„Wir müssen Menschen dazu bringen, ihr Wissen zu teilen.“
Herr Pippow, Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, sogenanntes fluides Wissen – also Erfahrungswissen – Nicht-Experten zugänglich zu machen. Warum?
Andreas Pippow: Wir leben in einer Zeit, in der Informationen immer schneller und in größeren Mengen verfügbar sind. Wer googelt, der findet. Doch dadurch verdichtet sich unsere Arbeit. Wir müssen die Informationen sofort in Entscheidungen umwandeln und daraus neues Wissen generieren. Als Institut für angewandte Forschung hat das Fraunhofer den Auftrag, Innovationen hervorzubringen und neue Produkte zu erfinden. Und die sollen natürlich irgendwo in der Gesellschaft ankommen. Das Wissen, das bei uns in der Organisation entsteht, muss von Unternehmen und anderen Stakeholdern genutzt werden können.
Früher entwickelten L&D-Abteilungen Weiterbildungspakete und setzten sie den Mitarbeitenden vor die Nase. Das greift Ihrer Ansicht nach heute zu kurz. Weshalb?
Klassische L&D-Abteilungen waren vor allem dafür zuständig, Wissen in der Organisation zu verteilen. Bei Informationen, die über eine längere Zeit unverändert bleiben – ein Beispiel ist die Korruptionsprävention –, geht das noch immer relativ einfach. Man packt sie in ein Lernprodukt und rollt es aus. Doch bei den Themen, die aktuell immer wichtiger werden, funktioniert das nicht mehr so ohne Weiteres.
Zum Beispiel?
Nehmen wir das Thema Datenkompetenz. Dabei geht es um die Fragen: Welche Daten sollen für wen verfügbar sein? Wie lassen sie sich am besten miteinander verknüpfen? Und wie mache ich sie nutzbar? Die meisten Experten wissen das selbst gar nicht so genau – sie arbeiten noch daran. In dieser Situation kann ich nicht sagen: „So, jetzt macht mal ein Lernprodukt draus.“ Das funktioniert nicht. Oder es dauert so lange, dass die Informationen schon überholt sind, wenn Lernende zum ersten Mal damit in Kontakt kommen.
Bei uns werden die Fachkräfte selbst Teil des Lernprodukts. Der ganze Prozess wird deutlich agiler.
Was heißt das in der Praxis?
Experten werkeln nicht mehr allein in ihrer Stube vor sich hin, sondern nehmen an einem agilen Entwicklungsprozess teil. Ein Beispiel dafür ist unser Projekt FAIRplus. Es ging dabei wie im obigen Beispiel um Datenkompetenz. Unser Ansatz war, Fachleute und Lernende gemeinsam an dem Weiterbildungsprodukt arbeiten zu lassen.
Sie haben bei diesem Prozess als Moderator mitgewirkt. Was sind Ihre Erfahrungen? An welcher Stelle hakte es?
Wir haben 2019 mit einem kleinen Moderatorenteam mit dem FAIRplus-Projekt begonnen. Der partizipative Ansatz ist uns zunächst gar nicht geglückt. Die Fachexperten liefen alle in eine andere Richtung als wir. Sie sahen nicht ein, warum sie bei dem Projekt mitmachen sollten – und wir waren kurz davor aufzugeben.
Und was hat die Beteiligten umgestimmt?
Irgendwann hat es einfach Klick gemacht. Eine Person unter den Fachexperten hat etwas vorangetrieben, das sich FAIR Cookbook nannte. Das war sein Baby. Es sollten darin verschiedene Rezepte zum Thema Datenkompetenz gesammelt werden.
Wir haben vorgeschlagen, nicht nur ein Kochbuch zu schreiben, sondern einen ganzen Kochkurs zu entwickeln. Lernende, die an diesem Kochkurs teilnehmen, können wiederum eigene Rezepte entwickeln, die in das Kochbuch einfließen.
Von dem Moment an hat er angefangen, sich zu engagieren und eigene Ideen einzubringen – und das Programm lief fast von allein. Wir haben nur noch moderiert und es inhaltlich mitgestaltet.
Sie entwickeln Ihre Lernangebote in Anlehnung an das ADDIE-Modell, das aus den 1970er-Jahren stammt. Viele halten es für veraltet. Zu Recht?
Ja, in seiner ursprünglichen Form schon. ADDIE bedeutet, streng linear in den fünf Schritten Analyse, Design, Development, Implementierung und Evaluation vorzugehen. Wie gesagt, das funktioniert so nicht mehr. Wir haben es deshalb mit iterativen Methoden des Design Thinking verknüpft. Konkret bedeutet das: Wir entwickeln möglichst schnell ein unfertiges Produkt. Dann schauen wir uns diesen Prototyp an und überlegen, was wir im weiteren Verlauf verändern und verbessern können. Auf diese Weise sind auch das FAIR Kochbuch und der Kochkurs entstanden.
Das klingt anstrengend für alle Beteiligten – auf jeden Fall anstrengender, als im eigenen Kämmerlein ein Lernprodukt zu entwickeln oder dieses zu konsumieren.
Allerdings. Zunächst einmal muss man die Fachkräfte dazu motivieren mitzumachen. Das ist gar nicht so einfach. Denn sie müssen verstehen, was es ihnen überhaupt bringt. Manche möchten tatsächlich gerne lernen, wie sie ihr Wissen am besten vermitteln. Andere sagen: „Nein, danke – ich bin hier Expertin oder Experte für Wissen, nicht für Lernprodukte. Macht ihr das mal lieber selbst.“ Aber wenn wir erst einmal die richtigen Leute beisammenhaben, stellen wir die Lernziele vor, entwickeln ein Storyboard und erarbeiten gemeinsam mit den Fachkräften den Prototyp. Dieser wird sofort ausprobiert, evaluiert und gemeinsam mit den Lernenden weiter verbessert.
Die agilisierte ADDIE-Methode sieht also aus wie ein Kreis oder eine Acht – man kommt nie an ihrem Endpunkt an, sondern entwickelt das Produkt abhängig vom Feedback immer weiter.
Eignet sich dieses iterative ADDIE-Modell, so wie Sie es beschreiben, auch für das interne Wissensmanagement?
Das ist eine schwierige Frage. Wissen in die Gesellschaft zu tragen ist ja das Kerngeschäft des Fraunhofer Instituts – wir verdienen damit Geld. Beim internen Wissensmanagement stellt sich die Frage der Motivation. Zunächst einmal frisst ein solches Projekt ja Zeit und Ressourcen und verursacht Kosten. Die müssen dann in einen Mehrwert übersetzt werden. Ich glaube, man müsste zuallererst die Frage nach dem Mehrwert beantworten.
Ein Mehrwert könnte sein, wertvolles Wissen erfahrener Mitarbeitender im Unternehmen zu halten.
Ja, aber vor allem muss sich das für diese Mitarbeitenden rechnen. Das ist immer der Punkt. Die Fachkräfte, die das Wissen weitergeben sollen, müssen etwas davon haben. Wir sind nun einmal nicht alle altruistisch veranlagt. Aus meiner Sicht ist das der Knackpunkt – den Motivator zu finden, der Menschen dazu bringt, ihr Wissen mit anderen zu teilen.
Nicht nur die Wissensvermittlung in Unternehmen, das Bildungswesen insgesamt müsste sich radikal verändern, um junge Menschen besser auf eine sich ständig verändernde Umwelt vorzubereiten. Gibt es da für Ihr Modell Anwendungsbereiche?
Auf jeden Fall. Ich bin kein Experte für Schulbildung und will mich da auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber ich kann eine kleine Anekdote aus meiner Familie beisteuern: Meine Frau arbeitet am Zentrum für LehrerInnenbildung hier in Köln, wir beschäftigen uns also beide professionell mit Lernkonzepten. Auch deshalb besucht unsere Tochter eine Privatschule, die auf projektbasiertem Lernen beruht. Sie lernt gerade in der fünften Klasse Dinge, die ich mir alle später im Berufsleben aneignen musste. Zum Beispiel, wie man Projekte strukturiert, sich individuelle Lernziele setzt und diese alle paar Monate anpasst, je nachdem, was gut und was nicht so gut geklappt hat. Also genau das, was man braucht, um agiler zu werden. Wie erleben gerade, wie unsere Tochter dabei aufblüht und wie viel Spaß ihr das Lernen macht. Natürlich müssen Kinder und Jugendliche in der Schule ein gewisses Grundwissen erwerben. Aber Schule sollte auch Lern- und Arbeitsstrategien vermitteln, und das leistet sie im Moment zu wenig.
Wissenschaftler und Politiker hatten es zuletzt nicht immer leicht, Teile der Gesellschaft von ihren Erkenntnissen und Handlungen zu überzeugen – Stichwort Coronapandemie oder Klimawandel. Was könnten sie besser machen?
Ich denke, worauf es hier ankommt, ist Beteiligung. Wir müssen die Menschen stärker an Entscheidungen beteiligen. Die Stadt Berlin hat beispielsweise eine Art Bürgerkonvent zum Thema Mobilität der Zukunft gestartet. Dabei stellte sich wenig überraschend heraus, dass die Leute sich mehr zu Fuß, mit dem Fahrrad und dem ÖPNV fortbewegen möchten. Anscheinend waren die Beteiligten anfangs – wie in unserem FAIRplus-Projekt – nicht sehr motiviert. Die meisten waren mit anderen Dingen beschäftigt. Aber am Ende haben sie sich doch für den Prozess begeistert. Schließlich sind wir alle Teil der Gesellschaft und als solche Experten darin zu entscheiden, was wir im Leben brauchen.
Politiker sind Experten für Gesetzgebungsverfahren. Und wir Bürger sollten als Experten für die Gesetzesinhalte hinzukommen. So können wir den Prozess fluider gestalten.
Mit der letzten Frage schließt sich der Kreis: Welche drei Stolpersteine auf dem Weg zu einer besseren Wissensvermittlung würden Sie zuerst aus dem Weg räumen?
Der erste wäre die verfügbare Zeit. Ich muss Zeit und Kapazitäten haben, um mich auf diesen Prozess einzulassen. Die meisten möchten gerne ganz schnell ein Ergebnis sehen – aber bloß nicht allzu viel darüber nachdenken, weil sie den Kopf voll haben mit anderen Dingen. Der zweite ist das Festhalten am Status quo, also Menschen, die sagen: „Das habe ich doch immer schon so gemacht, warum soll ich es jetzt anders machen?“ Natürlich ist das aus ihrer Sicht verständlich. Schließlich ist es der Status quo, der sie zum Erfolg geführt hat, und der Erfolg im Rücken stärkt sie in ihrer Haltung. Diese bremst jedoch jeden Fortschritt aus. Das dritte Hindernis schließlich ist fehlendes Vertrauen. Bei agilen Prozessen weiß man am Anfang nie, was am Ende dabei herauskommt. Das Chaos bei der Ideenfindung kann einem wie Stillstand vorkommen. Es braucht also einen gewissen Vertrauensvorschuss, bis man merkt, dass eine partizipative Wissensvermittlung Spaß macht und am Ende auch produktiv ist.
Über den Autor
Der Neurowissenschaftler Andreas Pippow leitet das Weiterbildungszentrum Data Science am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Transfer von Wissen und Technologien aus dem Institut in die Gesellschaft.