„Lean Start-up und Design Thinking ergänzen sich gut“
Herr Hübler, beschreiben Sie bitte kurz die beiden Methoden oder Ansätze des Lean Start-up und des Design Thinking.
Michael Hübler: Design Thinking ist streng genommen eine innovative Kreativmethode, die zwei spannende agile Ansätze vereint: zum einen das Denken in Prototypen und zum anderen die Arbeit mit Kunden-Sichtweisen. Der Kunde wird damit von Beginn an als Persona an der Entwicklung neuer Ideen beteiligt und das Denken in Prototypen hilft dabei, sich schnell auf den Weg zu machen und aus möglichen Fehlern zu lernen, um den Prototypen stetig zu verfeinern. Der Lean Start-up-Gedanke vereint das Kreieren eines komplett neuen Angebots mit einem Fokus auf das Wesentliche. Große Firmen tragen in der Regel Altlasten mit sich herum, die sie daran hindern, etwas wirklich Neues zu kreieren. Stattdessen werden bestehende Prozesse in kleinen Teilen verfeinert. Etwas komplett Neues zu starten, wäre für die Beteiligten psychologisch schmerzhaft. Sie müssten das Bestehende infrage stellen.
Das heißt konkret?
Aus dem Silicon Valley gibt es den Begriff der Selbstkannibalisierung. Wenn Amazon in Seattle mehrere Vor-Ort-Läden als Verknüpfung eröffnet, mutet das zuerst einmal merkwürdig an, weil sie sich oberflächlich betrachtet eigene Kunden wegnehmen. Amazon dringt jedoch stattdessen in komplett fremde Märkte vor, bevor es ein anderer tut. Zudem testet Amazon, wie das Online-Kaufverhalten – das über Big Data zu einer großen Anzahl an Daten über die Kunden führt – und das haptische Einkaufserlebnis vernetzt werden können. Amazon macht das, bevor es jemand anderes tut. Die großen Player gehen alle nach dem Lean Start-up-Mechanismus vor. Viele Teams entwickeln losgelöst vom Mutterkonzern komplett neue Ideen – ähnlich einer Ansammlung vieler kleiner Start-ups.
In welchen Unternehmen und in welchen Abteilungen macht es Sinn, diese beiden Methoden einzusetzen?
Es gibt seit jeher in jedem Unternehmen bewahrende und entwickelnde Abteilungen. Die Marketing- oder Forschungs- sowie Entwicklungsabteilungen sind natürlich für Design Thinking und Lean Start-up-Methoden prädestiniert, sowie grundsätzlich jede Abteilung, in der Projektarbeit betrieben wird. Auf der anderen Seite gibt es jedoch Produktions-, Verwaltungs- oder Beschaffungsabteilungen, für die diese Ansätze nicht funktionieren.
Ist eine zeitgleiche Anwendung beider Methoden innerhalb einer Unternehmensstruktur sinnvoll?
Lean Start-up bezeichnet eher die Struktur, Design Thinking ist eher eine Methode. Sie ergänzen sich daher gut und unterstützen eine agile Unternehmensführung.
Was zeichnet ein agiles Unternehmen in Ihren Augen aus?
Ein agiles Unternehmen passt sich neu aufkommenden Kundenwünschen an, setzt aber auch innovative Akzente und nimmt damit die Zukunft der Kundenwünsche vorweg. Ein agiles Unternehmen fährt also zweigleisig. Es setzt sich zwar Ziele, hält jedoch nicht krampfhaft daran fest. Stattdessen müssen Ziele stetig den Realitätstest bestehen. Dies schafft Freiräume zum Ausprobieren neuer Wege zur Zielerreichung, die bei Erfolg weitergegangen und bei Misserfolgen angepasst werden. Agil zu denken bekommt damit etwas Evolutionäres.
Wie schafft man es in einem Unternehmen, in dem jede Abteilung mit unterschiedlichen Methoden arbeitet, eine agile Unternehmenskultur zu implementieren?
Die meisten Firmen versuchen, innerhalb des Unternehmens eine agile Subkultur zu etablieren, indem die traditionellen Projektteams zu Scrum-Teams werden. Sie hoffen, der agile Gedanke möge überspringen. Dies funktioniert jedoch nur bedingt. Stattdessen entstehen häufig Konflikte. Die traditionell denkenden Abteilungen behaupten, die agilen Teams würden nicht wirklich arbeiten, weil sie in der Tat mehr ausprobieren und Fehler in Kauf nehmen, um daraus zu lernen. Und die agilen Teams fühlen sich missverstanden. Tatsächlich eignet sich nicht für jeden Bereich eine Arbeit nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Daher braucht es ein Gesamtkonzept der Einbindung agil denkender Teams und Abteilungen, um Missverständnisse zu klären und ein gemeinsames Verständnis der Zusammenarbeit zu entwickeln.
Welche Methoden unterstützen neben den beiden genannten in Ihren Augen Agilität? Welche hemmen sie?
Eine erfolgreiche Methode zur Etablierung agilen Denkens in Unternehmen nennt sich Objectives & Key Results. Hier werden Ziele nicht hierarchisch delegiert. Stattdessen setzt sich jede Abteilung, jedes Team und jeder Mitarbeiter eigene Ziele aufgrund der transparenten Ziele von oben und überlegt sich, wie er diese Ziele erreichen kann. Diese Ziele werden in einem regelmäßigen Zyklus diskutiert und angepasst. Der Effekt ist der gleiche wie bei Scrum: Die Mitarbeiter können neue Wege zur Zielerreichung ausprobieren und diese stetig anpassen, ohne aufgrund von Fehlern einen allzu großen Schaden anzurichten. Da das Denken in Zielen in den meisten Unternehmen ohnehin gang und gäbe ist, sind die Objectives & Key Results lediglich eine agile und freiere Variante des bekannten Managements by Objectives.
Stichwort Kundeninteresse, oder die Frage: Was will / braucht der Kunde eigentlich? Wie kann Agilität hier die richtigen Antworten liefern?
Da Unternehmen nach wie vor planen müssen, ist es weder sinnvoll noch möglich, auf alle Kundenwünsche einzugehen. Agile Unternehmen befinden sich jedoch in einem stetigen Kontakt mit den Kunden und erkennen aufkommende Wünsche daher schneller als andere. Agilität kann hier jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern entfaltet erst zusammen mit Künstlicher Intelligenz und Big Data seine volle Wirkkraft. Während früher Kundenbefragungen durchgeführt wurden, die zu Hypothesen über die zukünftigen Wünsche der Kunden führten, werden nun ständig Kundendaten gesammelt, um daraus Muster zu erkennen und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Der große Vorteil: Die Kunden machen keine bewussten Angaben, sondern geben mit ihren Daten ihr unbewusstes Verhalten preis.
Verschiedene, auch virtuelle Teams organisieren – welche Tipps haben Sie hier und wie schafft man es als Führungskraft, dass nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht?
Agile, auch virtuelle Teams zu organisieren, erscheint von außen tatsächlich oftmals chaotisch. Die Struktur eines agilen Projektablaufs ist jedoch wesentlich weniger beliebig als es den Anschein hat:
- Das Team unterteilt einen Auftrag in gut bewältigbare Einzelbausteine.
- Jeder im Team wählt die Aufgaben aus, die er am liebsten macht. Der Rest wird verteilt.
- Die tägliche Arbeit wird auf einem Whiteboard visualisiert.
- Es findet täglich ein 15-minütiges Treffen statt, damit jeder weiß, woran die anderen gerade arbeiten.
- Nach etwa 4 Wochen findet eine größere Aufarbeitung des bis dahin Erreichten statt.
- Anschließend geht es in die nächste Runde.
Der Prozess ist folglich stringenter als es scheint. Sollte jemand nicht mitziehen, merkt es das Team nach wenigen Tagen. Die Führungskraft hat zwar in einem agilen Team weniger Durchsetzungskraft und kaum Sanktionsmöglichkeiten. Sie führt auf Augenhöhe. Doch der soziale Druck gleicht dies aus. Die Führungskraft ist daher eher als Coach, Mediator und Moderator tätig.
Gibt es überhaupt einheitliche Methoden, die abteilungsübergreifend funktionieren?
Das bereits erwähnte OKR ist potenziell im gesamten Unternehmen umsetzbar. Allerdings gibt es gerade in großen Unternehmen einige Probleme:
- Nicht jeder Mitarbeiter ist begeistert über die neuen agilen Freiräume. Wer bisher hierarchisch geführt wurde ist davon überfordert, sich auf einmal selbst Ziele zu setzen. Diese Mitarbeiter brauchen Zeit, um sich an die agile Denke zu gewöhnen.
- Viele ältere Führungskräfte sind auch nicht immer begeistert. Agil zu führen bedeutet, Macht abzugeben und mehr über die Strukturen (Stichwort Scrum-Zyklus) zu führen als über die eigene Person.
- Ein weiteres Problem besteht darin, dass in einer kleinen Gruppe der soziale Druck zur Unterstützung der Selbstverpflichtung groß genug ist, dass die Mitarbeiter ihre neuen Freiheiten auch nutzen. Transparenz und Austausch über Ziele funktioniert in kleinen Abteilungen, Teams und Projektgruppen, nicht jedoch in großen Abteilungen, noch dazu über virtuelle Distanzen hinweg. Firmen sollten sich hier Gedanken darüber machen, ob sie ihre Teams nicht ein wenig verkleinern wollen.
- Nicht jede Tätigkeit ist für ein agiles Arbeiten geeignet. Wer täglich mehr reagiert als agiert, besitzt kaum Freiräume zur vollen Entfaltung eines agilen Arbeitens. Eine Bäckerei kann sich aufgrund von Kundenwünschen neue strategische Konzepte überlegen. Die tägliche Arbeit des Bedienens bleibt bestehen. Das operative Geschäft lässt oftmals wenig Raum für Experimente.
Wie kann ich diesen Problemen entgegenwirken?
Es braucht wie bereits erwähnt eine Gesamtstrategie. In großen Firmen wird Agilität mithilfe von Zeithorizonten eingeführt. Der Horizont EINS sorgt für die Butter auf dem Brot. Hier geht es um die Erfüllung der aktuellen Aufgaben ohne agile Experimente. Der Horizont ZWEI blickt in die nahe Zukunft. Hier lassen sich im Rahmen eines klar definierten Handlungsspielraums der Mitarbeiter bestehende Geschäftsmodelle, Dienstleistungen oder Produkte aufgrund des Kundenfeedbacks verfeinern. Im Horizont DREI geht es um die ferne Zukunft. Hier dürfen Lean Start-up-Teams mit Design Thinking experimentieren, wohl wissend, dass nicht jede Idee zu einem Erfolg wird. Die meisten Erfindungen von Google beispielsweise waren Flops. Die Erfolge jedoch waren durchschlagend. Egal, welche Abteilung wie arbeitet, die Nachricht muss lauten: „Ihr seid alle wichtig für uns. Die einen für heute, die anderen für morgen und die dritten für übermorgen.“
Über den Autor
Michael Hübler unterstützt Führungskräfte und Personalentwickler als Mediator, Berater, Moderator und Coach. Sein Schwerpunktthema ist die transparente, agil-mutige Führung. Von ihm zuletzt erschienen: New Work.