Wider die Herrschaft des Büros
Vor einigen Wochen schrieb der Autor dieser Kolumne einen Essay für die österreichische Tageszeitung „Der Standard“. Dabei ging es um sein altes Leib- und Magenthema, den Umgang mit Kreativen in der frühen Wissensgesellschaft. Die These, die dabei aufgestellt wurde, ist so einfach wie eingängig: „Früher gab es auf einen Kreativen, also einen, der ein Problem anpackt und löst, neun Verwalter. Heute sind es 99.“ Steile These, würden einige sagen, doch die Resonanz war umwerfend und reißt bis heute nicht ab.
Das ist auch nicht verwunderlich. Es hat sich einiges aufgestaut an Ärger, und weil er konsequent ignoriert wird, braut sich da für die Bürokraten inzwischen was zusammen. Aber zuerst sollten wir bei diesem Thema konkret werden: Was ist ein Kreativer, was ein Bürokrat?
Kreative, Verwalter und Bürokraten
Kreative, das sind auch in der Wissensgesellschaft jene unternehmerischen Leute, die eine Sache anpacken und wenigstens versuchen, sie zu lösen, noch besser, sie ganz vom Tisch zu kriegen. Es sind Leute, die dranbleiben und merken, wenn althergebrachte Methoden nicht mehr tauglich sind. Sie wollen ein Problem nicht verwalten, sondern lösen. Das macht sie zu natürlichen Innovatoren, und es ist ganz gleich, ob ihr Fachgebiet dabei die Klempnerei oder die Raketenforschung ist. Die Kreativität gehört nicht der Kunst und auch nicht den akademischen Eliten.
Kreativität ist Neugier und Lebendigkeit.
Diesen Menschen stehen gute Verwalter zur Seite, also jene, die die Arbeit der Kreativen ermöglichen. Das sind, zum Beispiel, Leute, die die Züge pünktlich fahren lassen oder Netzwerke am Laufen halten, Krankenhäuser betreiben oder Kindergärten und Schulen. Es sind zwar überwiegend Routinearbeiten, die dabei erledigt werden, aber ihr Motiv ist immer, dass was passiert, was weitergeht.
Und dann der Rest. Die Bürokraten. Ganz gleich, ob sie auf Ämtern, in Konzernen, bei NGOs, in Start-ups oder in Kreativagenturen sitzen – das sind all jene, die ihr Problem nicht loslassen, weil sie davon leben. Emsig drehen sie am Rad, aber kommen nicht voran. Die Bürokratie, die Herrschaft des Büros, sie dient nur sich selbst.
In der Industriegesellschaft haben wir Routinearbeiter gezüchtet. Die taten, was man ihnen sagte, und fleißig drehten sie ihre Runden, emsig und beständig, aber nie ihr Hamsterrad verlassend. Das war für die, die sie dort reinsetzten, sehr praktisch. Man konnte gleichförmig ausbilden und Menschen leicht ersetzen. Nicht Charakter und Persönlichkeit zählten, sondern Standardisierung. Dabei wurde ein „neuer Mensch“ geschaffen, der in seine Routinen gesetzt wird – und dem immer egaler ist, was dabei geschieht. Der Sinn seiner Arbeit ist, dass sie weitergeht. Überall sind Beauftragte und Zuständige, die anderen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben, was richtig ist, wichtig, dringend, ja lebensnotwendig.
Der alte Bürokrat schob sein Formular von links nach rechts. Das genügte ihm. Der neue Bürokrat aber kümmert sich um die Schaffung und den Erhalt von Problemen, weil er davon lebt.
David Graeber hat im Jahr 2018 sein bekanntestes Buch geschrieben: „Bullshit Jobs“. Darin beschreibt er den Aufstieg dieser selbstreferenziellen Arbeitsbürokratie. „Fake Work“ nennt er das Phänomen von Arbeit, die weder Probleme löst noch Sinn ergibt. Dagegen helfe, so Graebers Rezept, nur „Care Work“, also Arbeit, die sinnvoll ist – auf Neudeutsch „Purpose“.
Die neuen Bullshit-Jobs
Vorsicht! Denn heute sind es vor allen Dingen diese Jobs, die noch mehr Bürokratie verursachen. Care Work ist ja nur sehr selten Arbeit, die anderen hilft, sondern weit öfter welche, die sich unter dem Dach der Compliance um andere kümmert – was oft genug das genaue Gegenteil von Helfen ist. Compliance, wie sie als bürokratische Erscheinung vorkommt, ist herrisch. Sie fordert Unterwerfung. Jedes Problem ist das wichtigste. Was wichtig ist und was nicht, das verschwimmt unter den absolutistischen Ansprüchen der Neobürokratie. Das Ergebnis:
Alle sind ständig mit Problemen beschäftigt, die nicht gelöst werden, weil schon das Zuhören so viel Energie verschlingt, dass nichts mehr übrig bleibt.
Aber es ernährt Mann und Frau. Am Ende verlieren alle, die wirklich ernsthaft ein Problem erkannt haben und es lösen wollen – etwa die Erderhitzung, die Energiewende, das Rentenproblem, die Diversität in der Welt. Care? Nö. Lösung? Erst recht nicht.
Ein Motor dahinter ist die massive Akademisierung der letzten Jahrzehnte. In der Schweiz lag die Akademikerquote 2020 bei 30,1 Prozent, in Deutschland bei 17 Prozent. Das ist im internationalen Durchschnitt noch nicht einmal viel, die USA und Japan liegen bei 40 Prozent. Relevant ist allerdings, was aus diese Quoten entsteht. Es geht dabei nicht um populistische Overeducation-Diskussionen. Eine Soziologin kann konkret Probleme lösen oder zu einer schlechten Verwalterin werden. Es ist das Motiv, das Selbstbild, das zählt. Akademiker hören während ihrer gesamten Ausbildung, was andere nie zu Ohren bekommen: dass sie wichtig sind. Und sie machen sich wichtig. Die anderen müssen ihre Themen wirklich ernst nehmen. Ihnen steht der Job einfach zu. Das ist eines der großen Treibmittel hinter der Neobürokratie.
Was hülfe?
Eine andere Arbeitskultur, aber auch weniger elitärer Dünkel, der sich aktuell hinter den Fassaden von Compliance und vermeintlicher Emanzipationsbewegung verbirgt. Wer weniger Bürokratie will, muss die Kultur verändern. Wo das unterbleibt, werden wir in Sinnhuberei in eigener Sache ersticken.
Nächstes Mal: Rostige Routinen – Transformation ist immer; wichtig ist deshalb, dass ihre Richtung stimmt.
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erscheint der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede. Wie Vielfalt mehr Gerechtigkeit schafft. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.