Ideale – gut oder schlecht?
Der Junggeselle beneidet den stolzen Familienvater um den Sohn, der am Samstag in der F-Jugend mit drei Toren seine Mannschaft zum Sieg schießt. Derselbe Familienvater blickt einige Stunden später sehnsuchtsvoll dem Junggesellen hinterher, der ins Nachtleben der Großstadt eintaucht. Beide begehren das, was sie gerade nicht haben. Dass der Sohn bisweilen eine Nervensäge ist, blendet der Junggeselle aus. Im Gegenzug übersieht der Familienvater, dass nicht an jedem Samstag eine Königin der Nacht wartet – und oft schon am Sonntagmorgen wieder die Einsamkeit in die Junggesellenwohnung kriecht.
Sehr verbreitet ist auch der Anspruch, alles auf einmal haben zu wollen. „Wäre doch schön, wenn noch …“ und „Es ist ja eigentlich schade, dass nicht …“: Hohes Tagespensum und ungestörter Mittagsschlaf, Urlaub in den Bergen und dennoch Meeresblick, Übernahme des elterlichen Geschäftes und Medizinstudium, Heirat mit Robert und Jawort an Uwe, eine faszinierende Frau als Ehefrau, Hausfrau, Mutter, Geliebte, Hure und Heilige. Viel Energie wird dann investiert in Fantasien über die abgewählten Möglichkeiten, über das nichtgelebte Leben. Der Stoßseufzer des Dramatikers Christian Grabbe mag beispielhaft dafür stehen:
Nur einmal auf der Welt, und dann als Klempner in Detmold!
Christian Grabbe
Natürlich wünschen wir immer mehr als stattfindet. Viele Rechnungen bleiben offen. Wir produzieren z. B. ständig idealisierte Erwartungen, die wir unserer gesamten Umwelt überstülpen – unserem Partner, unseren Freunden, den Kindern, Kollegen, Politikern, dem Urlaubsort, dem Wetter. Und wir erwarten dann mehr oder weniger heimlich, dass die anderen sich nach unseren Idealen richten. Tun sie aber nicht.
Sie sind nicht so perfekt, wie wir sie gerne hätten. Sie leben ihr eigenes Leben. Unsere Ansprüche sind für sie nur einige unter vielen. Dafür bestrafen wir sie dann mit Liebesabzug. Heimlich rächen wir uns dafür, dass sie nicht so sind, wie wir sie gerne haben möchten. Die Aufmerksamkeit kreist um die unerfüllte Erwartung. So machen Familienforscher in erster Linie überhöhte Erwartungen dafür verantwortlich, dass mehr Ehen zerbrechen denn je. Man trennt sich nicht mehr, weil man unglücklich ist, sondern weil man noch glücklicher sein will. Die Menschen wollen ein Maximum an Glück in einer Beziehung finden. Und wenn sich dieses Maximum nicht einstellt, schweigen sie eine Zeit lang mürrisch, ziehen dann Scheidung und Neubeginn vor, weil sie an ihrem Überanspruch festhalten. So, als seien die anderen nur auf der Welt, um uns glücklich zu machen.
Mit geradezu selbstzerstörerischer Wut basteln viele an ihrem Überanspruch, die ganze Welt müsse sich an ihren Kriterien ausrichten. Sie suchen ständig das Haar in der Suppe. Und viele setzen sich so lange kopfschüttelnd vor die Suppe, bis ein Haar hineingefallen ist.
Aber bei diesem Spiel verlieren alle. Denn Ideale haben eine zerstörerische Spitze. Sie machen uns blind für das Mögliche, weil wir über Unerreichbares fantasieren. Wie Wohlstandsbürger, die ihren vollen Kleiderschrank anseufzen: Etwas fehlt immer!
Aber, wie immer, ist auch dieser Gedanke ambivalent. Wenn der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan schreibt „Alles entsteht aus einem Mangel“, so müssen wir auch diesen Hinweis ehren. Er meinte damit: Entbehrung zwingt uns zur Reaktion. Das Fehlende kann Geld, Wärme, Nahrung sein. Aber es mangelt nicht nur im Außerhalb, sondern mitten in uns. So konturieren wir unser Selbst durch unerfüllte Wünsche – nach Liebe, Zärtlichkeit, Sinn. Wie eine Leerstelle, durch die Kraft entsteht, die selbst jedoch windstill ist. Das Fehlende ist der tiefere Grund unseres Handelns, der Motor, der uns vorantreibt. Das, was uns weitermachen lässt, was uns nicht stillstehen lässt. Stets gibt es ein Begehren – und wenn es nur ein Rest ist, der unerfüllt bleibt. Oder besser: Es ist das immer Offengelassene, das dem Einzelnen ermöglicht, es zu füllen. Das ist Freiheit.
Was wir also lernen müssen: die negative und die positive Kraft des Mangels zu unterscheiden, zu pendeln, zu integrieren. Ideale sind also beides: gut und schlecht.
Also, noch einmal, in prachtvoller Mehrdeutigkeit: Zum Glück fehlt immer was!
Song
Songtext
Zum Glück
Irgendwann hast du’s
Die Figur und das Gesicht
Dein Relief und auch dein Gewicht
Makel – nicht so schlimm im Gegenlicht
Irgendwann hast du’s – oder nicht
Irgendwann hast du’s
Diesen Menschen und sein Bett
Dein Lieblingsessen und dein Fett
Freunde – manchmal Kür und manchmal Pflicht
Irgendwann hast du’s – oder nicht
Leiden am Ideal
Verschlossen manche Tür
Wem genug zu wenig ist
Dem ist gar nichts genug
Es fehlt immer was
Zum Glück fehlt immer was
Irgendwann bist du’s
Dieser Mensch, nicht jener da
Unverkennbar unverwechselbar
Einzig – auch wenn es dir an Stil gebricht
Irgendwann bist du’s – oder nicht
Erwartungen – unerfüllt,
Wünschen mehr als ist
Sehnsucht – ungestillt
Immer fehlt ein kleines Stück
Es fehlt immer was
Zum Glück fehlt immer was
Irgendwann warst du’s
Dieser Mensch auf dieser Welt
Erst auf- und an-, dann abgestellt
Raus da – warst lang genug im Rampenlicht
Irgendwann warst du’s – oder nicht
Es fehlt immer was
Zum Glück fehlt immer was
Von Reinhard K. Sprenger zum Thema erschienen:
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