? Einfach weitermachen?
Zusammenfassungen auf getAbstract.comEs gibt wahrscheinlich im Leben eines jeden Menschen Situationen, in denen er davon träumt, ein ungelebtes Leben zu führen. Ein anderer zu sein, ein anderer zu werden. Von Katzen sagt man, sie hätten sieben Leben – aber wäre nicht ein zweites auch schon ganz nett? Da ist die Verlagsleiterin, die mit 48 Jahren ihr Unternehmen verkauft und nun mit Feriengästen über die Ostsee schippert. Der Bankmanager, der ein internationales Topangebot ausschlägt und nun in seinem Heimatort einen kleinen Buchladen führt.
Will sagen: Wir sind nicht lebenslänglich eingeschweißt in Zwangsläufigkeit. Und wir müssen uns nicht notwendig an dem biologistischen Modell von Wachstum und Zerfall orientieren, so als wären wir Pflanzen: Geburt, Heranwachsen, Ausbildung, Beruf, strahlende Lebensmitte, langsamer Rückzug, Ausstieg aus dem tätigen Leben.
Wir können ein zweites Leben starten, das Qualität gewinnt und frische Energien freisetzt.
Reinhard K. Sprenger
Wie kommt man aus der Rille?
Zunächst müssen wir gleichsam in einen Heißluftballon steigen, um von oben auf die Muster zu schauen, die unser bisheriges Leben bestimmt haben: Welche Motive und Strukturen bilden den Treibsand unseres Lebens? Es geht darum, sich von der Kontinuität des bisherigen Weges abzuwenden. Sich unmerklich abzugrenzen und so stufenweise einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Nicht das alte Spiel neu beginnen. Sondern fragen: Muss ich weiterhin der Logik des Überbietens folgen? Muss ich mich der Welt aufdrängen? Muss ich das immer Gleiche begehren? Will ich mich nicht nur für eine enge Gemeinschaft nützlich machen, sondern für eine offene Gesellschaft? Vielleicht ist das eine Wiederaufnahme von etwas früh Abgeschnittenem oder Unerledigtem.
Aller Erfahrung nach muss sich dieses zweite Leben aus dem ersten evolutionär entfalten. Jähe Entschlüsse, bruchhaftes Handeln und Schicksalsschläge sind nicht nachhaltig genug, um dem Neuanfang Stabilität zu geben. Wir müssen auch nicht notwendig das Unternehmen verlassen oder den Partner wechseln. Das Neue kann sich aus dem Altern entwickeln, analog zu einer russischen Puppe, die aus dem ersten Leben ein zweites erwachsen lässt.
Spätestens ab dem 45. Lebensjahr ist jeder Manager gut beraten, sich ein zweites Leben neben dem Berufsleben aufzubauen. Oder wieder aufzubauen.
Folgt man dem französischen Philosophen François Jullien, ist es dabei unendlich wichtig, ein Spielfeld zu suchen, das anderen Regeln und anderen Mustern folgt als den bisher gelebten. Sonst ist die Chance groß, mit dem zweiten Leben doch nur das erste zu wiederholen.
Das ganze Leben ist eine Probezeit. Wer ein zweites Leben klug vorbereitet hat, der klammert sich nicht echsenhaft an das erste. Das ist eine gute Voraussetzung, zum richtigen Zeitpunkt loszulassen und seine Selbstachtung zu bewahren. Es befreit aber auch aus der rein funktionellen Seinsweise. Reicher kann man im Leben kaum werden.
Diesen Gedanken habe ich in meinem Song „Zwei Leben“ in musikalische Form gegossen.
Song
Zwei Leben
Wir, die wir alle zwei Leben in uns spüren
Wir, die wir alle zwei Leben balancieren
Das eine wichtig, steuerpflichtig
in diesem sterben wir
Das andere nichtig, träumend-kindlich, neu und gierig
in diesem leben wir
Wir, die wir alle zwei Leben mit uns führen
Wir, die wir alle zwei Leben arrangieren
Das eine faktisch, praktisch, nützlich
in diesem sterben wir
Das andere heimlich, sinnlich, ewig, groß und herzig
in diesem leben wir
Wir, die wir alle zwei Leben in uns spüren
Wir, die wir alle zwei Leben balancieren
Bunte Bücher, nur zum Schauen, nicht zum Lesen da
Märchenwelten, Heldentaten, große Pläne,
für diese leben wir
Wir, die wir alle zwei Leben mit uns führen
Wir, die wir alle zwei Leben arrangieren
Wir sind alle Traumnaturen
es könnt auch anders sein
Möglichkeiten, Fantasien, Paradiese
in diesen leben wir
Nächste Schritte
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