Lernen für eine Zukunft ohne Arbeit?
Während unserer Sommerferien in Deutschland schaute ich mir mit einer Bekannten eine Dokumentation über Solo-Selbstständige an, die aufgrund der Coronakrise vor dem beruflichen und finanziellen Aus stehen. Einer der Porträtierten brach vor laufender Kamera in Tränen aus. „Der soll sich mal nicht so haben“, kommentierte meine Bekannte, die selbst einen bombensicheren Job im öffentlichen Dienst hat. „Warum sucht er sich nicht anderweitig Arbeit? Wer soll das schließlich alles bezahlen? Der Staat kann doch nicht allen helfen!“ Es war der Beginn einer langen und fruchtlosen Diskussion, die mich einigermaßen ratlos zurückließ.
Jahrelang hatte es geheißen, dass sozialversicherungspflichtige, von der Wiege-bis-zur-Bahre-Jobs ein Relikt des Industriezeitalters seien. Hunderttausende wurden zur Gründung von „Ich-AG‘s“ ermutigt. Das machte sich gut in der Arbeitslosenstatistik, und viele Unternehmen nahmen die Gelegenheit zum kostengünstigen Outsourcing an Solo-Selbstständige allzu gerne wahr. Doch in der aktuellen Krise ließ der deutsche Staat die über 2 Millionen Kleinstunternehmer – knapp 5 Prozent aller Erwerbstätigen – erst einmal im Regen stehen. Zum Vergleich: Allein die Finanzierung des Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeldes wird die Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr rund 45 Milliarden Euro kosten.
Ganz unabhängig von den Detailfragen blieb bei mir eine Erkenntnis hängen:
Hochtrabende Ideen und immer neue Trendworte zur Zukunft der Arbeit sind eine Sache – die trübe Realität eine andere.
Tatsächlich hat die Festanstellung, am besten im Staatsdienst, nicht nur in Deutschland wieder Hochkonjunktur. In unserer Wahlheimat Italien steht sie in der Wahrnehmung direkt unter einem Sechser im Lotto, und das trotz eher bescheidener Bezahlung. Um einen solchen Posten zu ergattern, muss man einen „Concorso“ absolvieren, eine Art Prüfung für Jobs bei der Polizei und in der Justiz, im Schul- und Gesundheitsdienst oder als Busfahrer und Hausmeister. Oft kommen Hunderte bis Tausende Bewerber auf eine Handvoll Stellen. Und die Regelschule – das behauptet zumindest unsere 15-jährige Tochter im Wahl-Homeschooling – tue nichts anderes, als junge Menschen auf das Bulimie-Lernen für einen dieser Concorsi vorzubereiten. Selbstständiges, kritisches und kreatives Denken, die Trendwörter der New-Work-Bewegung? Fehlanzeige.
Die Verteilungsfrage rückt in den Mittelpunkt
Meine Theorie zu dieser paradoxen Situation: Je größer die gefühlte Unsicherheit in einer Gesellschaft, desto eher klammern sich die Menschen am Althergebrachten fest. Gerade in der Pandemie hat sich das für die „Statali“, die glücklichen Staatsbediensteten, durchaus ausgezahlt – und zwar nicht nur im seit 20 Jahren kriselnden Italien, sondern auch im Wirtschaftswunderland Deutschland. Niemand wird in der Krise gern an Solidarität mit den Systemverlierern erinnert.
Möglicherweise nicht mehr lange, warnt Daniel Susskind in Drei Mythen über die Zukunft der Arbeit: Die Verteilungsfrage könnte schon bald zum wichtigsten Problem für die Gesellschaft werden. Zwar ist nicht gesagt, dass Maschinen uns ganz aus der Arbeitswelt verdrängen werden (Mythos 1). Sie brauchen nicht einmal die Art, wie wir Menschen arbeiten, zu kopieren (Mythos 2). Und schließlich sind Menschen den Maschinen bei bestimmten Arbeiten auch nicht grundsätzlich überlegen (Mythos 3). Ziemlich sicher ist nur eins: Der Wirtschaftskuchen wird nicht weiter immer größer werden. Viel wichtiger wird es sein, dass jeder ein Stück davon abbekommt.
Der Ökonom Richard Baldwin prophezeit in Die Zukunft der Arbeit wird menschlicher sein sogar schwere soziale Verwerfungen, sollte es Regierungen nicht gelingen, die von „Globots“ – global agierenden Robotern – verursachte Revolution entsprechend abzufedern.
Denn dieses Mal geht es gut ausgebildeten, hochbezahlten Wissensarbeitern an den Kragen.
Anders als Susskind ist Baldwin jedoch überzeugt, dass Menschen über einzigartige, unersetzbare Fähigkeiten verfügen: Sie sind empathisch, kreativ und innovativ, können andere führen und inspirieren, ethisch denken und handeln. Diese „geschützten Dienstleistungsjobs“ sollte der Staat fördern und gleichzeitig Telemigration und Automation entschleunigen. Ein paar Millionen Jobverluste in 20 Jahren könnten die Industrieländer verkraften, so Baldwin, niemals aber hunderte Millionen in fünf Jahren.
Die Zukunft der Arbeit wird menschlicher sein
Institute for New Economic ThinkingKI-Prekarisierung oder Beginn eines goldenen Zeitalters?
Irgendwann werden sich industrialisierte Länder in drei Gruppen spalten, zitiert die Journalistin Jill Lepore in Are Robots Competing for Your Job? noch einmal Richard Baldwin: in hochbezahlte Eliten, eine dienende Klasse für die Eliten sowie Arbeitslose. Letztere würden als „nutzlose Klasse“ und Bezieher eines bedingungslosen Grundeinkommens enden. Klingt verlockend? Jahrelang sei der gefürchtete Übernahmemoment unserer Arbeit durch KI als bloßer Hype abgetan worden, schreibt Lepore. Das Ende der Arbeit war schon zu oft ausgerufen worden und nicht eingetreten, als dass man die Schwarzmaler noch ernst nehmen wollte. Doch das hat sich geändert: Politiker und Wissenschaftler sind in dieser Frage so gespalten wie nie.
Die Fronten lassen sich exemplarisch an zwei neuen Zusammenfassungen in unserer Bibliothek verdeutlichen: Roger Bootle, der Autor von The AI Economy gibt sich in guter angelsächsischer Tradition optimistisch: Künstliche Intelligenz werde ein goldenes Zeitalter des Wachstums und immer schöneren Lebens einläuten. Anders als von unserer Tochter befürchtet, werden neue Jobs die alten ersetzen, und alles wird gut – auch ohne bedingungsloses Grundeinkommen.
Wird es nicht, behauptet der Fernsehphilosoph Richard David Precht. Er beklagt in Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens die ausbeuterischen Geschäftsmodelle der „Hohepriester des Silicon Valley“ und fragt, warum eine künftige Superintelligenz – wenn sie denn wirklich so schlau sei – den Kapitalismus unserer Zeit überhaupt weiter unterstützen sollte. Immerhin wäre es nur folgerichtig, die Verantwortlichen für Ressourcenverschleiß, grassierende Ungerechtigkeit, Vetternwirtschaft und Ausbeutung einfach zu terminieren! Eine Sichtweise, der unsere Tochter viel abgewinnen kann.
Dabei lohnt es sich, hier kurz innezuhalten:
Tatsächlich haben vergangene Arbeitsrevolutionen bisher immer mehr neue Jobs geschaffen als alte vernichtet.
Deirdre McCloskey erzählt in Bourgeois Equality von der Entstehung einer breiten Mittelklasse ab dem 18. Jahrhundert, die beflügelt war von bürgerlichen Idealen: Sie bereicherten Gesellschaften, gaben Innovatoren die Freiheit, attraktive Produkte zu entwickeln und vielen Menschen die Aussicht darauf, dass ihre Kinder es einmal besser haben würden als sie selbst. Dieses Versprechen sehen heute immer mehr Menschen in Gefahr. Auch vor dem Hintergrund einer beispiellosen Monopolisierung in der Digitalwirtschaft scheint ihnen der Wettlauf um die wenigen Elitejobs der Kreativklasse ungefähr so aussichtsreich, wie einen Sechser im Lotto zu landen – oder eben einen Statali-Posten in Italien.
Doch egal ob die Autoren das kommende KI-Zeitalter in rosigen oder düsteren Tönen malen: Einig sind sie sich darin, dass wir das Anhäufen von Faktenwissen getrost den Maschinen überlassen können. Bildung sollte dagegen die menschliche Intelligenz fordern und fördern, denn die Globots haben es auch auf die (noch) bombensicheren Jobs im Staatsdienst abgesehen. Die Zukunft der Arbeit liegt – wenn überhaupt – anderswo.
Nächste Schritte
Zwischen naivem Technikoptimismus und verbohrtem Fortschrittspessimismus ist noch Platz für Pragmatismus: Yes, But What Has AI Done for You Lately? fragt unsere Journal-Redaktorin Caryn Hunt in diesem englischsprachigen Hintergrundartikel. Spoiler Alert: Jede Menge!
Ein Interview mit dem oben zitierten Ökonomen Richard Baldwin finden Sie ebenfalls auf unseren englischen Seiten.