Folge 18: Die richtige (Arbeits-)Beziehung
„Ich verstehe es einfach nicht, Nina.“ Johannes ist sichtlich geknickt. Nina schaut ihn an. Sie mag es nicht, wenn er so ist. „Wir arbeiten schon zusammen …“, setzt sie an und hält dann inne. Sie befürchtet, dass das, was sie sagen will, die Sache für Johannes nicht besser machen wird. „Meinst du nicht, dass wenn wir uns auch noch nach der Arbeit die ganze Zeit sehen, das alles etwas viel wird?“ Johannes wendet seinen Blick Richtung Fenster. Und Nina wird bewusst, dass sich ihre Befürchtung bestätigt hat.
Dabei haben sie doch von Anfang an offen darüber gesprochen, was es heißen würde, eine Beziehung mit einem Kollegen zu beginnen. Sie haben ganz klar für sich entschieden, Berufliches und Privates strikt zu trennen. Doch es zeigte sich immer öfter, wie schwierig das ist. Private Pläne oder Diskussionen finden trotz aller guten Vorsätze bereits jetzt schon manchmal bei der Arbeit statt. Und das würde sicher nicht einfacher werden, wenn sie noch mehr Zeit miteinander verbringen würden. Außerdem: Über was würden sie reden, wenn sie Tag und Nacht zusammen wären und nie Zeit für sich hätten?
Nina hat wirklich Bedenken. Auf der anderen Seite will sie Johannes auch nicht verletzen – oder gar verlieren. Doch sein Wunsch, mit ihr zusammenzuziehen, macht ihr Sorgen. Nina merkt, wie sehr sie dieses „als Paar zusammenarbeiten“ tatsächlich beschäftigt. Und dass es endlich Zeit ist, das zuzugeben und sich damit auseinanderzusetzen.
Gerade wenn sowohl Berufs- als auch Privatleben miteinander geteilt wird, ist es unerlässlich, offen über die jeweiligen Bedürfnisse zu sprechen – und über Grenzen. Denn zu einer gesunden und langfristigen Beziehung gehört es auch, Grenzen zu setzen. Das schreibt Nedra Glover Tawwab in Grenzen machen frei.
Grenzen zu kommunizieren, ist nicht einfach, aber wenn wir es nicht tun, beschwören wir langfristige Probleme herauf. Eine gesunde Beziehung ist nicht möglich, ohne mitzuteilen, was akzeptabel und inakzeptabel ist.
Nedra Glover Tawwab
Vielfach fürchten wir uns, zu sagen, was wir wollen oder brauchen, weil wir Angst haben, andere zu enttäuschen oder sie zu verlieren. Doch einfach nichts zu sagen, führt oft dazu, dass wir die Probleme in uns hineinfressen und immer wieder derselbe Streit entsteht. Wir sind dauernd unterschwellig frustriert und zeigen unseren Unmut etwa indirekt durch passiv-aggressives Verhalten, anstatt unsere Bedürfnisse direkt anzusprechen. Grenzen können bei verschiedensten Themen notwendig sein: Treue, Haushalt, Finanzen oder eben auch Zeit. Einfach zu erwarten, dass gewisse Dinge dem „gesunden Menschenverstand“ entsprechen, funktioniert nicht:
Der gesunde Menschenverstand beruht auf unseren eigenen Lebenserfahrungen, und die sind nicht bei allen dieselben. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir kommunizieren und nicht davon ausgehen, dass andere unsere Erwartungen in Beziehungen kennen.
Nedra Glover Tawwab
Wichtig ist, beim Formulieren der Grenzen klar zu sein – was bedingt, dass man sich erst darüber Gedanken macht, welches Bedürfnis man tatsächlich hat. Auch gilt es, konsequent bei seinen Grenzen zu bleiben und sie nicht über die Zeit aufweichen zu lassen.
Nina hatte ihre Bedenken bislang einfach zur Seite geschoben – auch, weil sie so verliebt in Johannes war. Doch nachdem sie nun darüber nachgedacht hat, wird ihr bewusst, dass sie gar nicht so sehr fürchtet, dass sie nichts mehr zu bereden hätten. Auch nicht, dass die Arbeit darunter leiden könnte. Vielmehr merkt Nina, dass sie – bei aller Liebe zu Johannes – auch Zeit für sich braucht. Und genau das sagt sie Johannes am nächsten Abend. Und sie schlägt vor: „Ich habe mir überlegt, dass ich um einen Tag Homeoffice bitte. Ich könnte in Ruhe arbeiten und dann früher aufhören, um noch einige Dinge für mich zu tun.“ Johannes lächelt. „Ich habe gemerkt, dass du dich in letzter Zeit distanziert hast, irgendwie gestresst wirkst. Und ich hatte Angst, dass sich deine Gefühle für mich verändert hätten. Vielleicht habe ich auch deshalb so darauf gedrängt, dass wir zusammenziehen.“ Er sieht zu Boden: „Auch kein besonders guter Grund, ich weiß. Aber ich bin froh, dass wir jetzt so offen darüber sprechen.“ Nach einer kurzen Pause fährt er fort: „Weißt du, was? Warten wir erst mal noch mit dem Zusammenziehen. Ich habe gesehen, dass sie in einer anderen Geschäftsstelle einen Job ausgeschrieben haben. Da könnte ich mich doch bewerben. Und wenn ich höre, wie es dir mit der Situation geht, wäre das vielleicht keine schlechte Idee.“ Nun lächelt auch Nina und gibt Johannes einen Kuss.
Ninas Welt
Nina ist 29 und Angestellte im Bereich Marktforschung. In ihrem Büroalltag erlebt sie immer wieder Situationen, in denen sie sich denkt: „Ich kann nicht die einzige mit diesem Problem sein.“ Wie gut, dass sie jetzt Zugang zur getAbstract-Bibliothek hat und ihre Lösungsvorschläge Gegenstand unserer neuen monatlichen Arbeitsweltkolumne sind, finden Sie nicht?
Und vielleicht erleben Sie in Ihrem eigenen Arbeitsalltag ja ähnliche Situationen wie Nina. Lassen Sie uns gerne daran teilhaben. Senden Sie einfach eine E-Mail an journal@getAbstract.com.