Wie man sich selbst findet
Der Lockdown, das Home Office, die ungewisse Zukunft, der drohende Verlust von Gesundheit und Wohlstand führen dazu, dass wir uns plötzlich über unsere wahren Bedürfnisse und Ziele Gedanken machen. Was ist mir wirklich wichtig? Habe ich bisher die richtigen Prioritäten gesetzt? Möchte ich nach der Krise vielleicht sogar etwas Grundsätzliches in meinem Leben ändern? Zufälligerweise habe ich mir bereits vor einiger Zeit – ganz ohne Pandemie – genau diese Fragen gestellt. Vorletztes Jahr wurde ich fünfzig. Eine Lebensphase, in der laut unzähliger Studien die Lebenszufriedenheit sinkt. Besonders bei Männern, die Karriere gemacht haben. Plötzlich sitzt man in seiner 180 Quadratmeter großen Altbauwohnung und fragt sich: Das soll’s jetzt gewesen sein?
Midlife-Crisis
Die üblichen Strategien zur Bewältigung einer solchen Midlife-Crisis sind bekannt: Die einen lassen sich scheiden und fangen mit der achtundzwanzigjährigen Assistentin der Geschäftsleitung nochmal ganz von vorne an. „Hach, mit der Jennifer fühle ich mich zum ersten Mal richtig glücklich. Sie hat genau das, was mir die Irene nie geben konnte …“ Andere Männer bleiben bei ihrer Irene, beginnen aber wie verrückt für einen Marathon zu trainieren. Oder noch schlimmer: für den Ironman. Ich habe die letzten fünfzehn Jahre nahe der Laufstrecke des Frankfurter Ironman Germany gelebt. Und glauben Sie mir:
Es ist nicht schön anzusehen, wie sich Männer meines Alters bei Gluthitze am Main entlangschleppen, um sich durch ein vierzehnstündiges Nahtoderlebnis endlich wieder lebendig zu fühlen.
Die dritte Gruppe der Fünfzigjährigen träumt von Entschleunigung. Ein weit gefasster Begriff, der von einem Meditationswochenende im Schweigekloster bis zum Beantragen der Frührente reicht. Oder noch schlimmer: Dem Pilgern auf dem Jakobsweg.
Ich gebe es zu: Die Vorstellung, mit tausend anderen, mittelalten Mitteleuropäern in Multifunktionsjacken und Nordic-Walking-Stöcken durch Nordspanien zu latschen, um sich selbst zu finden, verursachte in mir Panikattacken. Oder wie Wolfgang Joop einmal meinte: „Selbstfindung ist Quatsch. Viele Menschen würden staunen, wie wenig da ist, wenn sie sich gefunden haben.“
Doch der Wunsch nach weniger Hektik und einer besseren Work-Life-Balance ist eben groß. Gestresste Investmentbanker legen sich „Wohlfühlparkett“ in ihre Penthouse-Wohnung, um zu Hause barfuß die Hektik auszuschließen. Toughe Manager tragen am Wochenende Freizeitschuhe mit Masai Barefoot Technology (MBT). Einen Treter, dessen Sohle einer untergeschnallten Salatschüssel ähnelt und dazu führt, dass man sich schwappend durch die Gegend bewegt. Ein jämmerliches Bild, bei dem sich jeder stolze Massai-Krieger augenblicklich den Speer ins Herz stößt.
Anstrengende Sinnlosigkeiten
Offenbar existiert bei vielen ein tiefes Bedürfnis, sich in einer effizienzgetriebenen Welt mit anstrengenden Sinnlosigkeiten zu beschäftigen. Nun, nach mehreren Wochen Lock- und Shutdown und dem Legen eines Zwölftausend-Teile-Puzzles des ultramarinblauen Bildes von Yves Klein, haben wir eine grobe Vorstellung davon, wie sich das anfühlt.
Hinweis
Als Vortragsredner spricht unser Kolumnist Vince Ebert auf Kongressen, Tagungen und Firmenfeiern in deutscher und englischer Sprache zu den Themen Erfolg, Innovation und Digitalisierung. Hier können Sie Vince Ebert als Keynote-Speaker für Ihren Event engagieren.
Übrigens habe ich aus meiner „Midlife-Crisis“ im Jahr 2018 tatsächlich etwas Sinnvolles gemacht. Nach zwanzig Jahren als Comedian und Vortragsredner kam ich zu der Erkenntnis: Bei allem Stress macht mir mein Job nach wie vor großen Spaß. Alles, was ich suchte, war ein wenig Abwechslung. Ich brauchte kein Sabbatical, sondern eine neue Herausforderung.
Und wo ist die Herausforderung als Comedian am größten? Wo muss man schneller, besser und smarter sein als alle anderen? Genau, in New York City – dem Mekka der Comedy-Szene. Raus aus der Komfortzone! Rein in den Trubel!
Nach reiflicher Überlegung lautete mein Fazit mit fünfzig also nicht „Herunterfahren“, sondern „Beschleunigen“. Broadway statt Jakobsweg!
Zu meiner großen Freude war meine Frau von der Idee begeistert. Zu dem Zeitpunkt las sie gerade das Buch The Life-Changing Magic of Tidying Up. Ein Bestseller, geschrieben von der Japanerin Marie Kondo.
The Life-Changing Magic of Tidying Up
Ten Speed PressIhre Grundphilosophie lautet: Nimm jeden Gegenstand, den Du besitzt, in die Hand, einen nach dem anderen, und frage dich: Macht mich diese Bleikristallvase, dieser Suppenlöffel oder diese Puderquaste wirklich glücklich? Und wenn die Antwort „Nein“ lautet: weg damit! Als meine Frau das las, dachte sie kurz nach und sagte dann: „Lass uns unser Haus niederbrennen“.
Und so starteten wir unser einjähriges Abenteuer tatsächlich nur mit zwei größeren Taschen. Keine Möbel, kein Übergepäck, kein unnötiger Firlefanz. Unser Haus in Frankfurt und fast unseren gesamten Hausstand haben wir vorher verkauft. Vermisst haben wir während unserer gesamten Zeit in New York City kein einzelnes Stück.
Doch dann kam wie aus dem Nichts die Corona-Krise und aus den zwölf Monaten wurden leider nur neun. Am 17. März flogen wir überstürzt und schweren Herzens wieder zurück in unsere minikleine Ein-Zimmer-Wohnung in Wien, die meine österreichische Frau seit ihrer Studentenzeit gemietet hat.
Aber trotz der großen Einschränkungen durch das Virus, trotz der ungewissen Zukunft und trotz des drohenden Wohlstandsverlusts fühlen wir uns auf eigenartige Weise frei. Vielleicht ja, weil wir beide schon vor der Krise die richtigen Prioritäten in unserem Leben gesetzt haben …
Vince Ebert ist Diplom-Physiker, Wissenschaftskabarettist und Bestsellerautor. Sein Anliegen ist die Vermittlung wissenschaftlicher Zusammenhänge mit den Gesetzen des Humors. Seit 2004 ist er erfolgreich auf deutschsprachigen Bühnen unterwegs, ab Herbst 2020 mit seinem neuen Programm „Make Science Great Again!“ (Tickets & mehr…). Seine Bücher verkauften sich über eine halbe Million Mal und standen monatelang auf den Bestellerlisten. In der ARD moderiert er regelmäßig die Sendung „Wissen vor acht – Werkstatt“.
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Foto: Frank Eidel