Authentizität ist Fiktion
Heute bündelt die Authentizität – trotz ihrer Unaussprechlichkeit – die Sehnsucht nach dem Ende der Mehrdeutigkeit, der Künstlichkeit, der Verlogenheit. Hinter dem Begriff steckt der Wunsch nach Glaubwürdigkeit und Echtheit; die Leute möchten, dass Vordergrund und Hintergrund deckungsgleich sind; sie möchten wissen, woran sie sind. Das ist verständlich. Aber leider nicht möglich. Und nicht einmal wünschenswert.
Natürlich, auf Lüge lässt sich keine Beziehung gründen; bewusste Irreführung zum Schaden eines anderen ist moralisch eindeutig. Aber Lüge ist ein enges Wort für ein weites Feld. Ist Schweigen schon Lüge? Schweigen über das, was einen anderen Menschen verletzen könnte? Dann würde wahrscheinlich jedes Familienfest ein Triumpf der Unbarmherzigkeit. Was ist mit dem Flunkern, das niemandem Böses will? Man kann auch höflich sein, ohne direkt ein Schleimer zu sein. Und was ist mit der Not-Lüge? Wenn man jemanden unter Rechtfertigungsdruck setzt, wird er lügen. Das heißt, er wird die Dinge so schildern, dass er sich möglichst straffrei aus der Affäre zieht.
Eine Lüge kann man in bestimmten Situationen auch ’sachzwangreduzierte Ehrlichkeit‘ nennen.
Reinhard K. Sprenger
Und was ist mit strategischer Selbstdarstellung? Mit Heucheleien, Schönfärbereien, falschen Komplimenten und aufgesetzten Freundlichkeiten? Sie mögen nicht besonders sympathisch sein, aber man wird kaum ohne sie auskommen. Man kann sie als „prosoziale Lügen“ bezeichnen: die Diskretion, die man wahrt, die Höflichkeit, die man zelebriert, die Zudringlichkeit, die man meidet – all das sind zivilisatorische Errungenschaften. Und will nicht jeder sein „Gesicht wahren“?
Man sieht: Authentisch sein, die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit, das ist zu rigide, das taugt nicht für alle Lebenslagen. Wir nehmen Rücksicht – und erwarten sie auch: in der Politik die Diplomatie, im Alltag der Takt, der Sinn für das Indirekte. Ohne Lügen und Heuchelei wäre der soziale Umgang unerträglich. Und sind wir nicht am authentischsten in unverhüllten Ausbrüchen entfesselter, geballter Energie, etwa in der Wut? Authentizität ist so lange gut, bis man einem authentischen Menschen begegnet. Donald Trump etwa.
Eine Führungskraft wird eingekauft, um eine Rolle zu erfüllen, nicht um „er selbst“ zu sein. Wer im Geschäftsleben „Performance“ will, der muss damit leben, dass Performance eben auch bedeutet: „eine Vorstellung geben“. Um ein alltägliches Beispiel zu nennen: Es ist zweifellos wünschenswert, wenn ein Chef sich über den Erfolg Ihres Mitarbeiters aufrichtig freut und dem auch spontan Ausdruck gibt. Das gilt jedoch nicht im Negativen.
Der Macht-Aspekt, der alles Führen/Folgen kennzeichnet, lässt ‚authentische‘ Kritik aus Sicht des Mitarbeiters oft übergroß erscheinen. Wie mit einer Lupe verdoppelt er das Ablehnende, lässt es mitunter gar existenzbedrohend wachsen.
Reinhard K. Sprenger
Das kann für den Manager nur heißen, gleichsam eine „halbierte“ Authentizität zu leben: spontan im Positiven, zurückhaltend im Negativen.
Und weiter: Muss man stets sagen, was man voneinander hält? Dauernd irgendwelche „Feedbacks“ geben, die ohnehin mehr über den Feedback-Geber aussagen als über den Nehmer? Sind die jährlich stattfindenden Mitarbeiter-Beurteilungen nicht obszön genug? Und wenn man von einem Dritten etwas über einen Zweiten erfahren hat, sollte man den Betreffenden damit konfrontieren? Weil es der „Wahrheit“ dient? Können Menschen überdauern ohne das, was Ibsen „Lebenslügen“ nennt?
Psychologisch gesehen ist Authentizität simpel. Jonathan Swifts scharfsinnige Bemerkung, vollkommene Wahrhaftigkeit gehöre ins Reich der Tiere, trifft es am besten: Jedes Tier ist authentisch, direkt und echt. Für Menschen ist das Authentische jedoch nur eine besonders gute Fiktion. Wir spielen immer Rollen. „All the world‘s a stage“, wie schon Shakespeare wusste. Wir sind deshalb dann am authentischsten, wenn wir spielen – bewusst spielen, gleichsam „rollenauthentisch“ spielen.
Somit sind wir gut beraten, viele Dinge im sozialen Umgang vage und unbestimmt zu halten. Es gehört nämlich zu den elementarsten Leistungen, ja Pflichten einer zivilisierten Ordnung, Gefühle vorzutäuschen und zu verbergen. Mehr noch: Zum menschlichen Glück gehört die Möglichkeit, etwas anderes zu sein, als man „selbst“. Etwas Besseres vielleicht, Würdevolleres, Klügeres, Eleganteres, Souveränes.
Auch auf den Bühnen der Liebe bewährt sich die prosoziale Täuschung – das habe ich in dem Song „Das Beste, was dir passieren kann“ illustriert. Viel Vergnügen!
Das Beste, was dir passieren kann
Songtext
Ich hab mir immer gut gefallen
Bin für die Liebe programmiert
Ich bin der Zärtlichste von allen
Zu deinen Diensten strukturiert
Und nun
Schau mich einmal an
Ein Bild von einem Mann
Ich bin das Beste, was dir passieren kann
Als Mann bin ich ganz ohne Makel
Bin Vater, Heimwerker und Freund
Ich zieh dich auch mal übers Laken
Als einer der es ehrlich meint
Und nun
Schau mich einmal an
Ein Bild von einem Mann
Ich bin das Beste, was dir passieren kann
Du hast dich mir hingegeben
Du hast dein Leben nicht verspielt
Du kannst wahre Schätze heben und wirst ewig weiterleben
Als die Frau die nur das Beste liebt
Ich bin das Beste, was dir passieren kann
Und nun
Schau mich einmal an
Was siehst du? Einen Mann!
Ein Bild von einem Mann
Der baut dir auch ein Haus
Komm, zieh dich schon mal …
Ich bin das Beste, was dir passieren kann
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