„Das hat es in dieser Form noch nie gegeben“
Herr Tooze, wie haben Sie die ersten Monate der Pandemie erlebt?
Adam Tooze: Ich wohne in Manhattan. März und April waren hier im wahrsten Sinne des Wortes eine Krisenzeit. Das war sehr bedrückend, eine sehr schweigsame, stille Zeit.
Hatten Sie unmittelbar betroffene Bekannte?
Von meinen Bekannten ist niemand erkrankt. Ich habe die Pandemie aber unmittelbar durch meine Familie erlebt. Meine Frau ist im Reisegeschäft tätig und ihr Geschäft ist tot. Auf unabsehbare Zeit. Und nicht nur in ihrem Büro. Alle ihre Kollegen erleben eine existenzielle Krise. Ich habe viel über meine Tochter mitbekommen, die von zu Hause aus studieren musste. All das zehrte an den Nerven.
Und Sie selbst: Welche Auswirkungen hatte Corona auf Ihren Alltag?
Mich selbst hat es am allerwenigsten getroffen. Ich hatte ein Forschungsfreijahr, so dass ich im Grunde genau das gemacht habe, was ich sonst auch gemacht hätte. Außer dass ich nicht gereist bin – letztes Jahr musste ich phasenweise zweimal die Woche nach Europa fliegen. Weil ich durch gesundheitliche Probleme am Herzen vorbelastet bin, habe ich aber zum allerersten Mal in meinem Leben eine persönliche Bedrohung empfunden.
Wie würden Sie die gegenwärtige Stimmung in New York und den USA beschreiben?
New York hat die schlimmste Zeit hoffentlich hinter sich. Wenige Städte sind härter getroffen worden – abgesehen von Bergamo in Norditalien, Guyanas in Ecuador und Lima in Peru. Als liberale Stadt steht New York der Politik der Trump-Administration fassungslos gegenüber – wie überhaupt große Teile des demokratischen Amerikas.
Es wird immer ernsthafter darüber diskutiert, was passiert, wenn Trump und die Republikaner das Wahlergebnis im Herbst nicht anerkennen, sollte es zu ihren Ungunsten ausfallen.
Adam Tooze
Allein dass man überhaupt darüber spricht, zeigt, wie düster die Stimmung ist.
Wenn man den aktuellen Analysen folgt, taucht immer wieder ein Begriff auf, um die aktuelle Situation zu beschreiben: Präzedenzlos. Wie würden Sie die Geschehnisse als Historiker einordnen?
Es ist die Reaktion auf die Pandemie, die präzedenzlos ist, nicht die Pandemie als solche. Wenn man beispielsweise an die großen Grippewellen der 1960er Jahre denkt, die viel mehr Leben gekostet haben oder an die HIV/Aids-Pandemie – allein 2018 starben 770 000 Menschen an Aids – so kann man in medizinischer oder demographischer Hinsicht nicht von Präzedenzlosigkeit sprechen.
Die Reaktion aber ist neu?
In der Tat. Der Versuch nahezu aller Staaten der Welt, mit umfassenden gesundheitspolitischen Maßnahmen auf diese Krise zu reagieren, mit dem Anspruch eine Lösung zu liefern, auch ohne momentan die medizinischen Mittel zur Verfügung zu haben, das Ausmaß der Quarantänevorschriften und der Reisebeschränkungen und natürlich der Lockdown selbst: All das gab es in dieser Form noch nie.
Sie haben intensiv zur Phase nach dem 1. Weltkrieg geforscht, also zur Zeit der Spanischen Grippe von 1918/19, die heute immer wieder erwähnt wird.
In den meisten Akten tauchte die Grippe damals nicht als Thema auf. Natürlich ist auf gesundheitspolitischer Ebene oder im Militär über sie diskutiert worden, doch nicht in der hohen Politik. Da ist niemand auf die Idee gekommen, so vorzugehen wie momentan, also gesamtwirtschaftlich und global. Das macht die derzeitige Erfahrung tatsächlich einzigartig.
Kann man durch den Blick auf diese Vergangenheit etwas für die derzeitige Krise lernen?
Ich bin da skeptisch.
In dieser Situation kann uns die Geschichte nicht weiterhelfen. Das ist ohne Beispiel, wir tappen im Dunkeln. Anders ist es im Bereich der aktuellen wirtschaftlichen Lage und hier in Bezug auf die Finanzkrise 2008. Da kann man ganz konkrete Lernergebnisse beobachten, vor allem bei den Zentralbanken.
Adam Tooze
Sie wussten prompt, wo es lang geht und haben schnell reagiert. Das Krisenpaket, das zuletzt für Europa geschnürt wurde, beweist, wie sehr Berlin und Paris bemüht sind, eine Wiederholung der Eurozonenkrise zu vermeiden.
Beschränken sich diese Lerneffekte auf Europa?
Ganz und gar nicht. In Asien haben sie viel gelernt aus ihren früheren Erfahrungen mit Epidemien. In Beijing hat man schnell gemerkt, dass in Wuhan so ziemlich alles schief lief. Ab diesem Moment war der Eingriff sehr hart und radikal. Das erklärt sich durch die Erfahrung, die hier aus der SARS-Epidemie 2003 mitgebracht wurde. In Südkorea ist das MERS-Coronavirus von 2015 der Bezugspunkt. Hier haben sie sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Die momentane Regierung war damals in der Opposition und versucht daher jetzt, die Fehler von damals nicht zu wiederholen. Sie hat im Management dieser Krise ein Paradestück hingelegt.
Lassen Sie uns auf die wirtschaftlichen Aspekte eingehen. Was erleben wir momentan?
Noch nie hat die Weltwirtschaft einen so plötzlichen und umfassenden Einbruch erlebt. 95 Prozent aller Volkswirtschaften, so rechnet die Weltbank, werden in diesem Jahr mindestens zwei Quartale Rezession erleben. Das hat es in dieser Form noch nie gegeben.
Der Einschnitt ist also umfassender als beispielsweise der Einbruch der 1930er Jahre.
Und er ist schärfer als jemals zuvor.
Die Abwärtsdynamik im März und April war ohnegleichen in der bisher dokumentierten Wirtschaftsgeschichte.
Adam Tooze
Spanien erlebte einen 18 prozentigen Einbruch im zweiten Quartal, Deutschland um 10, die USA um 9 Prozent. Im Verkauf von PKWs verzeichnen wir in Italien einen Rückgang von über 90 Prozent. Die Arbeitslosenzahlen für die Länder außerhalb Europas sind extrem.
Nur außerhalb Europas?
Europa ist da etwas außen vor, weil die Krise in Westeuropa mit umfassenden Kurzarbeitssystemen abgefangen worden ist. Das heißt, die Arbeitslosigkeit ist verdeckt. Das ist eine Politik, die insgesamt sehr zu befürworten ist. In den USA aber haben wir momentan eine Arbeitslosigkeit von 20 Prozent. Es gibt Bundesstaaten in Amerika, in denen sich seit März 40 Prozent der Beschäftigten für Arbeitslosengeld angemeldet haben. Das ist eine Arbeitsmarktkatastrophe ohne Beispiel in der amerikanischen Geschichte seit 1945.
Und in Ländern des globalen Südens?
Wenn wir uns die Schwellenländer anschauen, ist es noch extremer. Für Indien und China muss man tatsächlich damit rechnen, dass zusammengenommen 300 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren haben. Das sind nicht nur Nationen, sondern ganze Kontinente von Menschen, die auf einen Schlag brotlos geworden sind.
Der Lockdown in Indien kam mit einer Vorwarnung von nur drei Stunden. In einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen, in dem hunderte Millionen von der Hand in den Mund leben. Das kann man sich nicht ausmalen.
Adam Tooze
Und eben nicht nur dort. Das ist das Einmalige an der heutigen Situation. Auf dem Bauernmarkt im nigerianischen Lagos und auf dem Times Square in New York – überall gab es Lockdowns.
Sind die Folgen schon abzusehen?
Die Konsequenzen sind massiv. Wenn es nur gelingt, 90 Prozent wiederherzustellen, wäre es immer noch ein zehnprozentiger Einbruch der Weltwirtschaft. Das hat es seit den 1930er Jahren nicht gegeben. Und wir wissen nicht, wie man einen Neustart hinbekommt. Das haben wir in dieser Größenordnung noch nie gemacht.
Ganz zu schweigen von den finanziellen Auswirkungen.
Wir haben Schulden angehäuft wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg, noch extremer als 2008. Die OECD spricht seit Anfang des Jahres von Anleihen in Höhe von 11 Billionen Dollar über die entwickelten Länder verteilt. 11 Billionen. Das verschiebt die Parameter der Finanzpolitik ganz fundamental.
Ich bin die Sorte von Volkswirt, die bei Schulden nicht in Panik gerät, aber es ist unverkennbar, dass Schulden in dieser Höhe einen ganz massiven politischen Druck erzeugen.
Adam Tooze
Da benötigt es komplexe Verteilungsentscheidungen. Das ist die Hypothek. Nicht die Kosten an sich, sondern die politischen Entscheidungen in Bezug auf den Umgang mit den Kosten.
Vielen Menschen bereiten die Schulden Unbehagen.
Es wäre ein Denkfehler zu sagen, diese Rechnung müsste bezahlt werden. Das stimmt, wenn man im Restaurant sitzt, persönlich müssen wir unsere Rechnungen begleichen. Aber für eine Nation stimmt das nicht, weil ein Staat keinen endlichen Zeithorizont hat. Das ist der Grund, warum Nationen die größten Opfer von ihren Bürgern verlangen können. Die Nation lebt über uns hinaus, über Kinder, Enkel und Urenkel – die Schuld kann also endlos fortgerollt werden. Das, was beglichen werden muss, sind die laufenden Forderungen, die Zinsen. Solange der Staat diese bezahlen kann, entsteht kein Problem. Der deutsche Staat beispielsweise erhält derzeit keine laufende Rechnung, weil er sich zu Null- oder Negativzinsen Geld leihen kann. Die Last öffentlicher Schulden ist also aktuell nicht das Problem.
Warum werden die Schulden dann so oft zum Politikum gemacht?
Das hat meist mit einem Widerstand gegen die Krisenpolitik an sich zu tun, nicht mit der Rechnung, die angeblich entsteht. Es schwingt also vielmehr der Vorwurf mit, dass das Geld überhaupt ausgegeben wurde.
This Is the One Thing That Might Save the World From Financial Collapse
The New York TimesWelche Möglichkeiten hat die Politik, um dem Wirtschaftseinbruch entgegenzusteuern?
Vor allem brauchen wir eine generöse Fiskalpolitik. Wir geben derzeit aus, haben niedrige Steuereinnahmen und akzeptieren riesige Defizite. Wir kompensieren damit den Einbruch privater Ausgaben. Riesige Defizite gehen mit fallenden und zum Teil negativen Zinsen einher, weil die Privatwirtschaft darniederliegt und Investoren gerne öffentliche Anleihen kaufen. Und weil die Zentralbanken durch zusätzliche Anleihenkäufe den Markt stabilisieren. Der öffentliche Haushalt wird damit entlastet. Damit müssen wir weitermachen, denn wenn wir nicht damit weitermachen, wird es richtig schwierig.
Inwiefern?
Das Problem trifft die USA in den nächsten Wochen, weil die Krisenprogramme auslaufen. Und wenn sie nicht erneuert werden, werden wir die Krise noch schlimmer zu spüren bekommen, als wir es ohnehin schon tun. In Europa steht eine ähnliche Debatte bevor, weil auch hier die Kurzarbeitsprogramme finanziert werden müssen.
Hinzu kommen aber zusätzlich die Altlasten, Schulden, die in den letzten Jahren angehäuft wurden und die bedient werden müssen.
Dieses Problem wird seit März durch Ankäufe der Europäischen Zentralbank neutralisiert. Wir könnten aber in absehbarer Zukunft damit konfrontiert werden, dass beispielsweise Italien Schulden in Höhe von 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fährt. Oder sogar höher. Eine ausgleichende Austeritätspolitik im konventionellen Sinne, wie wir es in Europa seit 2010 erlebt haben, funktioniert da nicht mehr:
Von einem solchen Schuldenberg kommt man durch eine gewöhnliche Sparpolitik nicht runter.
Adam Tooze
Das betrifft Europa. Was steht global auf der Agenda?
Auf höherer Ebene geht es um die Handelspolitik mit China. Hier beschleunigt die Coronakrise viel. Da steht die gesamte weltweite Handelspolitik der letzten 20, 30 Jahre zur Debatte. Hier ist im Moment alles offen. Es gibt ein Kalter-Krieg-Szenario, in dem es zu einer Abkopplung des Westens käme. Eine solche Spaltung scheinen die USA ganz offensiv anzustreben. Für Europa aber ist das keine Option. Da kommen große Herausforderungen auf uns zu.
Ähnlich wie bei der Finanzkrise 2008/09, die Sie in Ihrem Buch Crashed analysiert haben. Was war für Sie das Überraschendste dabei?
Dass 2008 nicht nur eine amerikanische Krise war. Man macht es sich zu einfach, wenn man davon ausgeht, dass es 2008 um Lehman und amerikanische Banken ging und später dann um den Euro und Griechenland – als seien das getrennte Entwicklungen. 2008 war eine umfassende Krise des amerikanischen und europäischen Bankensystems. Nehmen Sie die amerikanische Stadt Cincinnati: Ein großer Teil der Hypotheken auf die dortigen Immobilien gehörten der Deutschen Bank. Die Federal Reserve, die US-Zentralbank, hat mit ihren Investitionen einen großen Zusammenbruch des Bankensystems verhindert. Der Großteil der vergebenen Mittel ging aber an nichtamerikanische Banken. Die globalen Verflechtungen sind frappierend.
In Europa hat sich die spätere Griechenlandkrise viel stärker ins Gedächtnis eingebrannt.
Das ist ein Missverständnis.
Die Situation in Griechenland ist eine Sideshow im Vergleich zum eigentlichen Drama.
Adam Tooze
Die Krise des europäischen Bankensystems beginnt viel früher, in Amerika 2007. Die Immobilienblase platzt simultan in Florida, Spanien und Irland. Spanien und Irland hätten aufgrund ihrer inneren Probleme ganz massiv gelitten – egal, was mit Griechenland später passiert. Griechenland wird in diesen Teufelskreis eigentlich nur mit reingerissen. Und wird dann, wie auch Italien, zum Opfer seiner verfahrenen Fiskalpolitik der 1980er und 1990er Jahre.
The Forgotten History of the Financial Crisis
Foreign AffairsEs war also eine weitaus kompliziertere Krise.
Die Arbeitslosigkeitsprobleme in Europa waren vor der Krise vor allem in Spanien konzentriert. Die betroffenen Banken, die später Havarie erlitten, kamen aus Irland und Spanien. Und langfristig entstand in Italien der wirkliche Schaden. Bis heute hat sich das Land von der anschließenden Sparpolitik nicht erholt. Wenn man auf die Banken allein schaut, dann sieht man Krisen in Belgien, in den Niederlanden, in Frankreich, in Deutschland und in Großbritannien. Aber eben nicht in Italien oder Griechenland. Das deutsche Bankenwesen beispielsweise ist seitdem ein einziger Scherbenhaufen. Die Deutsche Bank ist momentan die gefährlichste Bruchstelle im internationalen Finanzsystem. Sie ist eine globale Bank mit riesiger Bilanz, weltweit verflochten. Jahr für Jahr erwirtschaftet sie weniger, als sie kostet. Wirtschaftlich betrachtet ist sie eine Wertzerstörungsmaschine.
Hängen diese wirtschaftlichen Verwerfungen mit dem Aufstieg populistischer Parteien, der Brexitwahl oder der Trumpwahl zusammen?
Eine einfache direkte Linie gibt es hier nicht. Die Analogie, die es am besten verdeutlicht, ist das Erdbeben von Fukushima zur selben Zeit. Es gibt ein Erdbeben, es folgt ein Tsunami und wenn man noch richtig Pech hat, trifft dieser genau den Punkt, an dem ein Atomkraftwerk gebaut wurde. So ähnlich ist es mit dem AfD- oder Brexit-Phänomen: Es gibt einen Schock, die Finanzkrise, dann folgen tsunamiartige Wellen, die Austeritätspolitik, und wenn man Pech hat, dann kommt noch eine Einwanderungskrise hinzu – und auf einmal hat man die AfD. Sozio-ökonomische Gründe können den Aufschwung solcher Gruppen aber nur zum Teil erklären. Sie erhalten ihre Schlagkraft erst in der Kombination mit anderen Phänomenen: Nämlich Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit.
Wir haben uns nahezu ausschließlich mit Krisen und düsteren Prognosen befasst: Können wir dennoch mit einem hoffnungsfrohen Ausblick enden? Was macht Ihnen Mut?
Ich fand es beeindruckend, wie der allergrößte Teil der Menschheit sich dieses Frühjahr dazu entschieden hat, etwas gegen diese Krankheit zu unternehmen. Danach ist es natürlich ganz kompliziert geworden, es ist nicht überall gelungen und wir sind mit der Krankheit ja auch noch nicht fertig.
Wir werden für immer über den Trade-Off reden, ob sich all das gelohnt hat und ob es die richtige Entscheidung war. Aber die Tatsache, dass wir in der Lage waren, gemeinsam zu handeln, flächendeckend auf der ganzen Welt, quasi als gesamte Spezies, das hat für mich im neutralsten Sinne des Wortes etwas Großartiges.
Adam Tooze
Dass wir jetzt, danach, die Weltpolitik nicht hinbekommen, das ist nicht weiter erstaunlich. Aber dass wir, wenn es ernst wird, in der Lage sind zu sagen, es geht um die Gesundheit von allen: Das macht Eindruck, ja auch Mut gewissermaßen.
Über den Autor
Adam Tooze ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des European Institute an der Columbia Universität in New York. Er lehrte viele Jahre in Cambridge und Yale. Seine Arbeiten wurden vielfach preisgekrönt.
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