Aufstiegshelfer
Elite ist ein schwieriges Wort, erst recht im deutschsprachigen Raum. Es meinte und meint allzu oft „die da oben“. Die, die wurden, was sie sind, weil ihre Vorfahren es auch gewesen waren. Das gilt nicht nur für den alten Adel, sondern oft genug auch für die Gutbürgerlichen.
Pierre Bourdieu hat mit seinem großartigen Die feinen Unterschiede schon vor vielen Jahrzehnten herausgearbeitet, wie sehr sich Eliten durch bis ins kleinste Detail abgestimmte Verhaltensweisen von anderen Schichten unterscheiden. Es sind die kleinen Codes, die zählen. „Man gehört dazu“ – oder eben nicht. Und nicht nur Geld und Besitz werden so vererbt, sondern auch die Grundlage für Macht und weiteren Einfluss: Bildung und Zugänge zu Wissen.
Allein in Deutschland werden pro Jahr zwischen 400 und 500 Milliarden Euro vererbt. Geld, das meist immer noch in den ‚Wirtschaftswunderjahren‘ nach dem Krieg verdient wurde, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das regelmäßig die Erbmassen ausrechnet, weiß.
Wer vor den 1970er-Jahren sein Vermögen machte, der hat es bis heute erhalten und weitergegeben. Danach hingegen wurde es wegen der dramatisch steigenden Steuern- und Abgabenlast immer schwieriger, überhaupt Vermögen zu bilden. Nur darüber zu klagen, greift aber zu kurz – denn es geht um viel mehr.
Wer heute erbt, was früher erworben wurde, der sieht der Zukunft nämlich ziemlich gelassen entgegen. Die reichen Erben der Millenniumsgeneration brauchen keine Leistungselite, die die großen Aufgaben der Transformation anpackt. Es geht ja auch so. Der drohende und durchaus vorherberechenbare Rentenkollaps ist für sie kein Thema. Gegensteuern durch einen neuen sozialen Gesellschaftsvertrag? Auch nicht.
Da haben wir das Problem der neuen Eliten, und es ist nicht kleiner als das der alten, eher größer: Die großen sozialen Themen Sozial- und Gesundheitsversorgung, die materiellen Fragen, sind für sie weniger wichtig als das Postmaterielle, das sie sich ja leisten können.
Die neuen Eliten sind Fundis, die mit den Realos nichts zu tun haben wollen. Das schürt Konflikte.
Die alte Arbeiterbewegung hatte ein sehr realistisches Bild von echten Eliten: Es waren Leistungseliten, also jene, die durch Tätigkeit aufsteigen sollten. Ein Menschenbild, bei dem die, die was schaffen, davon auch was haben sollen, teilten Liberale mit Progressiven. Ihr Credo: Sozial ist, was Zugänge schafft.
Dieses Leistungsbewusstsein hat heute weniger mit harter Arbeit zu tun als mit dem Bemühen um Problemlösungen, um Wissensarbeit also. Nicht mehr im Schweiße unseres Angesichts sollten wir unser Brot essen, sondern im unaufhörlichen Bemühen um Innovation und bessere Lösungen! Wer diesen Leistungsgedanken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht ernst nimmt und nach Kräften fördert, der trägt dazu bei, dass der Euphemismus von der „Letzten Generation“ doch noch wahr wird, wenngleich anders, als es ihren selbstgerechten Vertretern bewusst ist.
Wahre Elite ist nicht immer oben, vielleicht gar nicht mehr, aber dafür vorn. Dort sieht man die Dinge am besten, am klarsten. Nur hier kann man wirklich vorausschauen. Und es schadet auf keinen Fall, wenn man nicht nur vorn ist, sondern auch ein wenig abhebt. Was ist gegen die Vogelperspektive zu sagen, außer dass sie einen besseren Überblick bietet? Wäre denn die Froschperspektive, die ohnehin so viele einnehmen, und zwar besonders kläglich, weil freiwillig, denn so viel besser?
Wichtig ist, dass wir nicht zu einer Elite dazugehören wollen, sondern uns selbst zu einer entwickeln.
So gut es geht. Nicht durch Selbstoptimierung – die meistens nur dazu da ist, am Ende das zu tun, was anderen wichtig ist –, sondern dank echter Selbstverwirklichung. Das ist die Fähigkeit, das, was man kann, so gut zu machen, dass es – uns eingeschlossen – alle merken und was davon haben. Zu diesem Gipfel führt keine Seilschaft und keine Aufstiegshilfe, kein Erbe und kein Vorrecht. Wir müssen selber hochgehen – das ist mühsam. Aber: Der Ausblick lohnt sich.
Nächstes Mal: Die wirklich wahren Bullshitjobs. Warum wir vor lauter Bürokratie und Compliance zu nichts mehr kommen – und wie wir das ändern können.
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erscheint der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede. Wie Vielfalt mehr Gerechtigkeit schafft. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.