Die Bildungskrise als Chance
Kreativität! Als im Frühjahr 2020 aufgrund der Coronakrise ein Land nach dem anderen Schulschließungen verordnete, war es plötzlich das Buzzword der Stunde. Eltern – in den meisten Fällen Mütter – sahen sich aufgefordert, kreative Lösungen im Spannungsfeld der drei H‘s zu finden: Hausarbeit, Homeoffice und Homeschooling. Bei Kindern im Vorschulalter kam noch ein viertes hinzu – die Hauskita. Keine Frage, an kreativen Höchstleistungen fehlte es nicht: Kolleginnen und Kollegen bei getAbstract berichten hier von ihren Erfahrungen und geben Tipps zum erfolgreichen Hürdenlauf zwischen Hochstühlen, Heimarbeit und Hausaufgabenbetreuung.
Viele sind jedoch längst mit ihrer Kraft am Ende. Die Konrad Adenauer Stiftung hat in der Studie „Corona – Familien am Limit“ anhand von Familienblogs untersucht, wie Eltern und Kinder mit der Mehrfachbelastung umgehen. Das Ergebnis: Ein harmonisches Miteinander der drei oder vier H‘s bleibt ein Mythos. Die Bloggerinnen sehnen sich nach einem Ende des Ausnahmezustands, und viele wünschen sich einen echten Neuanfang – mit bedarfsgerechten und flexiblen Lösungen für verschiedene Kinder. Ihre Hoffnung: Bessere Bildung für alle.
Die Krise fördert wie unter einem Brennglas Probleme und Ungleichheiten zutage.
Gundula Stoll
In der Mittelschule unserer jüngeren Tochter gibt es beispielsweise Kinder, die noch an keiner einzigen Video-Unterrichtsstunde teilgenommen haben. Andere melden sich zwar anwesend, schalten dann aber Ton und Kamera aus und spielen auf einem anderen Gerät den ganzen Tag lang Fortnite oder Minecraft. „Ohne Lehrerinnen, die Disziplin einfordern, geht bei meinem Jungen gar nichts mehr“, klagte kürzlich eine überforderte Mutter.
Der Guardian-Journalist Tobias Jones, selbst Vater von drei schulpflichtigen Kindern, hat in seiner norditalienischen Wahlheimat Ähnliches beobachtet: Schüler, die nach wenigen Minuten Bildschirmunterricht abdriften; Lehrer, die wegen der unverfrorenen Online-Schummelei aufgebracht aus dem virtuellen Klassenzimmer stürmen; aber auch Jugendliche, die aufblühen und sich von einer völlig neuen, unerwarteten Seite zeigen. Jones zitiert einen Schulleiter mit den Worten: „15-jährige Teenager sind viel kreativer als wir. Jedes Mal, wenn Sie ihnen die Freiheit und Werkzeuge geben, etwas Neues zu erschaffen, werden sie Sie in Erstaunen versetzen.“
Bei einem berühmten Kollegen rennt er damit offene Türen ein: Sir Ken Robinson sang schon 2006 mit Do Schools Kill Creativity? eine Ode an die kindliche Kreativität.
Sein Credo: Jedes Kind ist kreativ und talentiert – bis die Regelschule ihm beides gründlich austreibt. In Bring on the Learning Revolution! geht er einen Schritt weiter und fordert, das aus dem Zeitalter der Industrialisierung stammende Modell standardisierter Curricula, linearer Bildungskarrieren und erzwungener Konformität auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Schließlich erklärt er in seinem Buch Out of Our Minds, wie die von ihm ausgerufene Lernrevolution auch in der Arbeitswelt Fuß fassen kann.
Und wie sieht es in der Praxis aus? „Ich habe gelernt, das zu sagen, was andere Leute von mir hören möchten“, antwortete unsere ältere Tochter auf meine Frage, was die Schule ihr beigebracht habe. Von Robinsons Vision ist das noch meilenweit entfernt. Doch vielleicht sind wir der Bildung für das 21. Jahrhundert seit Krisenbeginn ja ein paar zaghafte Schritte nähergekommen.
Nächste Schritte
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