Fair führen heißt: Unterschiede machen
„Was ist eigentlich fair?“, werde ich in Seminaren oft gefragt. Und regelmäßig gibt es dann eine engagierte Debatte, weil einige Teilnehmende überzeugt sind, es gelte, alle gleich zu behandeln – und die anderen, dass persönliche Unterschiede berücksichtigt werden müssen.
Aber von vorn: Der Blick ins etymologische Wörterbuch verrät, „fair“ wurde im 19. Jahrhundert aus dem Englischen ins Deutsche übernommen. Der Begriff beschreibt ein „ehrliches“, „anständiges“ und – gerade im Sport – regelkonformes Verhalten. Im Prinzip gelten dieselben Regeln für alle, aber es gibt Ausnahmen: z. B. manchmal einen Nachteilsausgleich, um auch bei unterschiedlicher Spielstärke einen Wettbewerb auf Augenhöhe zu ermöglichen – denken Sie an das Handicap beim Golf.
Leistung muss sich lohnen
Die meisten Führungskräfte würden vermutlich zögern, solche Ausnahmen auch in der eigenen Abteilung umzusetzen. „Martins Ergebnisse lagen unter den Erwartungen. Er ist leider nicht besonders gut. Muss man berücksichtigen. Daher voller Bonus“ wird ihrer Realität kaum gerecht und stößt vermutlich auch beim Rest des Teams auf Empörung. „Eben!“, werden sich manche denken und ob der bloßen Absurdität des Gedankens die Augen rollen.
Kompass für schwierige Führungssituationen
Schäffer-PoeschelWas aber, wenn erschwerte Bedingungen sich auf die formale Eignung oder den aktuellen Leistungsstand auswirken, aber nichts über Fähigkeiten und Potenzial einer Person aussagen? Manche Firmen nutzen inzwischen Bewerbungen, die keine demografischen Informationen enthalten, um zu verhindern, dass (unbewusste) Vorurteile bei Einstellungen das Urteil trüben. Andere Unternehmen treiben die Anonymität deutlich weiter und haben dabei Erstaunliches erlebt: Ein Technologiekonzern hat zusätzlich auf Informationen zum Bildungsabschluss verzichtet. Stattdessen wurden während des Bewerbungsprozesses Aufgaben gelöst, die den üblichen Tätigkeiten im Job entsprachen. Das Ergebnis? 40 Prozent derjenigen, die zum Interview eingeladen wurden, hatten nicht die formale Qualifikation – den erwarteten Abschluss von der „richtigen“ Uni – und wären in einem „normalen“ Bewerbungsprozess schon im Vorfeld ausgesiebt worden.
It’s not a bug, it’s a feature
Ein weiterer Aspekt ist aber noch viel wichtiger: Teams agieren nicht auf dem Golfplatz. Die Zusammenarbeit ist kein Galopprennen, bei dem ggf. mit dem „Generalausgleich“ ein gleiches Leistungsniveau simuliert wird.
Unterschiede mögen in Teams dazu führen, dass einige an Aufgaben scheitern, bei denen andere brillieren, aber das ist kein Problem, sondern eine Stärke.
Sehr schön illustriert das eine Karikatur von Hans Traxler: Ein Lehrer sitzt an seinem Schreibtisch und schaut mit gewissenhaftem Blick auf seine Schutzbefohlenen, die vor ihm aufgereiht sind, darunter ein Vogel, ein Affe, ein Elefant und ein Goldfisch in seinem Glas: „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum.“ Ich denke, wir sind uns einig: So mögen theoretisch alle gleich behandelt werden. Fair ist es nicht. Und auch nicht zielführend.
Fair zu führen heißt, das Umfeld und das eigene Verhalten an die Bedürfnisse unterschiedlicher Menschen anzupassen. Nur so ist es möglich, gleiche Voraussetzungen zu schaffen und Barrieren abzubauen, die die Karriere blockieren können. Gleichzeitig ist es die Voraussetzung für den Erfolg des Teams. Denn das Gefühl, ausgeschlossen zu sein und unfair behandelt zu werden, untergräbt Vertrauen und es hindert Menschen daran, ihr Bestes zu geben. Weil der Kopf mit anderem beschäftigt ist und das Kreativität und Leistung einschränkt. Oder weil Menschen Ideen nicht teilen aus Furcht, jemand könnte ihnen die Butter vom Brot nehmen. Oder weil sie Angst haben, nicht ernst genommen oder sogar ausgelacht zu werden.
Fairness zeigt sich Tag für Tag
Führungskräfte und ihr Verhalten sind der maßgebliche Faktor für eine gute und produktive Zusammenarbeit und damit für den Erfolg von Unternehmen. Dazu muss es ihnen gelingen, mit unterschiedlichen Menschen erfolgreich zusammenzuarbeiten. Dafür reicht es nicht aus, bei wichtigen Personalentscheidungen – bei Vorstellungs- und Beurteilungsgesprächen und bei Beförderungen – Vielfaltskriterien anzulegen. Denn berufliche Chancen entwickeln sich Tag für Tag.
Den großen Entscheidungen gehen unzählig viele kleine voraus, die das Ergebnis vorbestimmen.
Es geht vielmehr darum, wer im Meeting gehört wird, wer strategische Projekte übernimmt und an wem das Protokoll hängen bleibt. Was für Feedback ich gebe und wie hilfreich es ist. Nur wenn ich alltägliche Interaktionen fair gestalte und unterschiedlichen Menschen gerecht werde, läuft mein Team zu voller Stärke auf.
Nächste Schritte:
Weitere praktische Tipps und Tricks bietet Fair führen. Das Buch wurde mit dem getAbstract International Book Award 2020 ausgezeichnet. Laut Jury liefert es „nicht weniger als das erforderliche Rüstzeug für zukunftsfähige Unternehmen – eloquent, sachkundig und inspirierend.“