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getAbstract: Frau Oberhuber, vom 9. – 19. November hätte die UN-Klimakonferenz in Glasgow stattfinden sollen, wurde aber coronabedingt um ein Jahr verschoben. Was sind Ihre Forderungen an die Verantwortlichen dieser und ähnlicher Veranstaltungen?
Sabine Oberhuber: Unser Ziel ist es, Materialien Rechte zu verschaffen – und zwar vor allem das Recht, nicht als Abfall zu enden. Vor zwei Jahren sind wir deshalb mit der ganzen Familie zum 70. Jahrestag der UN-Menschenrechte nach New York gereist und haben uns bei den Vereinten Nationen für Materialrechte eingesetzt. Es gibt gute Gründe, analog zu den Menschenrechten auch Materialien ein Recht auf Würde und damit einen Wert zuzuordnen. Denn das ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft oder Circular Economy, wie wir lieber sagen. Und diese ist wiederum unerlässlich, um den Klimawandel aufzuhalten. 45% unseres CO2 Ausstoßes wird durch unser Konsumverhalten verursacht. Es wird dringend Zeit, dass wir umdenken!
Sie nennen in Ihrem Buch das Beispiel einer einsamen Glühbirne, die schon seit 1901 brennt – und von einer Webcam beobachtet wird, die bereits dreimal ausgewechselt werden musste. Haben Glühbirnen ein Recht auf Würde?
Ich würde sagen ja – zumindest aber ein Recht darauf, solange zu brennen, wie sie können. Daran hatten ihre Hersteller aber kein Interesse, weshalb sie sich in den 1920er-Jahren darauf einigten, die Brenndauer von Glühlampen auf durchschnittlich 1000 Stunden zu beschränken. Es war die Geburtsstunde der geplanten Obsoleszenz. Seit den 1990er-Jahren wird diese immer weiter auf die Spitze getrieben.
Ich selbst habe Management studiert, und eine der wichtigsten Fragen im Studium lautete und lautet noch immer: Wie bringe ich die Menschen dazu, möglichst viel zu konsumieren?
Sabine Oberhuber
Es ist ein Ungeist, getrieben vom permanenten Druck, mehr Wachstum zu schaffen, Börsenkurse zu steigern und feindliche Übernahmen zu verhindern.
Zu Zeiten des Glühbirnenkartells hatten die Verbraucher keine Wahl. Heute sieht das schon anders aus. Unsere umweltbewegte, 15-jährige Tochter kauft nur gebrauchte oder nachhaltig hergestellte Klamotten, hat Plastik fast komplett aus unserem Haushalt verbannt und sich vom eigenen Geld ein hochpreisiges Fairphone mit austauschbaren Komponenten gekauft. Leider hat sie das Gefühl, völlig allein dazustehen. Sind Veränderungen im Konsumverhalten nicht ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Nein. Ich bin überzeugt, dass wir als Einzelne etwas ausrichten können. Das Konsumverhalten ist ein sehr wichtiger Hebel, und so langsam dämmert es auch vielen Anbietern, dass es sich bei Menschen wie Ihrer Tochter nicht um eine Minderheit handelt. Fridays for Future hat gezeigt: Als Greta Thunberg allein ihr Schild hochhielt, schaute niemand hin. Erst als Hunderte, Tausende und dann Hunderttausende sich ihr anschlossen, begann man, sie und ihre Bewegung ernstzunehmen. Selbst Gucci sagt jetzt: Wir sind zu weit gegangen. Aber genügt das? Nein. Wir brauchen alle: Konsumenten, Unternehmen, Gesellschaft und Politik. Vor allem brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen. Ohne diese ist es zu bequem, immer alles auf die Konsumenten abzuwälzen. Der Lobbyist einer Öl- und Gasfirma hat kürzlich jegliche Verantwortung für den Klimawandel mit dem Argument von sich gewesen, dass 45% aller Emissionen ohnehin von den Endverbrauchern verursacht würden.
Aber hat er damit nicht Recht?
Einerseits ja. Andererseits werden wir ständig mit Marketing bombardiert und die Politik suggeriert uns, dass wir keine guten Bürger seien, wenn wir nicht ordentlich konsumierten. Gräfin von Dönhof hat schon vor 20 Jahren davor gewarnt, dass wir statt einer Civil Society eine Consumer Society errichtet haben, die nicht nur für die Erde, sondern auch für den sozialen Zusammenhalt schädlich ist. Ich trauere bestimmt nicht der DDR hinterher, aber dort war eine Produktlebensdauer von 25 Jahren gesetzlich vorgeschrieben – dem chronischen Rohstoffmangel „sei Dank“. Es ist höchste Zeit, die politischen Rahmenbedingungen so zu setzen, dass geplante Verschwendung nicht mehr möglich ist. Mit Blick auf unseren Planeten haben wir noch etwa zehn Jahre, um die schlimmsten Szenarien abzuwenden.
Eine Allzweckwaffe der vergangenen Jahrzehnte war das Recycling. Allerdings endet das oft im Downcycling, etwa wenn hochwertige Kunststoffe zu Blumenkübeln verarbeitet werden. Was schlagen Sie stattdessen vor?
Kunststoffrecycling ist ein gutes Beispiel für fehlende Rahmenbedingungen und falsche Anreize: Plastikverpackungen und -produkte werden noch immer aus Hunderten verschiedenen Arten von Kunststoffen hergestellt. Es ist aber schlicht unmöglich, diese später zu höherwertigem Plastik weiterzuverarbeiten. Ein Chemiker erklärte kürzlich, dass man in seiner Zunft nur mit möglichst komplizierten Formeln zu Geld und Ansehen kommt – nicht aber mit grüner Chemie, die per Definition eine einfache Chemie ist. Inzwischen gibt es den internationalen Plastikpakt, der diesem Wahnsinn ein Ende setzen soll. Das macht Hoffnung. Wichtig ist für mich an dieser Stelle aber zu betonen:
In der Kreislaufwirtschaft steht Recycling idealerweise erst am Ende einer langen Verwertungskette – und nicht, so wie heute, an ihrem Anfang.
Sabine Oberhuber
Richtige Rahmenbedingungen hin oder her – was können Unternehmen unabhängig von politischen Vorgaben tun?
Auf jeden Fall können und sollen Unternehmen den Schritt in Richtung Kreislaufwirtschaft auch von sich aus gehen. Fairphone, das unter anderem das erste modulare Smartphone auf den Markt brachte, ist nicht gegründet worden, weil es in den Niederlanden die entsprechenden politischen Vorgaben gab – sondern aus dem unternehmerischen Bedürfnis heraus, ein solches Produkt auf den Markt zu bringen. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir bei Bosch, mit denen wir unser Kreislaufmodell in den Niederlanden erstmals auf Haushaltsgeräte angewandt haben. Kunden können Bosch-Apparate über ein Abo-Modell beziehen, mit dem Ergebnis, dass Kundenbindungen gefestigt wurden. Es ist ein völlig anderes Wirtschaftsparadigma. Aber ich bin überzeugt, dass der zunehmende Mangel an Rohstoffen uns dazu zwingen wird, es im großen Stil umzusetzen.
Sie beschreiben das Turntoo-Modell als Abkehr vom „Take, Make and Waste“-Modell hin zu „Make, Use and Harvest“. Produzenten bleiben in der Verantwortung und Konsumenten nutzen Produkte nur noch als Service. Haben Sie noch ein eigenes Auto oder eine eigene Wohnung?
Ich muss gestehen, dass wir ein eigenes Haus und Auto besitzen. Ich denke schon lange darüber nach, wo bei mir die Demarkationslinie liegt. Die Antwort ist nicht einfach, aber ich glaube, dass Eigentum in solchen Fällen Sinn ergibt, da ein Objekt seinen Wert behält oder noch an Wert gewinnt – wie etwa bei einem Haus oder einer Wohnung. Es geht auch beim Kreislaufmodell nicht grundsätzlich um ein anderes Eigentumsmodell oder gar das Abschaffen von Eigentum, sondern um die Frage, wer die Verantwortung über den gesamten Lebenszyklus hinweg übernimmt. Bei einem Auto, einem Telefon oder anderen Konsumartikeln, die viel zu kurz halten und noch dazu ständigen technischen Innovation unterworfen sind, ist es sinnvoller, wenn die Verantwortung beim Produzenten bleibt.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Wir haben zum Beispiel gemeinsam mit Philips und dem Flughafen Schiphol das Projekt „Licht als Service“ umgesetzt. Der Kunde wollte eine Beleuchtungslösung für seine Lounges, die über einen gesamten Innovationszyklus hinweg – in dem Fall 15 Jahre – Licht spenden sollte. Die zu dem Zeitpunkt verfügbaren Lampen hätte man aber nach 6 Jahren austauschen müssen. Deshalb haben wir die Aufgabe neu definiert: Philips sollte 15 Jahre lang nicht für eine Beleuchtungsanlage, sondern für das Licht selbst verantwortlich sein. Wie sich herausstellte, war ein kleiner Treiber in der Lampe der Grund für die kurze Lebensdauer, aber die Lampe war so entworfen, dass sie komplett ausgetauscht werden musste. Jetzt ist der Treiber unter einer kleinen Klappe verbaut, so dass man ihn leicht ersetzen kann.
Das Endergebnis: Philips hat 15 Jahre Licht verkauft, und zwar mit einem Materialeinsatz von einem Zyklus statt von dreien. Und auch der Energieverbrauch hat sich um die Hälfte reduziert.
Sabine Oberhuber
Wir nennen das: Macht und Verantwortung wieder in eine Hand zu geben.
In Ihrem Buch schreiben Sie über die Einrichtung eines „Madasters“, d.h. einer öffentlichen Datenbank für Materialien, die anhand von Materialpässen Auskunft über den Verbleib aller verarbeiteten und verbauten Rohstoffe gibt. Wie funktioniert das?
Unser Slogan dazu lautet: Abfall ist Material ohne Identität. Sobald es irgendwo auf dem Schrotthaufen landet, hat es seine Identität und damit seinen Wert verloren. Dem soll das Madaster in Anlehnung an öffentliche Grundstückskataster entgegenwirken: Wir müssen wissen, wo welches Material verbaut ist und es mit einem Materialpass ausstatten, damit es zu einem späteren Zeitpunkt nicht verloren geht. 2017 haben wir deshalb diese Online-Plattform gegründet, auf die man 3D-Pläne mit allen in einem Objekt verbauten Materialien hochladen kann.
Kreislauffähige Gebäude werden so auch für Investoren und Banken interessanter, weil sie einen wesentlich höheren Materialrestwert enthalten.
Sabine Oberhuber
In den Niederlanden sind bereits drei Millionen Quadratmeter registriert, seit Sommer 2020 ist das Madaster auch in der Schweiz operationell, in Deutschland und Norwegen sind wir ab Frühjahr 2021 startklar.
Der hässliche Elefant im Raum ist bei all dem natürlich das Wirtschaftswachstum. Manchen gehen Ihre Ideen in dieser Hinsicht wohl zu weit – und anderen längst nicht weit genug. Lässt sich dieses Dilemma überhaupt lösen?
Klar ist: Noch haben wir den nötigen Systemwandel nicht vollzogen. Ich bin aber überzeugt, dass sich Wachstum mithilfe der Kreislaufwirtschaft bis zu einem gewissen Grad vom Ressourcenverbrauch entkoppeln lässt. Die Frage ist nur: Welche Art von Wachstum wollen wir? Wir können eine grüne, nachhaltige Wirtschaft nicht realisieren, ohne das Finanzsystem anzupacken. Die Geldschöpfungshoheit liegt derzeit bei den Geschäftsbanken. Das führt zu einer Situation, in der wir als Gesellschaft gezwungen sind, durch Wachstum in der Zukunft die Schulden aus der Vergangenheit abzustottern. Das ist auf Dauer nicht haltbar. Ich weiß, es ist eine sehr harte Nuss. Aber wir werden nicht darum herumkommen, sie zu knacken. Denn unsere derzeitige Wohlstandsschöpfung geht mit enormen Kosten einher, die in keiner Bilanz auftauchen. Führende Ökonomen wie Joseph Stiglitz sagen zu Recht: Wir wachsen uns arm.
Und andere führende Ökonomen wie Mathias Binswanger antworten darauf: Ohne Wachstum keine Innovationen, und ohne Innovationen keine Lösungen für unsere Probleme. Was halten Sie davon?
Gar nichts. Die Niederlande haben gezeigt, dass das einfach nicht stimmt. Wir haben Turntoo 2010 gegründet, mitten in der letzten Wirtschaftskrise, die bei uns mindestens bis 2013/2014 gedauert hat. In dieser Zeit wurden unendlich viele kleine Startups und Initiativen rund um das Thema Kreislaufwirtschaft gegründet – die Niederlande wurden so zu einem globalen Vorreiter. Als unser Buch 2018 in Deutschland erschien, fragte ich einen befreundeten Personalvermittler, ob inzwischen vermehrt Experten für Circular Economy nachgefragt würden. Seine Antwort: „Experten für was?“ Er kannte den Begriff schlichtweg nicht. Seine Analyse: „Deutschland geht es einfach zu gut. Das Business brummt. Wir haben keine Zeit für Innovationen.“
Zum Glück ist das Thema in Deutschland mittlerweile doch angekommen, vielleicht auch deshalb, weil uns die Coronakrise vorgeführt hat, wie verletzlich unsere globalen Lieferketten sind.
Sabine Oberhuber
Unsere Tochter sagte letztens, sie habe kaum noch Hoffnung, dass die Menschheit rechtzeitig die Kurve kriegt. Mich machte das sprachlos. Was würden Sie ihr antworten?
Ehrlich gesagt hat mich die Frage auch als Mutter erschüttert. Unsere jüngste Tochter ist 13. Sie sagt mir oft: „Mama, ich habe Angst“ – und ich kann sie verstehen. Gleichzeitig stimmt mich meine Arbeit optimistisch, dass wir als Menschen in der Lage sein werden, uns zu organisieren. Auch wie sehr sich die Diskussion in den vergangenen zehn Jahren verändert hat, lässt mich hoffen. Als wir Turntoo gründeten und anfingen, von Circular Economy zu sprechen – von neuen Geschäftsmodellen, anderem Design und Materialpässen – da waren wir noch Exoten. Seither hat sich viel getan. Zahlreiche Regierungen haben Circular Economy in ihre Programme aufgenommen, und seit diesem Jahr ist das Thema sogar ein zentraler Bestandteil des Green Deals der Europäischen Union. Was mir dennoch Sorge bereitet ist das Tempo, in dem sich der Wandel vollzieht, und das Leid, das wir eventuell noch erleben müssen, bis wir aufwachen. Ich glaube zwar, dass wir es schaffen werden – aber um welchen Preis, das weiß ich leider nicht.
Über die Autorin
Sabine Oberhuber lebt seit 1998 in den Niederlanden. Sie ist Betriebswirtin mit einem Schwerpunkt auf Strategie und Circular Economy. Gemeinsam mit Thomas Rau, Co-Autor von Material Matters, Architekt und weltweit anerkannter Experte für eine nachhaltige, kreislauffähige Bauwirtschaft, hat sie 2010 das auf Circular Economy spezialisierte Beratungsunternehmen Turntoo in Amsterdam gegründet.
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