„Das eigenständige Urteil dürfen wir nie abgeben, auch nicht an der Bürotür.“
Herr Andrick, Ihr Buch Erfolgsleere trägt den Subtitel „Philosophie für die Arbeitswelt“ – warum braucht es die Philosophie als Konzept in unserer Arbeitswelt?
Michael Andrick: Ich verstehe den Begriff „Arbeitswelt“ weiter als der allgemeine Sprachgebrauch. Arbeit in zweckbeschränkten Institutionen ist ein zentrales Ordnungsprinzip der Industriegesellschaft. Und die Industriegesellschaften dominieren mit den Anforderungen ihrer Wirtschaftsweise heute das Leben auf der ganzen Welt. In diesem Sinne leben wir in Deutschland, aber auch Waisenkinder in Bangladesch und Tech-Arbeiter in China in der „Arbeitswelt“, und in diesem Sinne habe ich meine Philosophie als Philosophie für diese Arbeitswelt geschrieben – als ein Angebot, ihre Prinzipien zu begreifen und sich grundlegende Orientierung zu verschaffen. Man kann mein Buch aber natürlich auch auf die Arbeitswelt im Sinne des eigenen Arbeitsumfelds im Unternehmen oder im Verband beziehen. Es hilft dabei, diesen Zusammenhang für sich durchzudenken, wie mir zahlreiche Leser in ihren Zuschriften versichern. Aber dabei sollte der erwähnte weitere, globale Kontext nicht vergessen werden. Sonst erschließt sich die im Buch entwickelte Philosophie nur teilweise.
Was bedeutet die Philosophie Ihnen persönlich?
Philosophie ist die Verteidigung unserer Freiheit gegen die Macht der Gewohnheit, die uns immer mehr oder weniger in der Gewalt hat. Im Denken, Sprechen und Tun. Unsere erlernten Begriffe und Sichtweisen sind unsere Scheuklappen. Philosophieren heißt, die Scheuklappen abnehmen und alle Möglichkeiten erforschen, sich die Dinge zusammenzureimen – bevor Sie sich dann bewusst und mit Gründen für eine Sichtweise entscheiden.
Dieser „Macht der Gewohnheit“ sind Sie als Führungskraft selbst aber auch ausgesetzt: Welchen Stellenwert hat Philosophie im Rahmen Ihrer Funktion in einem internationalen Konzern?
Diese Philosophieauffassung ist extrem praktisch. Sie verlangt, grundlegend selbst nachzudenken und sich nicht mit etablierten Begriffen und Denkweisen schon deshalb zu arrangieren, weil sie eben da sind. Das gilt für mich bei Projekten im Unternehmen genauso wie beim Schreiben von Kolumnen und im politischen Leben. Allerdings gibt es im Unternehmen eine sinnvolle Grenze: Die Geschäftsziele sind gesetzt und sollen erreicht werden. Das setzt dem radikalen Hinterfragen dann einen gewissen Rahmen und verlangt gelegentlich auch sehr konventionelles Vorgehen.
In Ihrem Buch „prangern“ Sie die Konformität in unserem beruflichen Alltag an. Wie zeigt sich diese und warum tut sie den Menschen in Ihren Augen nicht gut?
Es gibt keine spezielle Konformität des beruflichen Alltags. Konformität ist in allen Kontexten dasselbe: Menschen spekulieren darüber, was die anderen in einer gegebenen Situation plausiblerweise von ihnen erwarten. Sie bereiten sich selbst also Erwartungs-Erwartungen und versuchen dann, der Einbildung, die sie sich gemacht haben, zu genügen – sie wollen die Erwartungen der anderen erfüllen. Das ist in sich erst mal nicht moralwidrig, sondern notwendig, damit eine Gesellschaft überhaupt funktionieren kann. Allerdings merken Sie an meiner Formulierung von den Erwartungs-Erwartungen, dass dies ein Geschäft voll Ungewissheit ist, das einen sehr beschäftigen kann. Und hier liegt das eigentliche Problem:
Wer vorauseilend über anderer Leute Erwartungen spekuliert, um ‚hineinzupassen‘, der hat seine Aufmerksamkeit nicht für die entscheidenden Fragen zur Verfügung: Wofür sprechen eigentlich die besten Gründe? Was ist vielleicht sogar ganz unabhängig von anderer Leute Erwartungen meine moralische Pflicht?
Als moralische Personen müssen wir uns einen Einspruch gegen das bewahren, was von uns erwartet wird. Das eigenständige Urteil dürfen wir nie abgeben, auch nicht an der Bürotür.
Auch die Professionalität kommt bei Ihnen nicht so gut weg … Was ist „falsch“ daran, seine Arbeit professionell machen zu wollen?
Es empfiehlt sich sehr, die bewährten Faustregeln und Vorgehensweisen seines Berufs zu kennen und zumeist auch einzuhalten. Wollten wir täglich das Rad neu erfinden, würden wir viel Zeit verschwenden und deshalb auch keinen Raum für Kreativität haben.
Nur sollten wir uns darüber klar sein, dass Professionalität geordnete Gedankenlosigkeit ist, eine Form des einfachen Gehorchens.
Wir richten uns nach etablierten Regeln aus, die eine bestimmte Materie zu beherrschen versprechen, und können in dieser Zeit unseren kritischen Verstand suspendieren. Das gängige Loblied auf die Professionalität sollten wir lieber nicht singen. Professionalismus ist eine Form des Konformismus und birgt genau dieselbe Gefahr, das kritische Nachdenken zugunsten bloßer Regelanwendung stillzustellen. Politisch macht eine solche Haltung Menschen zu Mitläufern jedes nur denkbaren Unrechts, wirtschaftlich und künstlerisch macht es sie unproduktiv: Mehr vom Gleichen ist weder Innovation noch Kunst.
Viele Arbeitnehmer suchen heute verstärkt nach dem Sinn, den ihre Arbeit hat. Wie erleben Sie das? Und wie gehen Sie mit Ansprüchen wie Autonomie, Selbstverwirklichung und Work-Life-Balance um?
Wenn ich Menschen in Projekten oder Abteilungen führe, ist es mein Ziel, jedem nach seinem Potenzial Entwicklung zu ermöglichen: Die Kollegen sollen die Freude erleben, etwas Neues zu meistern und dadurch auf neue Weise für sich selbst und die Firma von Nutzen zu sein. Autonomie und Selbstverwirklichung im Beruf? Gern, wenn der Geschäftszweck es möglich macht, die Wünsche des Mitarbeiters mit den Arbeitsnotwendigkeiten zu „versöhnen“ – warum nicht? In Forschungsabteilungen, an der Universität, im Handwerk und der Pflege, je nach Charakter sicher auch im Marketing und anderswo ist das machbar. Und dann sollte es ein guter Vorgesetzter verstehen, dieses Glück zu fördern und auch dauern zu lassen – anstatt einem zufriedenen Mitarbeiter ständig das gerade aktuelle „lebenslange“ Irgendwas aufzudrängen. Nun aber, wenn Sie gestatten, noch eine kleine Abrechnung: „Arbeit-Leben-Gleichgewicht“ ist ein ebenso sinnvoller Begriff wie „Tisch-Möbel-Gleichgewicht“ oder „Brot-Backwaren-Balance“.
Arbeit ist Teil des Lebens, ‚Leben‘ der Oberbegriff aller Erfahrung, die wir machen – und Leben umfasst neben der Arbeit vieles andere mehr. Es ist deshalb Unfug, in einer Wortschöpfung zu suggerieren, die beiden Begriffe lägen auf derselben Abstraktionsebene und könnten in ein wie auch immer geartetes ‚Gleichgewicht‘ gebracht werden.
Das ist ein logischer Fehler. Arbeit in modernen Institutionen ist immer sinnbeschränkt, aber der Mensch steht in seinem Leben vor der ganzen Breite der Rätsel und Wunder seiner Existenz. Philosophen werden nicht arbeitslos, weil das Berufs-„Leben“ eben nicht das ganze Leben ist. Es ist ein ins Leben zu integrierender Teil, und deshalb ist der Begriff „Work-Life-Balance“ Quatsch.
Was kann jeder Einzelne tun, wenn er sein Leben ein bisschen besser machen will – über das berufliche Müssen hinaus?
Denken Sie an einen Wollfaden! Er ist fest, obwohl keine Faser ganz hindurchläuft. Ein gelingendes Leben besteht aus unterschiedlichen „Fasern“, also Projekten, die ineinandergreifen. Jedes hat seinen Reiz, seine Wichtigkeit und seine Zeit. Einzelne Projekte enden, Menschen verlassen uns, aber wir treten auch immer in neue Bezüge ein. Das Handwerk des Lebens besteht darin, diesen Faden zu spinnen und sich immer wieder zu fragen: Habe ich gute Gründe für das, was ich tue? Das ist Philosophie: Arbeit an sich selbst im Lichte der Erfahrung.
Über den Autor
Michael Andrick ist Philosoph mit 15 Jahren Wirtschaftserfahrung in den Bereichen Finanzen, Pharma und IT. Mit seiner Frau und drei Töchtern lebt er in Berlin und kommentiert dort als Kolumnist der Berliner Zeitung auch das Zeitgeschehen.